Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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27. Ellenor wird gesteinigt

Nun wandert sie allein durch das Land und führt im Geiste rückschauende Zwiesprache mit sich selbst.

Wie lange dauerte es doch, bis sie endlich die Kraft fand zu dem immer wieder hinausgeschobenen Entschluß, Marseille den Rücken zu kehren! Sie bereiste alle jene Gegenden der Provence, welche sie einst mit den andern Kindern zusammen wie ein gehetztes Wild durcheilt hatte, als vornehme, von einer braunen Dienerin begleitete Fremde, Land und Menschen gemächlich vom Sattel ihres Maultieres herab betrachtend, bis eines Tages der hinterlistige Führer mit den Tieren das Weite suchte und auch das eingewechselte und ihm größtenteils anvertraute Geld mitlaufen ließ: da wagte sie fortan nicht mehr, einen männlichen Schutz anzurufen (zumal der Anblick ihrer Dienerin immer abschreckend wirkte, ihr eigener dagegen sofort die Begehrlichkeit reizte), sondern hielt es für angezeigter, daß 379 sie beide bescheiden und ohne fremde Hilfe zu Fuß weiterzogen; und als sie vollends bei einem räuberischen Überfall nicht nur ihre treue Mohrin, sondern auch ihre letzten Kostbarkeiten verlor und selber nur durch das rechtzeitige Eingreifen eines Johanniterritters vor der schlimmsten Vergewaltigung bewahrt blieb, war ihr ohnehin schon von Reue und Sehnsucht geschwächter Mut vollends gebrochen. Im Hause eines Zolleinnehmers gebar sie vorzeitig ein braunes Knäblein und entsetzte damit ihre sonst so gütig besorgte Gastgeberin dermaßen, daß diese sich mit allen Zeichen eines schlimmen Verdachtes von ihr abwandte; sie mußte froh sein, ihr zum Entgelt ihre schönen weißen Gewänder für ein abgetragenes landesübliches Kleid zurücklassen und, sobald sie ihre von der Geburt erschöpften Kräfte hinlänglich wiedergewonnen hatte, das nur noch mit sichtlichem Widerwillen gewährte Obdach unbehelligt aufgeben zu dürfen – und nun schreitet sie als einsame Bettlerin, das goldene Haar von einem Kopftuch gegen die Frechheit, das dunkelfarbige Söhnlein in ihren Armen durch ein Brusttuch vor der Bosheit geschützt, wieder auf jenen selben Straßen Frankreichs, welche sie einst an Stephans Seite auf dem Ochsenwagen befuhr, mit einem täglich frischen Blumenkränzlein auf dem lockigen Haupt, die umjubelte Königin einer von Hoffnung beschwingten, vom Glauben gestärkten, stromgleich in die Ferne sich wälzenden Kinderschar.

Ist das erst vor zwei Jahren gewesen? Oder in einem früheren Dasein, in das sie hinabschaut wie in ein tiefes Meer? So alt und welk und müde scheint sie sich aus dem dunklen Wasserspiegel entgegenzublicken, wenn sie an dem nur noch dünnrieselnden Wasserstrahl eines Brunnens ihren Durst löscht, um durch die Tag für Tag unverändert fortdauernde 380 Sommerhitze wieder ein paar Stunden weiterwandern zu können. Wie endlos ist für die Heimkehrende der Weg, welcher schon der Ausziehenden unendlich lang erschienen war! Und nicht nur sie, die Matte, Abgezehrte, schmachtet unter dieser Trockenheit, sondern auch Wiesen und Saatfelder verbrennen unter ihr; und die Menschen stehen da, und jammern und beten, und können doch an dem stahlblauen Himmel nichts ändern: die verderbliche Gluthitze, die sie sonst nur im Lande der Ketzer erfahren hat, erstreckt sich diesen Sommer bis weit in den Norden hinauf.

Ellenor wandert und träumt; und sucht vergebens in dem Zwang ihres Lebens den Sinn zu entdecken und aus dem Warum ihres Schicksals das verständliche Darum herauszulesen. Wie konnte sie nur einst mit all den andern Kindern nach dem Grabe des Erlösers ausschwärmen? Was suchte sie dort? Wahrlich, was ihr wie eine flimmernde Erkenntnis, gegen die sie sich wehrte, über dem Floß zu schweben schien, als sie in der glühenden Morgensonne den Rhonestrom hinunterfuhren, das hat ihr seither die Erfahrung mehr als einmal bestätigt: Kann man Erlösung anderswo finden als im eigenen Herzen? Und das Kreuz, das sie damals in dunkler Opferlust auf der Brust trug, das brennt ihr nun unsichtbar in der Seele und tut ihr nach ihrem damaligen Willen. Ihre Füße sind wund, ihre Hände rauh, ihr Haar verstaubt.

Darf sie noch glauben, daß sie einmal auf einer Palmeninsel mitten in der Wüste lebte, ihre Glieder mit Rosenöl salbte, ihre Nägel zu Perlmutterglanz glättete und dem Lockengedränge um ihre blühenden Wangen vor dem Silberspiegel selber mit prangenden Lippen zulächelte. Oder war das alles nur ein Traum, in irgendeiner elenden Wegherberge geträumt? Aber 381 das Kind an ihrer Brust ist kein Traum; und darum auch das Erleben nicht, durch welches es ihr aus ihrem eigenen Schoße in die hegenden Arme hineinwuchs. Und eine tiefe Dankbarkeit klingt in ihr wie ein Glück durch die marternde Gegenwart hindurch und macht sie zu einer gesegnet Heimkehrenden.

Wie oft hat sie dem kleinen Wesen unter einem schattigen Baum mit dem Spiel ihrer Hände ein Lächeln entlockt, seine weichen Züge nach dem Abbild des starken, gütigen Mannes durchforscht und sie mit dem Erinnerungsbild in ihrer Seele verglichen! Nun will das Lächeln nicht mehr aufleuchten; und wenn sie auch selber alle Qualen der Wanderschaft wortlos erträgt und vergißt, an ihrem süßen Kindlein kann sie sie nicht übersehen. Ist dieses ausgetrocknete, von tiefen Rissen durchsetzte, von einem sengenden Gluthauch überwehte Land nicht schlimmer als die Wüste? Aber am schlimmsten ist, daß an ihren Brüsten der Quell des Lebens zu versiegen anfängt . . .

Da sieht sie über der waldigen Höhe, welcher sich die Straße entgegenrankt, weißgeballte Wolken in den Himmel emporsteigen und allmählich sich mit einem dunklen Kern erfüllen; und jetzt zittert aus der Ferne verhaltener, leiser Donner durch die schwüle Nachmittagsstille. Wird endlich der Regen niederrauschen und Baum und Strauch, Halm und Gras erquicken? Sie spürt den Durst nicht mehr nur in der Kehle, sondern erleidet ihn wie die pflanzliche Kreatur am ganzen Leibe, in allen Poren; und unwillkürlich hebt sie ihr einst so lichtes, nun tiefgebräuntes Antlitz in die Höhe und stellt sich die Wonne der Erlösung vor, wenn große Tropfen darauf niederprasselten. Und wo sie bei einem einsamen Weiler vorbeikommt, sieht sie die Bauern ebenfalls vor dem Haus stehen, nach dem wachsenden Wettergewölk ausschauen und hin und her raten, ob es endlich 382 den so bitter notwendigen Regen auf die Erde hinabwerfen und so noch zu allerletzt die drohende Hungersnot abwenden wolle . . .

»Heute wallfahrten sie zur Gnadenkapelle! – Gewiß wird Gott die Fürbitte unseres Heiligen erhören! – Es donnert ja schon!«

Aber Ellenor denkt nur noch daran, ob ihre Kräfte ausreichen werden, um sie und ihr Kind durch die erstickende Gluthitze bis nach der Stadt und in ihren schattigen Gassen zu barmherzigen Leuten zu tragen. Sie erinnert sich, den Namen der Ortschaft, den man ihr nannte, schon früher gehört zu haben, als sie noch auf der Burg ihrer Eltern lebte: diese kann also nicht mehr allzu ferne sein; und sie fühlt mit heiserem Jubel den Tag in greifbare Nähe gerückt, wo ihr Leiden ein Ende nimmt. Wie einen holden Traum sieht sie das Bild der Heimat vor sich; und wie im Traume eilt sie ihm entgegen und sich selber voraus, die im gleichmäßigen Schritte der erfahrenen Wandernden die Straße abmißt und auf ihr unter Anspannung ihrer letzten Kräfte der Einsattelung zustrebt, hinter welcher die Stadt liegen muß.

Inzwischen ist das geballte Gewölk zu einem immer höheren Himmelsgebirge angewachsen und in seiner Fülle dunkler und dunkler geworden; und jetzt rollt in ihm, nach einem hellen Blitze, das erste ehrliche Donnerkrachen wie durch Talschluchten dahin. Gleichzeitig gewahrt Ellenor durch den Glutnebel vor ihren Augen, daß die Straße unweit eines Steinbruches ihre höchste Höhe erreicht hat und daß auf ihr des müden Landfahrers eine steinerne Bank wartet, über deren Rückenlehne ein großes Holzkreuz mit dem Heiland sich erhebt: während der gemarterte Gott das Haupt in stiller Dulderdemut zur Seite neigt, streckt er die festgenagelten Arme nach beiden Richtungen 383 des Weges aus, als beherrschte dieses Sinnbild alles Leidens nicht nur das Woher, sondern auch das Wohin! Und wie zu den Füßen eines Vaters, dessen Schmerz denjenigen des Kindes vieltausendmal übertrifft, läßt sie sich mit ihrem Söhnlein auf die Bank hinsinken und lehnt ihr erschöpftes Haupt an den Kreuzesstamm zurück, dessen wehe Bitterkeit sie zum erstenmal in ihrer ganzen Tiefe nachfühlt.

Eine Ohnmacht umhüllt sie, durch welche die Wahrnehmungen in der Außenwelt, nicht anders als Landschaftsbilder durch ein Nebelgewoge, ab und zu den Weg in ihr Bewußtsein finden. Bald sieht sie das weite Land, dessen Ferne sie nicht mehr lockt: aus dessen Ferne sie herkommt. Dann unmittelbar vor und unter sich das regungslos lechzend offenstehende Mündchen ihres in Ermattung hinüberdämmernden Kindes: ohne daß sie auch nur im geringsten mehr fähig wäre, ihm die vertrocknete Brust zu reichen. Und jetzt tönt flehend frommer Kirchengesang an ihr Ohr: um gleich darauf – nicht in Wirklichkeit, wohl aber für sie – wieder zu verstummen . . . bis sie auf einmal wie von klatschenden Peitschenhieben von fallenden Wassertropfen zum Bewußtsein ihrer selbst zurückgerufen wird und den allmählich herabrauschenden Regenschauer, der ihr dürftiges Kleid durchnäßt und ihr in Bächlein über Wangen und Hals niederläuft, als eine Erlösung und Erquickung zugleich empfindet, in welche der Gesang der Prozession, die eben mit Fahnen, Kreuzen, Weihrauchfässern, Chorknaben, Bittflehenden an ihr vorüberzieht, wie ein Gruß des Himmels hereinklingt.

Da hört ihr Mutterohr ein leises, zufriedenes Schmatzen; und vollends erwachend sieht sie, wie über ihre linke Schulter hinweg, von der linken großen Zehe des Heilandes her, ein silbernes Brünnlein Regenwasser ihrem Knaben, den sie noch 384 immer an die welke Brust gepreßt hält, die dürstenden Lippen trifft. Wie ein liebliches Wunder bestaunt sie den unverhofften Quell, der dem frommen, die vielen einzelnen Tropfen sammelnden Bildwerk entspringt; und als könnte eine Bewegung es zunichte machen, rührt sie sich in all dem Regen nicht eher, bis das Kind seinen Durst gestillt hat und sein Mäulchen mit jenem Ausdruck der Befriedigung zur Seite wendet, mit welchem es ihr jeweilen von der Brust abfiel, als sie noch unerschöpflich war. Aber schon beginnen die noch eben so dichten Regentropfen wie ein Schleier zu zerflattern, das Wunderbrünnlein wird plötzlich dünn, reißt ab und versiegt – und wie sie mit einem Blick innigsten Dankes in die Höhe schaut, wird das Dornenhaupt dessen, der einst für die Menschen sein Blut hingab, bereits wieder von dem sieghaften Lichte der das Gewölk zerteilenden Sonne verklärt.

Ellenor nimmt das Bild der Welt neu in sich auf: sie sieht in geringer Entfernung auf einer Anhöhe des Hügelkammes das Wallfahrtskirchlein, zu welchem die Prozession unterwegs ist und das sie beinahe erreicht hat. Warum aber singen sie plötzlich soviel wilder und drängender? Sie ist noch zu matt, um diese Frage festzuhalten, geschweige denn sich beantworten zu können; sie sinkt wie im Halbschlummer wieder an den Kreuzesstamm zurück, mit ihrem dunkelbraunen Mohrenkindlein an der Brust. Und so sieht und hört sie auch nicht, wie von der andern Seite eine Rotte Bauern daherkommen, welche zur Teilnahme an dem Bittgesang zu spät eingetroffen sind, nun aber wenigstens seinen Erfolg beobachten wollen und angesichts des abbrechenden Regens mit ihren arbeitsharten Händen wie Verzweifelte den Himmel beschwören.

»Es ist nichts! Es hat kaum die Krume angefeuchtet!«

385 »Schick Regen, Herrgott; schick Regen! – Wenn die Frucht verdorrt, so müssen wir im Winter alle miteinander verrecken: – He, ihr dort vorne, singt besser, sonst ist alles verloren!«

»Und hat so gut angefangen! Wollte einen rechten, richtigen Landregen geben! Da auf einmal – Leute, da muß der Böse dazwischengefahren sein!«

»Seht! Wer sitzt dort unter dem Kreuz? – Und was hat sie im Arm? – Ist das nicht ein schwarzes Teufelskind?«

»Das ist eine Hexe! – Sie hat den Regen vertrieben! – Auf, steinigt sie! Steinigt sie!«

Ellenor ist in jähem Entsetzen von der Bank aufgesprungen. Sie hält die rechte Hand schützend vor ihr Knäblein; sie sieht entgeistert, als etwas Unfaßbares, wie die Bauern mit krummen Beinen in den nahen Steinbruch stolpern und sich bücken. Sie will reden, schreien, und kann nicht. »Barmherzigkeit –!«

Da schlägt ihr ein Stein in die Brust; sie fühlt, wie unter ihrer Hand das zarte Köpfchen ihres Kindes zerquetscht wird, und wendet sich, vom Stoße taumelnd, zur Flucht. Ein zweiter Stein kommt ihr von hinten am Kopf vorbeigeflogen, wie ein dunkler Schatten; und von einem dritten fühlt sie nur den furchtbaren Schlag im Rücken, worauf ihr eine süßlich schmeckende Welle erstickend in die Kehle emporsteigt. Daß sie unter einem weiteren Hagel von Felsstücken tot zusammenbricht und wenig abseits von der Straße in der verdorrten Wiese liegen bleibt, das weiß sie nicht mehr; das sehen nur die Bauern, von denen einige noch wurfbereit Steine in der Hand halten . . .

»Und jetzt wollen wir denen dort oben beten helfen, daß es battet!«

Und die gierige Rotte macht Kehrt und stürmt zu der Kapelle hinauf, drohend die Fäuste schwingend, die alles – und selbst – 386 vom Himmel! – glauben erzwingen zu können, was immer ihr erdenschwerer Wille erzwingen möchte.

In der Kapelle angelangt, wo vor dem Altar die Weihrauchfässer brodeln, werfen sie sich auf den Steinboden nieder und schlagen in ihrer Raserei die harten Fliesen –

Gott, schick Regen! Regen! Regen!

Aber wie sie endlich alle, Priester und Volk, aus dem Dämmer des Kirchleins ins Freie treten, da hat sich auch der letzte Wolkenrest spurlos verzogen; und über Stadt und Strom, Tal und Hügelferne – und über eine blonde Tote – gießt friedlich und unbekümmert die Abendsonne ihr mildes Licht aus . . .

 


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