Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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3. Stephans Berufung

Das Licht flutet in Wellen. Durchwärmt fächelt eine klare Luft über Berg und Tal, während aus versteckten Muldenwinkeln die Schneereste des Winters ihr einen kühlen Unterstrom beimischen. Trotzdem gerinnt zuletzt die fremde, süße Glut zu einem weißlichen Dunst, der wie in Vorahnung des Sommers das Schwarzgrün der Wälder blaugrau, das Blau der Ferne silberig macht.

Es gärt in jeder Ackerscholle, die den Samen birgt. Es treibt in jedem Baum, welcher zu dem Hügel hinaufschaut, wo ein einsamer Schafhirte sitzt, und schwellt ihm die knospenden Äste, als sollte er eines Tages die Welt mit ihnen ausfüllen. Es wächst durchsichtig, zart und zitternd in all den Grasspitzen empor, welche dichtgereiht die zwei in Leder gewickelten Füße umdrängen, auf denen die glühende Frage eines vornübergebeugten Knabenantlitzes ruht . . .

»Stephan?«

9 Er erschrickt. Er schnellt den ausgemergelten Kopf mit dem strähnigen Braunhaar in die Höhe. Er schaut mit bebenden Lippen umher, woher ihm dieser Ruf gekommen sein mag.

Wie vom blauen Himmel herab, von der sonnig flimmernden Luft hergetragen, ist die Stimme an sein Ohr gedrungen; und noch hallt sie ihm in der Seele nach. Erst allmählich kehren seine suchenden, zweifelnden Blicke aus der Ferne, die ihn weit und erwartungsvoll umleuchtet, in die nächste Umgebung zurück, wo unten am Hügel die Schafe, mit goldig überglänzten Vließen wiederkäuend, ihre Nachmittagsruhe halten. Und zuletzt bleiben seine Gedanken wieder an dem groben Schuhwerk hangen.

Er hält die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Aus einem Hunger heraus, den er so gewohnt ist, daß er ihn kaum mehr spürt, zerbeißt er sich die Finger. Wieder lauscht er in die Tiefen seines Blutes hinab, wie es mit seliger Leichtigkeit kreist und singt – und das doch eins ist mit der bittern Welt, in der er sich verhaftet und verloren weiß! Ein unfaßbares Etwas strömt aus ihr in ihn herein und aus ihm in sie hinaus und sucht in Glück und Qual nach dem Zauberwort, das alles Weh dieser Erde bannt. Ein heißer Wille quillt in immer neuen Stößen in ihm auf; jeder Muskel an ihm spannt sich wie zum Sprunge nach einem Ziel, das unendlich fern ist und doch dem Mutigen durch ein Wunder erreichbar sein muß.

Und gleichzeitig steht hinter ihm, in der Erinnerung, die Vergangenheit. Er sieht erst die Mutter, dann den Vater auf dem Totenbett liegen. O, ihre gefalteten, von der harten Arbeit rissigen Hände waren immer so weich, wenn es galt, für ihn zu sorgen! Warum mußten sie als arme Pächtersleute ein so elendes Leben führen, wie er es jetzt als verschupftes Knechtlein führt? Was für ein Fluch liegt auf diesem 10 Erdendasein, daß kein Glück und keine Güte mehr in ihm gedeihen können?

Die Menschen sind in Sünde gefallen: das ist es! Etwas über alle Maßen Herrliches ist von ihnen gewichen und hat ihnen in ihrer Finsternis nur die Sehnsucht nach ihm zurückgelassen. Keiner kennt mehr seinen Nächsten; alle quälen sie einander sinnlos wie böse Tiere und machen sich gegenseitig, während sie nach dem verlorenen Paradiese schreien, das Leben zur Kreuzesmarter. Wer wird sie zum Erlöser zurückführen, auf daß sie selber Erlösung finden?

»Stephan! – Stephan!«

Er greift nach seinem neben ihm liegenden Hirtenstab und springt auf. Deutlicher als das erstemal hat er den Ruf vernommen: ihm und keinem andern gilt er! Schon ist er gefaßt, irgendwo eine mächtige Gestalt zu sehen, die ihm Weg und Aufgabe weist; und schon auch bereit, mit jugendlicher Zuversicht in Taten anszuwirken, was er wie ein Fieber in sich kochen fühlt –

Aber wiederum sieht er keinen einzigen Menschen auf dem weiten Felde. Nur mit Staunen nimmt er wahr, daß der Nachmittag, während er vor sich hinträumte, wie ein aus Licht und Duft gewobener Rausch zerronnen ist. Golden steht die Sonne über dem dunklen Wipfelmeer des Waldes und bricht, Abschied nehmend, mit ihrem Glanz zwischen beidseitig sich türmenden weißen Wolken wie aus einer himmlischen Schlucht hervor.

Und über seinen eingestemmten Stecken vorgebeugt, vergißt Stephan abermals alle Wirklichkeit und verliert sich mit Seele und Sinnen ganz in der Seligkeit dieses Schauspiels. Es rauscht noch einmal in jauchzenden Lichtströmen aus der ragenden Ferne herein und über die eindämmernde Erde hinweg! Und jetzt – 11 gleißt nicht hoch droben auf dem Wolkengebirge, unter dem bleichen All, mit seinen Mauern und Zinnen das himmlische Jerusalem? Und siehe da: aus dem mächtigen Stadttor tritt mit einem großen, blutenden Herzen der Heiland hervor, geführt von Maria, seiner Mutter, die bittend mit der Hand auf die Erde niederzeigt. Und er spricht: »Wie sollte ich wiederkehren diesem Geschlechte, das mein Grab hat fallen lassen in die Hände der Heiden?« Und kaum daß diese Worte über seine Lippen geströmt sind, erlischt auch das Leuchten seines Antlitzes in Traurigkeit und verblaßt die Glut der hohen Erscheinung im Grau des Abends. Vorbei! Immer wieder vorbei! Unerreichbar . . .

Stephan ist, an dem groben Hirtenstabe niedergleitend, in die Knie gestürzt und schluchzt, von einem Hauch aus der Ewigkeit geschüttelt, in Elend und Verzweiflung vor sich hin. Er sieht nicht, wie unten am Hügel zusammengedrängt die Herde der Schafe auf ihn wartet, daß er sie heimtreibe; er merkt nicht, daß der treue Hund, der sie bisher immerfort umkreiste, stehen bleibt und leise zu knurren beginnt, weil ein Pilger, mit einem Kreuz auf dem Mantel, quer über das Feld dahergeschritten kommt; er hört auch nicht den friedlichen Ruf des Vesperglöckleins, das in der Kapelle drüben am Walde von einer frommen Hand geläutet wird – er spürt bloß, wie die einzelnen Töne, gleich glühenden Tränentropfen aus des Heilands Antlitz, in sein bewegtes Herze fallen. Er wirft sich auf sein Gesicht, krallt die Finger seiner beiden Hände in den weichen, feuchten Erdboden hinein und ist nichts anderes mehr als das willenlose Werkzeug, das eine höhere Macht sich zum Gebrauche schmiedet.

». . . Gruß dir im Namen unseres Herrn Jesus Christus! – Du bist es, den ich suche.«

12 Laut und feierlich klingt es neben ihm, über ihm. Stephan prallt, noch auf den Knien, in wahnsinnigem Entsetzen zurück. Tritt jetzt an ihn heran, was er schon so lange vorausgefühlt hat? Darf er es wagen, den Blick zu erheben und sein Schicksal zu schauen?

Vor ihm steht ein Pilger. In der einen Hand hebt er eine Rolle hoch, von welcher ein blutrotes Siegel herabhängt; die andere, die den Wanderstab umfaßt hält, leckt ihm demütig der Hund. Im Kreise umstehen ihn, wie einen neuen Hirten, unbeweglich, mit lauschenden Ohren, die Schafe, welche ihm den Hügel hinauf gefolgt sind und nun alle nach Stephan äugen, was er tun werde.

»Dir ist bestimmt, zu erfüllen, was Größere nicht erfüllten!« spricht der Fremde auf ihn ein. »Dir ist beschieden, das heilige Grab den Heiden zu entreißen und auf ihm das Reich des ewigen Friedens zu errichten!«

»Mir?«

Stephan krampft sich beide Hände in ungeheurer Beklemmung in die Brust. Muß er sich gewaltsam zurückhalten, zu glauben, was er nur zu gerne glaubt; oder möchte er den übermächtigen Zwang der auf ihn niedersinkenden Berufung noch im allerletzten Augenblick sprengen und sich in die Freiheit seines bescheidenen Hirtenlebens zurückretten, die er bisher so gering achtete? Vergebens versucht er, in dem bärtigen Antlitz des Pilgers zu lesen: die Dunkelheit verwischt seine Züge bis zur Undeutlichkeit; und er hört nur aufs neue die tiefe, wohllautende Stimme –

»Du sollst das Kreuz nehmen und alle Jugend des Landes, Knaben und Mädchen, um dich scharen. Ja, selbst die kleinen Kindlein – ›denn ihrer ist das Himmelreich‹, spricht der Herr . . . Willst du das tun und ausziehen gen Jerusalem?«

13 »Will? Will?« stößt Stephan schluchzend hervor und streckt die Hände aus. »Aber woher kommt mir diese Sendung? Und wer wird mir Armen Glauben schenken? Bin ich nicht der Elendeste unter den Elenden?«

»Nimm!« tönt es da von den Lippen des Pilgers, weich und gütig wie Glockenklang. Und er hält ihm die Pergamentrolle hin – »In diesem Briefe gebietet Unser Herr dem König von Frankreich, dir den Weg zu ebnen, den er selber nicht zu Ende ging . . .«

Und kaum daß er die hohe Beglaubigung entgegengenommen hat, wendet der Fremde sich von ihm ab. Weichen nicht die Schafe vor seinen Schritten auseinander? Schaut nicht der Hund leise schnuppernd ihm nach? Ein Schatten unter Schatten: so verschwindet er in der Dämmerung.

»Wer bist denn du,« ruft zurückbleibend Stephan, »daß ich dir glauben soll?«

Das Pergament brennt ihn in den Händen. Ein Argwohn durchzuckt ihn, er möchte unwissend den Ränken des Teufels anheimgefallen sein. Wie viele sind nicht schon so versucht worden?

»Ungläubiger!« hallt es mit lautloser Geisterstimme vom Firmament herab, in dessen erwachender Sternenherrlichkeit sein Blick sich verliert. »Und wenn es der Herr selber gewesen wäre, der zu dir gesprochen hat? Erkennst du ihn nicht?«

Stephan treten die Augen aus den Höhlen; der Puls stockt ihm in furchtbarer Spannung. Er lauscht. Er schaut sich um. Er greift mit den Händen in die Luft wie nach etwas Festem. Aber er sieht nichts als über sich die silbernen Sternfunken; und dort, wo der Fremde gestanden hat – ist es Wirklichkeit? – eine reine, ruhige Flamme . . .

14 Da springt er auf, voll tödlicher Sehnsucht, ihr entgegen. Wankt, ein in der Seele Geblendeter, ein paar Schritte unter die erschreckten Tiere hinein. Und fällt, krampfhaft das Pergament festhaltend, mit vergehenden Sinnen zwischen ihren weichen Fellen zu Boden.

 


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