Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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24. Bruder Augustin mit der Muschel

Bruder Augustin, wo läuft dein Weg?

Schon den dritten Tag bist du auf der Fahrt, um der unerfahrenen Jugend Führer zu sein; und immer noch hast du deine Schützlinge nicht gefunden. Gutmütige Bauern lassen dich im Heuschober schlafen, speisen und tränken dich und geben dir Wegzehrung mit; aber überall heißt es: Die Kinder sind schon vorbeigezogen! oder: Die Kinder sind noch nicht gekommen! Doch dein Glaube und die Heiterkeit deines Gemütes fallen nicht von dir ab: selbst jetzt nicht, wo du während der Mittagsglut eines schwülen Maitages vor einem schattigen Busch sitzest, allein auf dem breiten Hügelrücken, welchen der Weg von weither nach weithin überquert und von wo der Blick auf beiden Seiten fern hintereinandergeschichtete Hügelwellen auffaßt und die Erde wie in einer endlosen, durch geheimnisvollen Zauber festgehaltenen Fortbewegung erkennt.

Auch siebzigjähriges Blut kann im Fieber wallen, wenn im Herzen die Wanderlust nicht erstorben ist. Während den guten Bruder noch die Füße schmerzen vom harten Boden, sind ihm schon die Augenlider voll schweren Schlummers herabgesunken und wird ihm in der innern Welt der Wunsch zur vorausgeahnten Wirklichkeit: das Ohr hört, das Auge sieht eine Schar junger Kreuzfahrer nahen, bestaubt, verschmachtet, im Kampfe ihrer Sehnsucht mit der Qual der Wanderschaft, gierig nach einem Plätzchen Schatten! Unter ihnen hat es gar manchen jungen Augustin, dessen Seele über alle Leiden hinweg das 99 heilige Land fest im Auge behält – Woge auf Woge kommt das Gleiche wieder, rauscht heran aus der Zukunft und verebbt in die Vergangenheit hinein . . .

Bruder Augustin ist nicht erstaunt, wie er, von lechzenden Stimmen aufgeweckt, marschmüde Knaben und Mädchen um sich erblickt, die sich zu ihm in den Schatten werfen. Sie müssen eben erst angekommen sein: ihre Gesichter sind gerötet und schweißbeperlt; die Augen blicken trübe, die Lippen kleben vertrocknet aneinander; die Halsadern fliegen. »Lieber Bruder, hast du uns nichts zu trinken?« fragt ein brauner Knabe, der im Grase liegend sich ihm zuwälzt; und ein blondes Mädchen, die Hände ums angezogene Knie schlingend, redet seufzend vor sich hin: »Weiter, als wir dachten, ist die Reise nach Jerusalem!«

Bruder Augustin langt seine noch fast volle Kürbisflasche hervor, die er des Morgens mit frischem Quellwasser füllte, und reicht sie den Dürstenden dar. Und siehe! ein jedes von ihnen trinkt nur wenig, um den andern auch noch etwas zu lassen; und immer erbittet das nächste zuerst mit einem Blick seine Erlaubnis. Selbst diese Kinder aus dem Volk, die sonst gern nur an den eigenen Vorteil denken, schließt die Neuheit des Erlebnisses zu ungeahnter Brüderlichkeit zusammen; und darum liegt auf der Kürbisflasche ein solcher Segen, daß sie sie alle – und es sind wohl an die zwei Dutzend Knaben und Mädchen – zu tränken vermag.

Der alte Mönch beschaut sich, während die Flasche kreist, jedes einzelne Gesicht. Er liest aus ihm, ob jetzt auch der Durst des Leibes es durchglüht, die tiefe Sehnsucht der Seele ab; und er denkt zurück an den waffenstarrenden Zug, in welchem er einst unter zwei Königen einherritt, und stellt neben ihn staunend diese zarte Jugend, die mit bloßen Händen das heilige Land 100 zu erobern auszieht. Aber wenn der Herr das größere Wunder tat, die Gemüter der Unmündigen zu einer Tat zu entflammen, die Kaisern und Königen nicht gelang, vermag er da nicht auch, der Kraft des Glaubens einen Sieg ohne Waffengewalt zu schenken?

»Lieber Bruder, bist du ein Pilger, daß du so kleine Schalen auf dem Hute trägst?« fragt jetzt der Knabe Paul mit dem dicken Kopf und blickt ihn groß an. »Kommst du etwa daher, wohin wir erst gehen wollen?« Und viele Stimmen rufen im Chore durcheinander, während sehnsüchtige Blicke vor ihm aufleuchten und magere Hände sich ihm entgegenstrecken: »Sag, guter Bruder, wie sieht Jerusalem aus? Ist es wahr, daß Mauern und Zinnen von Silber und Gold erstrahlen und daß die Kirchtürme wie Edelsteine funkeln?« Auf einmal ist alles Auge und Ohr geworden, hat Hitze, Durst und Mattigkeit vergessen und hängt nur noch an seinen Lippen.

»Kinder, wohl war ich im heiligen Lande; und nicht viel älter war ich damals, als ihr jetzt es seid! Aber bis nach Jerusalem kam ich nicht. Und doch weiß ich, der Glaube hat recht: denn von Silber und Gold erstrahlen unserer Hoffnung Mauern und Zinnen; und wie Edelsteine funkeln ihre Kirchtürme. Gebe Gott, daß wir alle miteinander uns daran sattsehen dürfen! Auch ich will mit euch ziehen: zum zweitenmal ein Pilger nach dem Grabe unseres Erlösers . . .«

Sie lauschen und sinnen nach und betrachten ihn auf einmal als ihren Führer. »Ach, wenn wir nur erst am Meere wären!« seufzt die blonde Cäcilie, die ihre Sandalen ausgezogen hat und die Füße im spärlichen Grase zu kühlen versucht; und ihre Reisekameradin Antonie, eine dunkelgelockte Neugier mit rotschwellenden Lippen und schwarzen, glänzenden Augen, ruft laut und 101 herausfordernd: »Frommer Bruder, sag uns, was ist das Meer?« – »Das Meer ist,« versetzt Augustin, »wo es soviel Wasser hat wie hier Land!« Und er schwingt die Arme mit einer großen Bewegung nach beiden Horizonten aus; und die Kinder folgen ihm nach vorwärts und rückwärts mit den Blicken in dunstige Fernen hinein, wo die Hügelwogen der Erde hier herandrängen, dort davonrollen.

»Aber wie ist es, frommer Bruder? Ein Apfel ist auch noch etwas anderes als nur rund und rot; er ist süß oder sauer und hat diesen oder jenen Geruch . . .« So fragt die schwarze Antonie wieder. Und daß sie sich zur Sprecherin der ganzen Schar gemacht hat, beweist die lautlose Spannung, mit welcher jetzt alle auf den alten Pilgrim schauen. Ja, was für ein wunderbares Ding ist das – »das Meer«?

Die Stille des Himmels wird eins mit der Stille über diesen hingelagerten Kindern, welche in Bruder Augustin auf einmal einen Menschen sehen, der um die Lösung manches bangen Rätsels weiß. Offenen Auges vor sich hinstarrend, schmecken und schnuppern die Mädchen mit all ihren jungen Sinnen in sich hinein, als könnten sie das Wesen des ungeheuren Weltmeeres in sich selber erahnen; die Knaben aber lassen ihre Blicke in das blaue, nur von wenigen Wolken durchschwommene All emporschweifen und suchen sich in der Vorstellung zu üben, daß seine Halle sich allenthalben auf eine ebenfalls blaue Wasserfläche herabwölbt. Wenn sie nur schon dort wären und dieses Unfaßliche als Wirklichkeit erlebten!

Da hat Bruder Augustin den Reisesack zur Hand genommen und aus seinen Falten die mächtige, mit gelblichen Hörnern und Stacheln bewehrte Muschel hervorgeholt, deren dunkelroter Mund wie mit eingezogener Unterlippe klaffend offensteht. 102 »Da drin hört ihr das Meer!« bedeutet er ihnen mit leiser Stimme. »Das hat auf seinem Grunde gelegen und seinen Klang in sich bewahrt!« Und er hält die Muschel zuerst sich selber ans Ohr, um das rauschende Hallen wieder zu vernehmen, in welchem für ihn nicht nur das ferne Meer, sondern auch die entschwundene Jugend tost. Dann reicht er sie der jungen Fragerin dar – und während Antonie fast furchtsam sich das fremde Stachelgehäuse ans Ohr hebt, rutschen die andern Kinder auf den Knien zu ihr heran und wenden kein Auge von ihr ab, als könnten sie schon aus dem Ausdruck ihres Gesichtes einen Vorgeschmack des noch nie erlebten Wunders erhaschen.

Wie kühl sich die Muschel an die heiße Schläfe legt! Und wie ist ihre von tausend Wellen geschliffene Rosenlippe selber wellenglatt! Aber wie hallt erst, nachdem der anfängliche Schreck über die liebkosend-erquickende Berührung vorüber ist, das ewige Brausen des Meeres aus diesem sonderbaren Gebilde in die junge Mädchenseele! Ist es das Blut der Welt, das darinnen tost und klingt und aus dem früher oder später alle Dinge geschaffen wurden? Oder ist es das eigene Blut, das sich im Widerhall vernimmt und sich unter Schauern bewußt wird, in was für unendlichen, alle Gedanken übersteigenden Zusammenhängen es aufglüht und auslöscht?

Die Muschel wandert von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr. Oft wollen zwei, drei Kinder auf einmal daran horchen; glühende Wangen streifen einander und jungfräulich zarte oder knabenhaft scheue Arme legen sich um Hals und Schultern. Und nach und nach schauen und fühlen sich alle die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem in die unendliche Ferne und Tiefe hinein, welche in dem hallenden Tosen wohnt und, wundersam herannahend 103 und auftauchend, dunkle Ungeheuer und lichte Seligkeiten in sich zu bergen scheint.

Vergessen ist die schwüle Hitze des Nachmittags. Etwas Lösendes, Ausweitendes weht auf einmal den Knaben und Mädchen in die Seele: eines nach dem andern sinken sie in den Schatten zurück und spüren, während die Blicke des unsteten Umherirrens müde werden, wie die matt ausgestreckten Glieder von einer fremden Sehnsucht anschwellen. Ihnen allen ist die Begrenztheit und Einsamkeit ihres Wesens durch diesen allmächtigen Liebesgesang des Meeres dunkel zum Bewußtsein gebracht worden: sie sehnen sich nach dem großen Erlebnis, in welchem die Schranken zwischen Mensch und Mensch durchbrochen werden und alle Geschöpfe teilhaben an der glühenden Kraft der Welt. Nicht mehr das Meer: das Blut gärt jetzt in ihnen, den im Halbschlummer Liegenden, und durchwuchert mit seinen roten Blüten ihre sehnsüchtigen Pilgerträume . . .

Da schreit plötzlich ein kleines, bleiches Mädchen, welches als letztes die Muschel ans Ohr gesetzt hat, so laut und durchdringend auf, als sei ihm von ihr etwas Furchtbares zugeraunt worden. Und bevor die andern sehen können, wie es das unheimliche Meeresungetüm fortschleudert und, mit beiden Händen sich die Ohren zuhaltend, in schluchzendem Entsetzen sich auf den Boden wirft, hat auch schon der wie in höchster Not kreischende Ton die unerwartete innere Schau ihrem eigenen Gefühl vermittelt und in ihnen dieselbe Wirkung ausgelöst. Es dünkt sie einen Augenblick, als wanke der Boden unter ihren Füßen, während sich der Himmel über ihnen verfinstert, und als wandelten sich die Erdhügel rings um sie herum zu einem Wellengetobe, in welchem sie rettungslos untergehen.

Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt und aufs neue 104 das Bild der staubtrockenen Frühlingslandschaft, in welcher nur vereinzelte Bäume blühen, in sich aufgenommen haben, versammeln sich alle um Bruder Augustin, der mit vieler Mühe das verzweifelte Mädchen getröstet hat und jetzt die junge Schar zum Weitermarsch antreibt. Die kleine Seherin aber, die sich von dem guten Bruder an der Hand führen läßt, wirft zuerst scheue, stumm fragende Blicke von einem zum andern, während ihr immer wieder eine Träne über das blasse Gesichtchen kugelt; dann weiß sie sich allmählich von der Hand des Mönches loszumachen und, je mehr der Tag in sein eigenes Sonnengold hineinsinkt und auch dieses an die nachrückende Dämmerung verliert, um so mehr sich in die hintern Gruppen wegzustehlen. Und wie sie jetzt eine Bäuerin überholen, welche müde von schwerer Ackerarbeit heimkehrt und die müßiggängerische Jugend mit wenig freundlichen Blicken mustert, bleibt das nachdenkliche Kind, das sich von den übrigen beharrlich gemieden sieht, noch weiter zurück, hält sich heimlich und still an ihrem Rocke fest und wird von ihr erst an der Haustüre bemerkt, wo es ihr, vor Hunger und Angst halb ohnmächtig, wie ein armes Mäuslein vor die Füße taumelt . . .

 


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