Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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9. Die Ketzerpredigt

». . . Ja, schaut mich nur an, ihr Bürgersleut, Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, wie ich hier auf einem leeren Faß stehe! (Ist etwa der Boden, auf dem ihr steht, nicht auch hohl?) Und lacht nur über meine Lumpen, meine eingefallenen Wangen und roten Augen! (Ihr würdet auch nicht mehr an Speis und Trank und Kleider und Schuhe denken, wenn ihr wüßtet, was ich weiß!) Ihr tröstet euch mit Beichten und Beten, glaubt an Himmel und Hölle und daran, daß euch ein Pfaff den Weg dazu auftun oder verschließen kann? Wäret ihr erwacht und sähet die Wirklichkeit, der Mund würde euch zu einem einzigen, endlosen Schrei des Entsetzens offenstehen!

Gestern predigte ein Narr hier und sagte euch, das Ende der Welt rücke heran (und ihr bekamt eine Gänsehaut; und doch dachte jeder von euch, er werde es nicht mehr erleben!). Ich aber sage euch: Die Welt geht stets, in jedem Augenblicke, unter! Fühlt ihr nicht, daß ihr nichts seid als die Tropfen in einem Strome, die sich beständig gegenseitig verdrängen und weiterdrängen? Und wenn ihr im Krieg euch zu Tausenden hinschlachtet, von der Pest zu Tausenden hingeschlachtet werdet, 38 so sind das nur die – hahaha – donnernden, stäubenden Wasserfälle, wo die Vernichtung, die immer da ist, vernehmlich und sichtbar wird.

Und so wie es euch ergeht in dieser vergänglichen Zeitlichkeit, so steht und geht es mit all den Gedanken und Gefühlen, die sich durch euer Inneres dahindrängen und wälzen, wie ihr euch durch die Welt. Immer ist in der großen und in der kleinen Welt ein Tisch da, gedeckt mit Lebewesen aller Art und mit Gefühlen aller Art; und immer, immer wischt euch und alles, was ihr hofft und fürchtet, der Arm Gottes hinab in den Kehrichtkübel der Vergangenheit. Da liegt es denn, miteinander, beieinander, durcheinander! Vergessen! Kaum daß ein Gelehrter – wie ein Hund aus den Abfällen die Knochen – das Gröbste von Zeit zu Zeit hervorholt und einer erstaunten Mitwelt zum Dranriechen auftischt! Er, der uns allen als einziges Pfand dafür, daß er ist, die Sehnsucht nach Ewigkeit in die Seele gesenkt hat: er ist es auch, der uns alle – und alles, was in uns lebt – beständig vernichtet. Oder werden wir nicht früher oder später auf der Totenbahre liegen, als ausgebrannte Hülsen? He? Und wenn wir auch noch ein Weilchen leben: Werden wir nicht selber auf all das, was uns heute Kopf und Herz heiß macht, morgen kalt herablächeln?

Und ihr dort, ihr Knaben und Mädchen, die ihr mit euren Kreuzen auf der Brust nach dem heiligen Lande zieht: Ist das heilige Land, das ihr heute vor euch seht, noch dasselbe, das ihr zu Hause erträumtet? Und wird es, wenn ihr endlich seinen Boden betretet, dasselbe sein, wie ihr es heute schaut? Ihr erbleicht! Ha, ihr spürt, wie in euch selber alles Vernichtung ist, von einem Tag zum andern, von einer Stunde zur andern! Und wenn ihr euch liebend in Armen liegt, süße Jugend: Wie 39 lange wird eure Liebe dauern? Entweder ihr sterbt selbst; oder eure Liebe stirbt . . .

Brüder, Schwestern, ist dieses Leben nicht ein einziges Grauen? Andere rufen euch zur Buße auf und machen ein Geschäft aus eurer Angst. Aber so oder so: Ihr seid in der Weltmühle drin und werdet zermalmt! All eure Gefühle werden zermalmt! Ja, hebt nur drohend die Fäuste, um die Lüge zu schützen, die euch allein schützt! Ihr tut es nur, weil ihr fühlt, daß ich die Wahrheit sage! Hättet ihr die Wahrheit, was brauchtet ihr sie mit Gewalt zu bekräften (statt daß ihr euch selber in Liebe haltet, einsehend, daß ihr Verdammte seid auf dem Floße des Augenblicks, das ewig der Stromschnelle des Nichts entgegenschießt!)? Weil ihr das Brausen und Donnern der Zeitlichkeit nicht hören wollt, erfüllt es darum weniger die Welt? Rätsel und Entsetzen ist das Leben für den Scharfsichtigen und Feinhörigen. Sperrt Augen und Ohren auf, ihr elenden Menschen! Werft von euch den Ewigkeitswahn; seid gütig miteinander im Augenblick! Denn jeder Augenblick ist die Ewigkeit! Überall, und in euch selber, ist das heilige Land und ist auch Golgatha!

Was murrt ihr wider mich? Murrt wider euch, die ihr an euch selber zu Henkersknechten der Vorsehung werdet! Was aber ist die Vorsehung? Ewige Vernichtung in ewiger Nacht. Und was ist Gott? Das lichte Pünktlein in dieser Nacht. Nun wählet zwischen beiden! Wählt! Ich habe euch aufgeweckt. Schlagt mich tot, wenn ihr des Teufels seid; liebt euch, wenn Gott in euch mächtig ist! Gott ist der Unerschöpfliche. Gott ist der ewige Selbstüberwinder. Denkt darüber nach! Greift in euren Busen . . . Und laßt mich durch, daß ich weiterwandere und an einem andern Orte die Wahrheit verkünde!« 40

 


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