Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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6. Gerolds Rückkehr

Warum reitet sie tagtäglich allein durch die herbstlichen Wälder?

Sie sieht nicht, wie weißduftig der Himmel über ihnen blaut. Sie fühlt kaum, wie das Sonnenlicht unter den welkenden Laubkronen zu einem warmen, goldenen Meere zusammenfließt, durch welches sie auf dem Rücken ihres Pferdes lautlos über dem blätterbestreuten Boden dahingleitet: sie hört und fühlt nur die Frage eines sehnenden Herzens, das in seiner Freiheit seine Leere doppelt empfindet. An jeder Straßenkreuzung hält sie nach den Knaben und Mädchen Ausschau, welche, ohne das heilige Land betreten zu haben, in Not und Elend den Rückweg in ihre Heimat suchen; und jedesmal, wenn sie eine neue Schar das Tal heraufwandern sieht, ist es ihr, als müsse sie aus dem Sattel sinken bei dem Gedanken, er könnte sich unter ihnen befinden.

Wie manches Trüpplein hat sie in diesen Wochen schon zu ihrer Burg geleitet, mit Speise und Trank gestärkt und wohl auch beherbergt! Sie tut diesen Ärmsten, was sie dem Liebsten nicht tun kann. Lebt er noch? Wird er wieder zurückkehren? So oft sie sich bei den Enttäuschten, Fahrtmüden nach einem jungen blonden Ritter erkundigt und seine Art näher schildert, während ihre jungen Gäste gierig und wortlos Hunger und Durst stillen, so oft ist zuletzt ein stumpfes Kopfschütteln die einzige Antwort. Und dann ziehen sie wieder weiter, gestärkt; und sie bleibt allein zurück, in ihrer Sehnsucht und ihrer Einsamkeit.

271 Aber mit jedem neuen Morgen sendet sie aufs neue ihre Blicke aus. Er ist's! jubelt ihre Hoffnung und wiederholt ihr Glaube, wenn einmal ein einzelner Ritter in der Ferne auftaucht; und das Blut stürmt durch ihre Adern, strafft ihre Glieder, hebt ihr Haupt, glättet ihre Züge. Sie gleicht einer Pflanze, welche plötzlicher Segen des Himmels neu aufleben läßt – und sie verwelkt auch wieder wie eine Pflanze, die in die Dürre hineingerät, sobald sie ihres Irrtums inne wird und vor ihren enttäuscht erloschenen Augen ein unbekannter Fremdling vorüberreitet, um in der entgegengesetzten Ferne zu verschwinden.

Auch heute ist Frau Adelheid in der Bitternis vergeblichen Hoffens und Wartens frühzeitig auf ihre Burg zurückgekehrt, auf der sie seit einem Vierteljahr allein gebietet. Aber die milde Schönheit des Abends verlockt sie, noch einmal die Zugbrücke zu überschreiten; und verfolgt von den Blicken der Dienerschaft, die sich über die Sonderbarkeiten ihres Witwenstandes allerlei Gedanken macht, tritt sie unter das schwarzrote Laub der drei Blutbuchen, welche an heißen Tagen in ihren Kronen die Kühle des Morgens bewahren, jetzt aber die letzte Wärme eines sonnigen Oktobertages zurückbehalten haben. Und sie steht und schaut in das abendliche Tal hinab, bis sie auf einmal ihren Blick nach einem der riesigen Baumstämme gezogen fühlt, neben welchem, wie ein Schatten im Schatten, ein fahrender Kriegsgeselle steht und unverwandt die Augen auf sie gerichtet hält –

»Gerold!« schreit sie auf, über ihre eigene Stimme erschreckend, starrt ihm im Nähertreten ins dunkelfragende Gesicht und eilt jetzt vollends auf ihn zu, während alle Geister des Lebens in ihr aufjubeln und sie in einer Woge durchfluten, die sie zu ersticken droht. Ist das auch wieder nur ein Traumbild ihrer heischenden Sehnsucht? Oder tritt aus der unendlichen, 272 überall kalt und gleichgültig offenstehenden Welt diese eine Wirklichkeit zu ihr, die allein sie zu beseligen, alles ungesättigte Verlangen in ihr jäh zum goldenen Ringe des Glückes zu schließen vermag? Und indem sie in seine Arme, an seine Brust sinkt, wie ein bis zum letzten Augenblick ungläubiges Kind mit zitternden Händen seiner Gegenwart sich versichernd, haucht sie erlöst aufatmend die Worte vor sich hin: »Er ist tot – und du lebst . . .«

Taumel der Seligkeit! Von unten im Tale hatte Gerold sie den steilen Burghügel hinaufreiten sehen. Dann hatte er sein Pferd im Walde angebunden und war ihr bis zu den Buchen hinauf im Dämmer nachgegangen, sie mit allen Kräften seines aufglühenden Wunsches zurückrufend. Und sie hatte den Ruf in den tiefsten Tiefen ihres Wesens vernommen und war wieder umgekehrt. Und nun liegt sie, langsam nur aus der Sturzflut ihrer Gefühle zum Bewußtsein ihrer selbst auftauchend, an seinem Halse.

Sie betreten miteinander die Brücke. Gerold glaubt zu träumen: Noch hat er den dumpfen Donner der Holzbohlen im Ohr, als er an jenem Frühlingsmorgen über sie hinwegritt, in die Welt hinaus! Und jetzt wandelt die holde Frau, die er damals floh, im Widerschein des hell nachleuchtenden Abendhimmels neben ihm, schöner als je zuvor; und indem sie ihn dergestalt heimgeleitet, spricht ihre Stimme durch Tränen leise jubelnd in sein Staunen hinein: »Alles hat auf dich gewartet: mein Haus, mein Herz; mein Leib, meine Seele . . .«

Er streift mit einem Blick ihr Haupt, das stolz und glücklich auf dem biegsam schlanken Halse sich erhebt und dunkel von dem gewellt anliegenden kastanienbraunen Haar umfaßt wird. Das sind die weichgeschwungenen Lippen, die lächelnd die weißen Zähne sichtbar werden lassen; das die kühne Nase mit den Flügeln, 273 die sich bereits wieder heimlich bewegen, wie immer, wenn das Weib in ihr zu atmen beginnt; das die träumedunklen Augen, die sich selbst ein Rätsel zu sein scheinen, unter der reinen, königlich herrschenden Stirn. Und alles an ihr fliegt ihm, nur ihm entgegen, mag ihr Blick auch zu den fernen Bergen schweifen, wo grünlich die letzte Tageshelle verdämmert.

Sie betreten den Burghof; sie ruft ihr Gesinde zusammen. Die Mägde nehmen den unverhofften Gast in Empfang und rüsten ihm ein warmes Bad; und ein Knecht wird ausgeschickt, sein Pferd einzuholen. »Also ist es doch wahr,« – flüstert es auf allen Stiegen in der Burg – »daß er mit den Kindern zusammen das Kreuz nahm!« Und während Gerold den Staub der Wanderschaft von sich abspült, wirft Frau Adelheid ihr Trauergewand ab, hüllt ihre Glieder in schimmernden Goldbrokat und schickt ihm ein Ritterkleid, wie er es noch nie getragen hat. Und jetzt betritt er – nicht der Mann des Schicksals, sondern der Mann ihrer Wahl – ihr Wohngemach, wo das Feuer im Kamin prasselt und sie selber wartend vor dem schweren, mit Wein und Speisen bedeckten Eichentisch im Stuhl mit der hohen Rückenlehne sitzt, den Arm aufgestützt und die Wange in die Hand geschmiegt, die Stunde der Erfüllung mit der Seele vorkostend.

Sie erhebt sich und eilt ihm in Seligkeit entgegen. »Wenn du wüßtest, was ich im Herzen gelitten habe . . .« – »Wenn du wüßtest, was ich an der Welt gelitten habe . . .« Es ist das erste Wort, das er ihr gegenüber findet; und gleichzeitig trinkt er mit immer neuen Blicken ihre Schönheit in sich ein. – »Du nennst mich du? Zum erstenmal du?« lächelt sie ihm in die Augen – erfährt das holde Wunder an sich, daß jedes Weib vor dem Manne, den es liebt, wieder zum Mädchen wird.

274 »Du hast mich gelehrt, jedes Weib so zu lieben, als ob es deine Schwester wäre . . . Bist du dadurch nicht auch meine Schwester geworden?« Vor seinem Geiste steht die tote Isa mit dem roten Haar, den blauen Augen, der weißen Kehle. Und bei all der Verschiedenheit der beiden Frauen, erkennt er in der lebenden, die sich vor ihm bewegt, doch das Vorbild jenes natürlichen Adels, der ihn bei dem Kreuzfahrermädchen so sehr entzückt hatte. Und er wird sich auch klar darüber, daß seine Liebe zu ihr durch alles, was er erlebt hat, nur tiefer geworden ist, weil auf dem Hintergrund seiner Gedanken und Gefühle immer ihr Bildnis stand. »O, wenn ich dir erst erzählt haben werde –«

»Morgen!« fällt sie ihm bittend ins Wort. »Heute nichts mehr von dem, was war!« Und während draußen der Abendwind das welke Laub von den Bäumen schüttelt, setzt sie ihm die Speisen vor; und sie essen und trinken zusammen und staunen sich gegenseitig immer wieder an, über den sausenden Abgrund der Zeit hinweg das Einst mit dem Jetzt verknüpfend. »Morgen wollen wir einander das Herz ausschütten! Und dann kannst du bleiben oder gehen, wie du willst! Liebte ich dich, wenn ich dich zum einen überreden oder zum andern zwingen wollte?«

»Eher in ein Kloster, als wieder in die Welt hinaus!« murmelt er vor sich hin, indem er schon bei dem bloßen Gedanken, sie wieder verlassen zu müssen, ein innerstes Erschrecken fühlt. Dann bleibt sein Blick an ihr haften, wie sie, in ihren Sessel zurückgelehnt, mit jener Ergebenheit des Leidens vor sich hinträumt, welche die süßeste Reife des Weibes zeitigt. Und er wird sich abermals bewußt, daß ihn die Welt zum Manne stählte und daß sie die Rollen vertauscht haben: Nun soll er geben und sie empfangen! Oder nicht?

275 »Wissen wir jemals, ob wir lieben, bevor wir die wirkliche Liebe erlebt haben?« spricht sie scheu wie eine Braut, welcher Weibwerden noch Erlebnis ist, in seine Gedanken hinein. »Und du: Wärst du jemals von mir gegangen, wenn nicht die Welt dich gelockt hätte; und hättest du je gewußt, ob sie für dich taugt, ehe du sie erfahren hast? Wenn du willst, so sei hier dein Kloster! Komm, ruh dich aus von deinem Wandertag!«

Das ist wieder der weiche Arm, der sich einst um den Nacken des Jünglings legte! Sie geleitet ihn zu dem Lager aus Fellen, das in der Kaminecke steht; und er legt sich darauf nieder mit dem Gefühl tiefer Erlösung und doch wieder mit dem stillen Vorwurf, daß er immer noch von ihr nimmt, wo er es doch als eine Pflicht seiner großgewordenen Kraft und altgebliebenen Dankbarkeit empfindet, endlich auch ihr etwas zu sein. Aber es ist, als ob ihm mit dem Augenblick, wo er den Tod ihres Mannes vernahm und sich von seinem Widersacher befreit fühlte, die seit Tagen zum Zweikampf zusammengeraffte Kraft haltlos auseinanderflösse und dafür in seiner Seele, welcher nichts mehr zu wollen und zu wünschen übrig bleibt, alle draußen in der Welt empfangenen Erlebniswunden wieder aufbrächen und neu zu bluten anfingen.

Da setzt sie sich auf den Lagerrand neben ihn, den nicht mehr an der Liebe, sondern am Leben Kranken, und blickt ihn über ihre flehend gefalteten Hände hinweg aus ihren großen, braunen Augen an, die in ihrer sanften Dunkelheit nichts erkennen wollen, sondern nur noch Hingabe sind. So hat er früher vor ihr gesessen und um das Geschenk ihrer Liebe gebettelt, stürmisch, drängend, verzückt! Was aber spricht sie jetzt zu ihm? Was soll, was kann er ihr sein, der sich in all seinem Glücke plötzlich so todeswund fühlt, daß er über sich selber zu staunen beginnt?

276 »Liebster! Wenn du morgen wieder weiterziehst, so begreife ich es: ich bin nicht mehr jung; vor dir aber liegt das Leben. Doch was ist ein Weib allein? Wenn ich dir einmal etwas geben konnte, das dich glücklich machte, o so laß mich, nach so vielen schlaflosen Nächten, diese eine Nacht in deinem Arm zu Schlaf und Ruhe kommen! Laß mich noch ein einziges Mal wissen, zu wem ich gehöre . . .«

Und kindlich vertrauend legt sie ihr Haupt an sein Herz und ihre zarte Hand gläubig auf seine Brust. Und er fühlt aus ihrer anschmiegenden Hilflosigkeit das ganze Leiden ihres Lebensweges heraus und liebt sie für jeden Schmerz, den sie erst vor ihm, dann mit ihm und zuletzt um ihn erlitt: sie sind, tiefer und weiter als ihr eigenes Wollen reicht, durch eine geheime Schicksalsmacht zusammengeschmiedet, die sie nicht mehr aus ihrem Walten entlassen wird. Und während die Glut im Kamin verglimmt und die Sterne im offenen Fenster immer stärker funkeln, glaubt er sich, mit ihr zusammen einschlummernd, im heiligen Lande der Seelen angelangt, wo diejenigen, die sich einmal gefunden haben, nie mehr sich verlieren werden . . .

 


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