Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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20. Auf der Ketzerburg

Überall, wo der Graf durchgeht, um die Maßnahmen für die Verteidigung der Burg zu prüfen, empfängt ihn der ehrerbietig-stumme Gruß von Menschen, die ihrem letzten Schirm und Hort Dank sagen.

Knechten und Mägden steht ein tiefer Ernst im Gesicht geschrieben. Drüben, am jenseitigen Hügelufer des breiten Tales, hat in der Nacht eine Burg blutigrot gen Himmel gelodert! Noch jetzt, wenn man durch die Mauerlucken späht oder aus den Turmfenstern schaut, gewahrt man eine feine, weiße Rauchsäule, die sich in der blauen Luft verflüchtigt. Das Schicksal ist unterwegs.

»Ist er nicht der Antichrist?« fragt der Graf.

»Herr, er ist es.«

»Rast sie nicht wie eine Furie der Hölle?«

»Herr, sie tut es.«

»Wer wollte noch Menschen in diese Welt setzen?«

»Herr, niemand.«

96 So vergewissert er sich immer von neuem, in Hof und Stall, in Küche und Keller, daß sie alle dieselbe Abscheu vor dem Papst, dasselbe Grauen vor der Kirche, dasselbe Entsetzen vor dem Leben erfüllt. Diese Gefühle sind es, welche die Menschen, die in dieser aus felsigen Abgründen aufsteigenden Burg wohnen, im Laufe der Jahre zueinander geführt haben; und jetzt schließt die drohende Not und Todesnähe sie vollends zu einer Familie zusammen. Er weiß: Wenn das Kreuzheer, das der Herr der Christenheit aus dem Abschaum der Völker gegen Christen gebildet hat, auch diesen letzten Zufluchtsort einer freien Gesinnung berennen sollte, so werden sie sich wie die Löwen wehren und in ihren Feinden nicht minder Söhne des Teufels sehen, als diese in ihnen.

Er wandert vorbei an Kesseln voll Pech, unter denen schon das Holz aufgeschichtet liegt; an pyramidenförmig gehäuften Steinkugeln, die neben mächtig ausholenden Wurfmaschinen ihres verderbenbringenden Fluges harren; an riesigen Felsblöcken in den Mauerscharten, welche, hinabgestürzt, jedes Schutzdach des Feindes zerschmettern müssen. Im Waffensaal schleift der weißhaarige Waffenmeister, der Älteste in der Burg, die Schwerter; sein schweigsamer Geselle prüft Armbrust für Armbrust auf die Haltbarkeit ihrer Sehne; ein abseits stehender nachdenklicher Jüngling schnitzt Bolzen. Es ist eine seit Jahren in der Gewißheit vorbereitete Verteidigung, daß der ganze Haß der in Krämpfen sich windenden Menschheit sich zuletzt über denen entladen wird, die nichts anderes wollen als frei, friedlich und gütig sein.

Gleicht diese Erde nicht einer ins Weltall hinausgreifenden Faust, welche sich mit höllischer Rastlosigkeit die ehernen Nägel ins blühende Fleisch schlägt? Jetzt steht der Graf, zur 97 Mittagszeit von seinem Rundgang zurückgekehrt, vor der Türe des Speisesaales und hört drinnen die Spinnräder surren; und mehr denn je ergreift ihn die Erinnerung. Wie wäre das Dasein zu ertragen, wenn nicht im Hintergrunde all dieses Vernichtungslärmes das stille Walten und Weben des Weibes den Horizont abschlösse, welches ohne Klage seine Schmerzen auf sich nimmt und nicht nur in seinem Schoße schützend das Leben des Fleisches, sondern mit noch viel größerer Treue in seiner Seele das Erleben des Geistes hegt? Es steht am Wege des Mannes wie eine heilige Kapelle, in welche er alles das flüchten kann, was ihm teuer ist, so daß er, wo immer er das Weib schützt und schirmt, nur über dem Besten seines eigenen Ichs Wache hält . . .

Ein solches Geschöpf holdselig bewahrender Güte war sein junges Weib gewesen, das nun wie durch ein unbegreifliches Wunder zum zweiten Mal unter seinem Dache eingekehrt ist. Kaum daß er eintritt, erhebt sich Isa von ihrem Spinnrad, kommt ihm entgegen und drückt mit beiden Händen seine welke Rechte auf ihre junge Brust – o, es erinnert ihn ganz an die Bewegungen der Verstorbenen! Und sie sieht ihm über einem bleichen Lächeln aus großen, blauen Augen ins Gesicht und senkt zuletzt demütig ihre weiße Stirne mit dem roten Haar in seinen grauen Bart hinein.

»Warum dankst du mir?« forscht er leise, als ob er zu einem Kind spräche. »Weil ich dich spinnen lasse, wie es dein Wunsch war?«

Sie schüttelt verneinend den Kopf.

»Warum denn?«

»Weil du mein Vater bist.«

Die alte Schaffnerin ist hinausgegangen und trägt die Speisen auf. Und sie nehmen schräg einander gegenüber Platz und essen 98 das Vorgesetzte, wie man eine Henkersmahlzeit ißt: bald gegenseitig sich betrachtend, bald in Gedanken vor sich hin sinnend; so, wie sie es nun schon seit vierzehn Tagen tun. Sie wundern sich immer wieder: Isa, daß sie noch in diesem Leben ist; der Graf, daß sein Leben noch zu allerletzt wieder einen Inhalt bekommen hat.

Oft sinkt ihnen die erhobene Hand herab und befällt sie ein plötzliches Lauschen. Durch die Windstille der Gegenwart hindurch wittern sie den Sturm der Zukunft, der sie nicht verschonen wird; und von welchem Isa nur ahnt, der Graf aber weiß, daß er kommen muß. Und dann bleibt sein Blick auf ihrem leicht vorgeneigten Haupt ruhen, dessen rotgoldenes Haar von der Schaffnerin in der Art geordnet worden ist, wie einst sein junges Weib es trug: in zwei zierlichen Schnecken bedeckt es die Ohrmuscheln, als verschlösse sich die gerettete Seele vor allem Getöse der Welt, um nur noch ihr eigenes stilles Leben zu leben.

Der Graf begreift am besten, warum dieses Mädchen-Kind von allen wie eine Heilige verehrt wird. Sie trägt ein dunkelblaues, goldbesticktes Gewand, das zwanzig Jahre lang in dem großen dunklen Eichenschrank hing; und wo sie mit ihrem scheuen, sanften Schritt durchkommt, flüstern die Alten unter dem Gesinde: »Unsere gütige Herrin ist wieder auferstanden!« Die eine, furchtbare Erfahrung des drohenden Feuertodes hat nicht nur jede Erinnerung in Isa ausgelöscht, sondern auch, nach all den Entbehrungen der Wanderschaft, ihr ganzes Wesen zu jener Adligkeit geläutert und verfeinert, wie sie sonst nur den letzten, zartesten Sprossen eines Geschlechtes eigen zu sein pflegt.

Er erhebt sich und führt sie in das Schlafgemach, in welches 99 sie sich auf jener Seite des breiten Lagers hinlegt, wo seine Frau einst lag; und kaum daß er sie sorglich zugedeckt hat, ist sie schon eingeschlafen. Hierher hatte er sie am Morgen ihrer Ankunft selber in seinen Armen getragen; hier hatten sie beide vor Erschöpfung einen Tag und eine Nacht ohne jedes Wissen von sich selbst verbracht. Hier liegen sie seither allnächtlich wie Vater und Tochter nebeneinander, in den Augenblicken des Wachseins von einem Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit erfüllt, das sie sich nicht zu deuten wissen und eben deshalb als geheimnisvolles Glück empfinden.

Nach einem langen Blick auf ihr Antlitz, in welchem der halbgeöffnete, von Schmerz und Bitterkeit geprägte Mund den Schlummer wie einen letzten, immer wieder aufs neue gesuchten Trost in sich eintrinkt, schließt der Graf leise die Türe hinter sich und steigt nachdenklich zu seiner Turmstube empor. Sie weiß nichts mehr von ihrem früheren Leben: Täglich fragt sie ihn kindlich verwundert: »Vater, wo komme ich her?«; und er sagt ihr, daß sie einst hier in der Burg geboren wurde und erst vor kurzem von einer langen, schweren Krankheit genesen sei. Ist nicht in Wahrheit jede Geburt mit der Genesung von der Krankheit eines früheren Daseins zu vergleichen? Und alle in der Burg helfen mit, diese fromme Lüge – die vielleicht mehr als eine Lüge ist – vor ihr aufrecht zu erhalten und ihr so die Vergangenheit wie die Zukunft barmherzig zu verhüllen.

Oben in seinem einsamen Turmzimmer setzt sich der Graf an den Tisch, blättert und liest in mehreren schweren Folianten, in denen verstorbene Geschlechter ihre Weisheit niederlegten; und lächelt. Was soll ihm diese Lehre vom Bösen in der Sinnlichkeit und vom Guten im Geiste? Denn wo anders spricht sich der Geist des Menschen aus, als in seinem Antlitz, das doch 100 der Sitz der meisten Sinne ist? Seine Erfahrung, die ihn selbst unter Ketzern wieder zum Abtrünnigen macht, lautet dahin: Das Geistige kann von Menschen nur im Sinnlichen, die Seele nur im Körper erkannt und geliebt werden; diejenigen aber, die sich wirklich kennen und lieben, sehnen sich fort aus dieser Welt, in welcher alles Licht nur deshalb da zu sein scheint, um Schatten zu werfen . . .

Da geht die Türe. Isa tritt mit einem Krug Wasser in den Händen herein, schreitet langsam wie eine Schlafwandlerin an seinen Blicken vorbei auf die offene Zinne hinaus und begießt dort mit andächtiger Sorgfalt die blutroten Blumen, welche auf der Mauerbank in einigen Töpfen wachsen. Das gehört zu den Beschäftigungen, die ihr die Schaffnerin anwies und die sie jeden Abend mit einer kindlichen Gewissenhaftigkeit erfüllt, fast froh darüber, daß ihr ein fremder Wille eine Aufgabe stellt, wo sie selber keinen Willen mehr hat.

Der Graf schaut ihr zu. Hinter den rotgoldenen Haarschnecken, die ihr die Ohren verhüllen, lebt sie wie in einer Welt für sich: die gesenkten Augenwimpern, die leicht ausgezeichneten Nasenflügel, die geschlossenen vollen und doch so herben Lippen scheinen nur den klarblinkenden Wasserstrahl zu verfolgen und zu lenken; und vollends die zarte Biegung ihres vornübergeneigten schlanken Leibes ist wie der Ausdruck jener mütterlichen Liebe, die sie nicht nur den Blumenkindern bezeigt, sondern unbewußt auch für sich selber erbittet. Wahrlich: Wenn er in die vor ihm liegenden Bücher den Ertrag seines Lebens schreiben sollte, wie würde er seine Erkenntnis in Worte fassen? Er müßte von dem Wunder künden, daß zwar Menschen die Menschen zeugen, Gott der Allmächtige aber die Seelen wählt, mit denen sie begabt sein sollen . . .

101 Eine Taube fliegt auf die Mauerbrüstung; sie trägt einen goldenen Fußring. Der Graf tritt auf die Zinne hinaus: und das graublaue Tierchen flattert sofort, Isa beinahe mit dem Flügel streifend, auf seine Hand und blickt aus klug glänzenden Augen zu ihm empor. Isa steht mit ihrem leeren Wasserkrug da, schaut ihn an und fragt auf einmal mit staunender Erinnerung: »Vater, habe ich nicht auch einmal eine solche Taube gehabt?« – »Du Närrchen! Hunderte, ehe du krank wurdest! Weißt du noch, wie sie dir auf die Schulter flogen?«

Er streckt den Arm über die Brüstung hinaus. Die Taube entschwebt, von ihren Schwingen sanft getragen, in die Luft des Abgrundes: er folgt ihr zuerst mit dem Blick und schaut dann längs des Turmes hinunter in die zerklüftete Felsschlucht, welche auf dieser Seite den Fuß der Burg umgibt. Ein feines weißes Flaumfederchen, das die Taube auf seiner Hand zurückgelassen hat, bläst er mit einem leichten Hauch ebenfalls in den weiten Luftraum hinaus: nur langsam, zögernd gleitet es in die Tiefe; ein menschlicher Körper würde rascher unten anlangen . . . Hier kann man sich, wenn es einmal so weit ist, Gott in die Arme werfen!

Er setzt sich, von einem heimlichen Schwindel erfaßt, auf die innere Steinbank, neben der Türe, wo keine Blumentöpfe stehen, und schaut in die abendlich mild beleuchtete Landschaft hinaus. Isa aber, die dem Flug der Taube in den Burghof hinunter gefolgt ist und dort die Mägde mit Wäschespülen beschäftigt sieht, bedeckt sich jetzt mit der Hand die Augen, wie jemand, der in seinem Innern eine Erinnerung wachrufen will. »Vater, ist das auch nur ein Traum oder war es in einem früheren Leben, daß ich am Brunnen stand und wusch? Es muß ein Traum gewesen sein; denn ich war bei einer bösen Frau, 102 die mir das Leben bitter machte. Und dann lief ich eines Tages davon – – Aber nein, nein, ich will nicht mehr träumen! Hilf mir, daß ich nicht mehr träume . . .!«

Sie eilt wie von unsichtbaren Geistern gehetzt an seine Seite und umschlingt ihn mit beiden Armen, wie sie ihn in jener furchtbaren Nacht umschlungen hielt. Sie schmiegt sich an seine Brust, und er fühlt ihr Herz klopfen; und das seine pocht ihm vor Angst, die Erinnerung möchte ihr zurückkehren und sie wieder zum Bewußtsein dieser Welt, dieses Lebens aufwecken. Er streichelt ihr Haar und spricht ihr besänftigende Worte zu; und indem er so eine Schutzwehr der Liebe zwischen ihr und der Wirklichkeit aufrichtet, gelingt ihr an seiner Brust noch einmal die Flucht in jenen Schlaf, der das Vergessen stärkt.

Die Dämmerung sinkt; am Horizont glitzern die Sterne auf. Wie lange wird dieses späte Glück noch dauern? Wie manchmal noch wird er sein ihm als armes, verängstigtes Kind wiedergekehrtes Weib ins Schlafgemach hinuntertragen, statt zuletzt zusammen mit ihm sich – Er hört im Geiste schon das Wutgeschrei der Belagerer; das Geprassel der aufzüngelnden Flammen, von denen zuletzt auch der Turm umloht wird; die ganze Raserei der Tiefe, die alles und jeden zu sich herniederreißt –

Dann wird das Leben, das er gelebt hat – wie jetzt das Leben seiner Vorfahren – zu den irgendwo im Weltall verwebenden Träumen gehören. Und gewiß wird er dann dieses junge, süße Geschöpf, das hier an seiner Brust schlummert, seinem Weibe als ihr gemeinsames Kind in die Arme führen dürfen. Und offenbar wird sein, daß es das Kind ihrer Liebe ist in einem Sinne, den die Menschen noch für lange, vielleicht für immer nicht fassen werden . . . 103

 


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