Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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31. Das heilige Grab

Der alte Ritter und sein Knecht reiten miteinander auf schweren Rossen durch den nachsommerlichen Tag.

Sie gehören zu den vielen, die von der glorreichen Jerusalemfahrt des Kaisers über das ganze Abendland hin in ihre Heimat zurückgekehrt sind und schon auf einem der Horizonthügel ihre Burg in den Himmel ragen sehen. Und so am Ende ihrer langen Reise tritt ihnen ihr Gewinn um so deutlicher vor die Seele: mit der Kraft der Erinnerung sieht und erlebt der Graubart noch einmal Jerusalem. Und was er keinem andern bekännte, das gesteht er doch sich selber ein . . .

Nun ist auch er dort gewesen, wohin vor bald zwanzig Jahren seine einzige Tochter entfloh, zusammen mit dem jungen Klosterschüler, den er ihr als Lehrer gegeben hatte. Wie doch zwanzig Jahre sich als ein Nichts erweisen, wenn sie – vorüber sind! Ihm ist, als sei es gestern gewesen, daß er, kaum war die Gräfin am Morgen von ihm gegangen, vergebens sich nach seinem Kinde umschaute. Nun hat ihn die braunlockige gläubige Jugend doch noch nach sich gezogen! Nur daß er wieder den Heimweg fand . . .

Die Pferde steigen durch die schon herbstlich angegilbten Buchenwälder empor . . . Er hat, als ein fremder Zuzüger, unter dem Schutze des deutschen Königs und römischen Kaisers 411 die Stätte des heiligen Grabes betreten und als aufmerksamer Zuschauer die heutige Wirklichkeit betrachtet. Er weiß, daß der unselige Kreuzzug der Kinder niemals dieses Ziel seiner Sehnsucht erreichte; daß also auch seine Tochter Jerusalem niemals schaute, wie er es schaute. Aber soll er sie darum bedauern oder nicht vielmehr beneiden? Besser, daß sie in ihrem frommen Traume starb, statt daß sie vor den so anders gearteten Tatsachen erwachen mußte!

Andächtiger ist er nicht vom Meer nach Jerusalem hinaufgeritten, als er jetzt es tut, den obersten Burghügel hinauf . . . Seit er im heiligen Lande gewesen ist, weiß er, daß für einen jeden das heilige Grab anderswo liegt. Dort steht für den Menschen das große Kreuz der Martern und Leiden, wo der gesamte dunkle Rausch des Lebens von ihm abfällt und er sich auf einmal bewußt wird, was für einen Schatz an Liebe und Güte er zu seinen Füßen verscharrt hat! Wenn er daran denkt, was in den vielen Jahren alles hier über die Zugbrücke herein- und hinaustrabte, um ihn lärmend und lockend die innere Einsamkeit seines Alters vergessen zu machen, so kann er nicht im Zweifel darüber sein, wo es in Anbetung niederzuknien gilt.

Er reitet mit seinem Knecht allein in den Burghof hinein, über dessen schattiger Tiefe die Mauern, Türme, Firsten in der Abendsonne leuchten . . . Und die Dienerschaft steht mit Willkommrufen am Torgang, hilft seinen alterssteifen Gliedern aus dem Sattel und heuchelt durch eine zur Gewohnheit gewordene Verdrossenheit hindurch Freude über seine Rückkehr. Er aber kann es nicht glauben, daß er sich aus Meer und Wüstensand wieder nach Hause gefunden hat. Und frühere Erfahrungen, nach kürzerer Abwesenheit, lassen ihn einem ersten Rundgang durch die Burg keineswegs mit Vertrauen entgegensehen.

412 Während der Knecht mit den Pferden im Stall verschwindet, schreitet er mit ungelenken Beinen nach der Kapelle in der Hofecke, tritt in ihr von der Farbenglut der Glasfenster durchwärmtes Dämmer ein, in welchem nur auf dem Altar das ewige Licht brennt, und kniet hinter der vordersten Bank nieder, über deren Lehne hinweg er starr auf die mit Zeichen überschriebene Steinplatte im Fußboden blickt. Dann sinkt ihm das Haupt auf die gefaltet aufgestützten Hände; und seine Seele sucht Raum und Zeit zu durchstoßen und die oft so vergeblich ersehnte Fühlung mit dem Ewigen zu gewinnen. Wo gäbe es ein Schlupfloch, um dieser hartgefügten Endlichkeit zu entfliehen, wenn es nicht das Heimweh ist nach Menschen, die wir geliebt haben und die uns vorausgegangen sind?

Hier ist sein heiliges Grab! – Hier ruht sein Weib, das ihm sein einziges Kind schenkte. Hier liegt die Güte begraben, die nicht die Welt, sondern ihn erlösen wollte; und deren Wert er erst jetzt erkennt, wo die Nichtigkeit alles übrigen Erlebten sich wie ein gähnender Abgrund vor ihm auftut. Unter ihrer Seelensonne war ihm die liebliche Menschenblüte aufgesproßt, die dann sein harscher Sturm nicht minder vor der Zeit aus diesem Dasein verwehte . . . Warum muß man so sein, wie man ist? Warum sieht man erst dann ein, was man besaß, wenn man es verloren hat?

Niemals gab die blasse Frau ihm ein böses Wort; und eben darum empfindet er es heute noch als seine Schuld ihr gegenüber, daß sein derbes Erfassen und Erraffen des Lebensgenusses neben ihrer stillen, feinen Art des Daseins so oft ungeduldig wurde. Aber wo sind jetzt die Freunde und Freundinnen, die nachher in buntem Wechsel Tisch und Lager mit ihm teilten und ihn so oft in dem Wahne wiegten, mit Siebenmeilenstiefeln auf den 413 Höhen des Lebens zu wandeln? Vorübergerauscht und hinweggeschwunden vor dieser einen Toten, welche seit zwanzig Jahren hier in der Kapelle ruht und doch immer noch so lebhaft vor seinem geistigen Auge steht, wie sie vorher fast ebensoviele Jahre vor seinem leiblichen wandelte. Und seitdem das ewig jung und rücksichtslos ihn umbrausende Leben an seinem langsam und stumpf gewordenen Alter nicht anders reißt und zerrt, als damals seine dunkle Triebhaftigkeit an ihrer zarten, nur in der schenkenden Fülle des Herzens unüberwindlichen Natur es tat, beginnt er auch zu ahnen, was für ein Kreuz sie trug, indem sie ihn so lange ertrug; und diese stumm und heldenhaft bis zum letzten Atemzug gehaltene Treue erscheint ihm auf einmal als das Größte, was das Leben einem bescheren kann – wie ein demütiges Erdreich, aus dem ihm vielleicht in einer andern Welt abermals der lichte Kelch ihrer Seele entgegensprießen wird . . .

Er zwingt sich wieder auf die Beine, steht allein in der halbdunklen Kapelle da und schaut sich um. Ist er nun wirklich zu Hause? Oder ist auch das, mag er sich's noch so lange eingebildet haben, nicht seine wahre Heimat? Wie wenig hätte es verschlagen, wenn er nicht mehr zurückgekehrt wäre! Schien es ihm doch auf allen Gesichtern geschrieben zu stehen, daß man mit seiner Rückkunft nicht mehr gerechnet habe; und er selber hatte ja vor der Abreise sein Haus bestellt und seine Erben eingesetzt. Denn mit bald siebzig Jahren steht des Menschen Leben ganz besonders in Gottes Hand . . .

Er hat die Türe der Kapelle geöffnet und schaut in ihrem Rahmen die goldene Himmelsferne über den Türmen . . . Soll er nun in den Saal hinaufgehen und sehen, was ihm die Mägde für ein Abendbrot zurechtgemacht haben? Und soll er wieder wie früher eine Kanne Wein so lange zum Becher neigen, bis 414 sie leer ist? . . . Da schwirren sommermüde Schwalben um die Giebel; hier in der lichten Weite der Welt verschwindend, dort wieder aus ihr auftauchend. Nur noch kurze Zeit: und sie werden diesen Himmel dauernd mit einem mildern vertauscht haben!

Und etwas in ihm hält den Atem an und lauscht auf . . . Sein Weib ist ihm vorangegangen; dann seine Tochter, der es graute vor dieser Welt und die irgendwo das Leben verlor. Wie oft kam sie hier aus der Kapelle und schritt über den Hof – und war dann, auch sie, auf einmal verschwunden! Nur er hat immer noch gezaudert, zum letztenmal den Weg hierher zu finden, unter die Steinplatten: und wird recht spät ihnen nachfolgen. Aber was tut's? Bleibt doch auch so von ihren armen Seelen kaum ein Hauch auf dieser Erde zurück. Wie Geister werden sie eines Tages vorübergeschwebt sein. Wie Geister . . .

Das aber wird dann auch für ihn erst zum wahren Kreuzzug werden! Nicht nach Jerusalem, wo die Mächtigen des Abend- und Morgenlandes miteinander um das heilige Grab feilschen; sondern zu Gott, den man sich erst dann vollkommen erobert hat, wenn diese Welt einem wie ein Mantel von den Schultern wegsinkt. Sein Kind allein hatte jene große Sehnsucht im Herzen gefühlt, die den letzten Heimweg findet, noch ehe der Mahnruf ergangen ist –

Und der alte Ritter und Kreuzfahrer setzt sich, alles andere vergessend, auf die steinerne Bank, auf welcher er früher so oft saß und über sein wildes, dunkles Leben nachdachte, schaut, an die Mauer zurückgelehnt, den Schwalben im Himmel zu, die mit ihren Flügeln von einer ewigen Wanderlust zu reden scheinen, und flüstert ein Wort vor sich hin wie eine Bitte um Hilfe:

»Alix!« 415

 


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