Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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48. Isa am Brunnen

Ist ihre Reise noch eine Wallfahrt? Oder nicht vielmehr schon längst eine Flucht – vor sich selbst, die, wo sie liebt, verschmäht, wo sie nicht liebt, begehrt wird? Nicht nur noch ein äußerliches Mitmachen, weil doch in ihrem Innern nichts mehr mitschwingt und mitklingt?

Sie hat immer wieder versucht, sich andern Kindern anzuschließen. Aber die Neckworte über ihre roten Haare wurden ihr jeweilen bald so zuwider wie die derben Männerfäuste, die unter Gelächter nach ihren Flechten greifen. Und so sah sie sich stets aufs neue in ihrem Unmut allein und allen Fährnissen einer abenteuerlichen Fahrt hilflos ausgesetzt.

Sie ist kein Kind mehr und hätte einen männlichen Schirm doppelt nötig. Aber wo ist der junge Ritter geblieben, den sie zuletzt einer andern Schönen nachjagen sah? Liebe geben und dafür Schutz empfangen: das wäre wohl für ihre Jahre das Natürliche! Statt dessen muß sie ihr warmes junges Herz verstecken und für Obdach und Wegleitung wie eine Bettlerin für Almosen danken.

Sie kauert im Gebüsch oberhalb der Quelle, die ihren feinen, klaren Wasserfaden unermüdlich in den hohlen Baum niederrieseln läßt, ob auch niemand da ist, sich an dem seltenen Naß zu erquicken. Hier hat sie mit den beiden Bauern Rast gemacht, die ihr auf ihrem Wagen einen Platz angewiesen hatten; und hier sich, als sie mit ihrem Maultier im Schatten schliefen, heimlich auf die Seite geschlichen – denn was hätte ihrer des Nachts 223 gewartet, wenn sie mit ihnen zur Stadt gefahren wäre? Noch mehr als ihre Reden und Blicke während der Fahrt sagte ihr in ihrem Versteck das Gefluche, als sie erwachten, sie nirgends mehr finden konnten und zuletzt allein weiterziehen mußten.

Nun will sie hier warten, ob nicht wieder ein Trüpplein zu dem jugendlichen Kreuzfahrerheer vorbeigezogen kommt, dem sie sich anschließen kann; denn das ist doch immer noch das Sicherste. Wie werden diese Sommertage immer heißer! Die Gegend, durch die sie reisen, immer öder! Die Menschen, denen sie begegnen, immer bösartiger! Der goldgelb blühende Ginsterbusch um den Quell herum ist fast das einzige Grün, das dieser gluthauchende Wind, der wie ein erster Gruß aus den Ländern jenseits des Meeres anmutet, noch aufkommen läßt . . .

Da wälzt sich von ferne eine Staubwolke auf der Straße daher; und fast gleichzeitig, wie sie Hufegetrampel vernimmt, sieht sie auch aus dem grauen Gebrodel Pferdeköpfe hervorlugen. Und dann, merkwürdig, dicht nebeneinander, die erhitzten Gesichter der Reitenden, die immer näher kommen! Erst wie sie jetzt vor der Quelle die Zügel anziehen und der Staub um sie herum verdampft, löst sich ihr das Rätsel. Vier schwere Rosse stehen da: und auf jedem von ihnen sitzt ein derbknochiger Knappe und vor ihm ein feingliedriges Ritterfräulein.

»Da ist das Wasser!« ruft einer der Jünglinge mit durstheiserer Stimme. »Es war also keine Lüge!«

Die Fräulein springen ab. Wie sehen sie aus! Wie mit Asche beworfen! Die Knappen folgen mit den Pferden und tränken sie vorsichtig. Die Mädchen waschen sich Gesicht und Hände und zeigen nun erst recht unmutige und unglückliche Mienen.

»Das ist ein elendes Reiten!« klagt eine Stimme.

224 »Ihr habt doch selber Eure Tiere verkaufen wollen!« lacht einer der Knappen grob. »Glaubt Ihr, daß wir zu Fuß gehen und die eigenen Rosse am Zügel führen? – Dafür könnt Ihr ja auch alle Nacht in Betten schlafen; und vielleicht in einem Bett auch gleich übers Meer schwimmen –«

»O, diese Anmassung ist unleidlich!« ruft das größte, stolzeste der Mädchen. »Die Rosse, auf denen ihr reitet, gehören uns so gut wie die, auf denen wir ritten! Und wir hätten das volle Recht, allein aufzusitzen und zu euch zu sagen: Trollt euch, ihr ungetreuen Knechte!«

»Oho!« schreit da einer der Knappen. »Ihr meint also, wir haben die Tiere aus Eurer Herrlichkeit Eltern Stall gestohlen? Aber auf wessen Befehl, wenn nicht auf Euren? Das möchten wir wissen!«

Und wie die Mädchen unter vorstürzenden Zornestränen nach den Pferden eilen, um auf ihnen zu entfliehen, schwingen sich die gewandteren Jünglinge mit Hohngelächter vor ihnen als erste in den Sattel. Und die Mädchen dürfen froh sein, daß nicht die Knappen ihnen davonsprengen, sondern sie mit hartem Arm auf den Nacken ihrer bereits wieder ausgreifenden Tiere heben, wo sie eine jede ihren zum rauhen Gebieter gewordenen Knecht trotz Grimm und Groll umfassen müssen, wenn sie sich im Gleichgewicht erhalten wollen. Und aus den hilflosen Blicken, die sie nur in die leblose Natur hineinzusenden glauben, erkennt Isa in ihrem Versteck, daß sie sich bei aller Empörung bereits als Beute fühlen und eines Tages auch Beute sein werden.

Das Herz krampft sich Isa zusammen; und wie ein heißer Tränenstrom steigt wieder die Sehnsucht in ihr auf nach dem Jüngling, dem sie einst begegnete und dann wieder verließ, 225 weil sie sich von ihm nicht geliebt glaubte. Was ist doch ein einsames Weib für ein elendes Ding! Es gehört nicht nur keinem; es gehört nicht einmal sich selber. Soll sie hier in ihrem Ginsterbusch warten, bis jemand kommt, der sie mitnimmt? Und, wenn niemand kommt, im freien Felde übernachten, zusammen mit den wilden Tieren und bald auch ein wildes Tier?

Da erscheint drunten auf der Straße, in dem allmählich milderen Nachmittagslicht, ein Zug junger Kreuzfahrer mit Kreuzen und Fahnen. Die Jünglinge und Mädchen ziehen voll frommen Mutes, aber mit erschöpften Kräften, dahin: voraus eine Knabenschar mit Schwertern und Schildern; dann die Träger der Fahnen und Feldzeichen; endlich zwei Paare. Neben einem bleichen Jüngling im Schaffell schreitet ein Mädchen ihres Alters – sein Haar glänzt so golden, wie ihres rot leuchtet! –; und an der Seite eines jungen Mönches, dem schwarz das Haar in die Stirne tritt, eine zart geneigte Gestalt mit dunkelblonden Nackenlöckchen. Und hinter diesen folgt in dichteren Reihen der buntgemischte Heerhaufe mit matten Blicken und müden Bewegungen, voll Staub und Schweiß und Schwere. Alle schwenken nach der Quelle ein, trinken, wortlos ein leibliches Bedürfnis befriedigend, ein paar Schlücklein aus der hohlen Hand und entfernen sich schweigend wieder, gleich farbigen Schatten, die ein vorbedachtes Spiel aufführen.

Isa hält den Atem an, wie um die Erscheinung nicht zu stören. Aber da sind auch schon die letzten in der Ferne zusammengeschrumpft, von ihr aufgesogen: und was aufs neue wieder schweigt und dem ewig gleichen Plätschern des Quells lauscht, das ist außer ihr nur die mehr und mehr erlahmende Sonnenglut des allmählich in ein abendliches Grün sich 226 verfärbenden Himmels. War das am Ende der König Stephan gewesen, von dem ihr die Fahrenden so oft erzählten? Soll sie ihm nicht nacheilen und in seiner Truppe unterzukommen suchen? Aber sie fühlt, daß sie nicht mehr zu diesen Kindern gehört, weil nichts mehr im Herzen sie nach dem heiligen Lande zieht. Und so bleibt sie sitzen, wo sie sitzt; und wartet weiter.

Sie ist wie verzaubert; und wie in einem Wachtraum weiß sie eine Zeitlang nicht, ob die neuen Gestalten, die sie nach einer Weile abermals vor dem Quell sich bewegen sieht, Wirklichkeit oder Einbildung sind. Zwei junge Paare, alle vier mit dem Kreuz auf der Brust, haben sich vor dem hohlen Baum in die Knie geworfen und waschen sich alle mit gleich großem Eifer Gesicht und Hals, Arme und Hände, bis sie sich zuletzt aus erfrischten Augen gegenseitig anblitzen. Wahrhaftig, das sind keine Gespenster! Ihr Lachen ist wirkliches Lachen; und ihre Worte sind Worte mit Sinn –

»So, nun kann ich dir doch wieder einmal einen Kuß geben!« – »Und ich dir auch!«

Und Isa sieht, ohne den Blick abzuwenden, wie je zwei der braunblanken Arme sich um einen Nacken und wie Lippenpaare feuchtrot sich auf Lippenpaare legen, während es durch die vier jungen Körper gleich einer unsichtbar der Erde entsteigenden Flamme emporlodert. Dann treten sie voneinander zurück, blicken sich voll Glück und Übermut an und brechen plötzlich in ein erneutes Gelächter aus.

»Jetzt brauchen wir keine Muschel mehr, um den Weg zueinander zu finden!«

»O, der närrische Mönch! – Wo der jetzt wohl sein mag?«

»Möchtest du ihn etwa heut Nacht als Türhüter anstellen?«

»Möchtet ihr vielleicht euren Schlaf bewachen lassen?«

227 »Wenn wir nur schon so weit wären! – Wir müssen noch tüchtig unsere Beine brauchen, sollen wir vor der Dunkelheit den Hof erreichen, den man uns genannt hat.«

»Also vorwärts! Damit wir auch für die andern, die nachkommen, Quartier machen . . . Und wenn keine mehr kommen, um so besser! – Morgen ist Sonntag und sollen wir wieder eine Stadt antreffen . . .«

Und sie nehmen erquickt, voller Frohsinn und Schelmerei, ihre Stecken und Bündel auf und wandern als glückliche Paare weiter, in den milden, hellgoldenen Abend hinein.

Über dem Quell aber steht jetzt auch Isa fest auf den Beinen, Stab und Bündel in der Hand, und schaut ihnen nach, erlöst und befreit. Das war ein Ruf des Lebens! Und andere kommen hinter ihnen? Wenn sie zu diesen andern gehörte?

Nach kurzem Besinnen nimmt sie den Weg wieder unter die Füße. Gleichviel, wohin! Nur dorthin, wo diese Mutigen ihr vorangehen und sie in die Spuren ihres Glückes treten darf.

 


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