Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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30. Die Muschel stiftet Unheil

Rast unter hohen Bäumen, die eine kleine Waldwiese einschließen und überschatten. Immer entschiedener sind die Frühlingstage zu Sommertagen geworden und erlauben nicht mehr ein ununterbrochenes Wandern. Die größte Hitze muß jedesmal an einem geeigneten Ort, wie dieser es ist, überwartet werden.

Bruder Augustin hat sich zwischen zwei rauhen Stämmen auf den Rücken hingelegt, mit angezogenen Knien und unter 132 den Kopf geschobenen Händen, und schläft den Schlaf, den seine Jahre nach dem langen Vormittagsmarsch nötig haben. Zuweilen schnarcht er, wie wenn er sich einen Einfall seiner Träume bestätigte, zuschnappend in die Wipfel hinauf: dann aber senkt sich sein von großen weißen Stoppeln besetzter Unterkiefer wieder langsam herab; der zahnlose Mund öffnet sich, wie in einem maßlosen Erstaunen, allmählich aufs neue; und die lange Zipfelnase scheint nur noch den Augenblick abzuwarten, wo im Ablauf der vorüberziehenden Seelenbilder der nächste Schnarcher anzubringen ist. In der Nähe verstreut liegen der Wanderstab, der Hut mit den kleinen weißen Schalen und der geheimnisvolle Reisesack.

Nicht weit von dem ermüdeten Klosterbruder schlummern unter den Bäumen die kleineren Kinder, welche sich ihm angeschlossen haben, ohne doch den Anstrengungen einer langen Fußreise gewachsen zu sein, so daß sie ihm stets einen willkommenen Vorwand für allerlei Pausen und Unterbrechungen bieten. Von den älteren Knaben und Mädchen aber fühlen sich einige schon wieder frisch: sie langweilen sich nicht wenig über diese endlose Mittagsrast, hocken, kriechen und wälzen sich auf der eingewaldeten kleinen Wiese herum und finden Zeit, bald still mit ihren eigenen Wünschen sich zu unterhalten, bald in heimlicher Flüsterrede allerlei Zwiesprache zu pflegen. Und allmählich dreht sich ihre Verschwörung um den guten Augustin, dessen Schnarchen ihnen längst keinen Spaß mehr macht, und um seinen großen Reisesack, über dessen Inhalt sie ihre Mutmaßungen austauschen.

»Warum will er uns eigentlich die schöne Muschel nicht mehr zeigen?« schmollt die schwarzhaarige Antonie. Dann lächeln plötzlich ihre roten Lippen: «Gelt, Peter, dort im Sack – ?«

133 »Wenn man sie herausholt, so hat man sie!« raunt der magere Peter pfiffig und schleicht auf den Knien vorsichtig näher.

»Ich bin's dann aber nicht gewesen!« verwahrt sich die blonde Cäcilie mit dem Laubfleckennäschen. Gleichwohl kriecht sie ihm mit den andern nach, um zu sehen, ob der Fang glücken wird.

Begreiflich, wenn der gute Bruder die Muschel verborgen hält! Das kleine Mädchen, das so entsetzt aufschrie, als es in ihr das Meer belauschte, ging ihnen noch am gleichen Abend verloren; und sie selber vergaßen lange nicht den furchtbaren Schrecken, der sie bei seinem plötzlichen Schreien befallen hatte. Aber wenn auch nicht das Entsetzen, so möchten sie doch noch einmal das süße Grauen empfinden, das sich ihnen aus dem hallenden Ton der Muschel durchs Ohr in die Seele schlich und ihren heißen Herzen wie auflösende Grabeskühle wohltat . . .

Da ertönt in dem Sack, in welchen Peter eben die Hand hineingeschoben hat, ein klingelnder Ton. Bruder Augustin schnarcht heftig auf, so daß sie alle zurückprallen und sich schon, sein Erwachen gewärtigend, so stellen, als wüßten sie von nichts. Aber bald erkennen sie, daß der schlafende Bruder andauernd mit andern Dingen beschäftigt ist und immer noch regungslos liegen bleibt.

Einzig Paul mit dem dicken Kopf, der von den vieren der hinterste war, ist um keine Spanne zurückgewichen und so auf einmal der vorderste geworden. Er macht mit seiner unbeweglichen Miene ganz den Eindruck, als wolle er ihrer aller Willen ohne ein überflüssiges Wort in Tat umsetzen: und so geschieht es auch. Auf dem Bauch liegend streckt er seinen Hakenstock nach dem 134 Sack aus, erwischt ihn an den Tragriemen und zieht ihn, indem er sich selber bedächtig nach rückwärts schiebt, auf die offene Wiese hinaus, wohin ihm die andern drei wie beutelüsterne junge Tiere nachhüpfen.

Mit einem sachlichen Griff fördert Paul das scharfstechende, rötliche Ungeheuer ans Tageslicht und reicht es Cäcilie hin. »Wie das kühlt!« flüstert das Mädchen, während es sich die glatte Rosalippe der Muschel an die Wange drückt. – »Halt sie doch gleich noch an die Fußsohlen, die dich immer so brennen!« höhnt Peter, verdrossen darüber, daß ihm der Fang nicht glückte und Paul sich bei ihr einschmeicheln darf.

»Zeig sie auch mir einmal!« nimmt Antonie sie ihr etwas unwirsch weg – denn sie hatte erwartet, daß Paul sie zuerst ihr geben würde – und hält sie sich ebenfalls ans Ohr. »Rauscht sie immer noch?« Ja, sie rauscht immer noch . . .

Und die Muschel geht wieder von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr; und während eines lauscht, schauen ihm die andern in die Augen, als könnten sie ihm aus den Blicken ablesen, was es hört. Ja, was hört man nur in diesem wunderbaren Gehäuse?

»Du bist eigentlich auch so eine Muschel!« meint da Peter plötzlich zu Cäcilie, die eben das seltsame Gebilde abgesetzt und neben sich ins Gras gelegt hat.

»Wieso, du Narr?« erwidert sie empört.

»Nun, laß mich einmal an dir lauschen, so will ich dir's sagen!« Und ohne weiteres legt er ihr den Arm um den Nacken und drückt sein Ohr an ihr Ohr.

»Was hörst du denn?« Der Atem steht ihr still.

»Auch so ein seltsames Sausen und Brausen . . . Aber ich weiß nicht: ist es in mir oder ist es in dir? Und ganz anders als in der Muschel . . . – Hörst du nichts?«

135 »Laß mich erst nochmals an der Muschel lauschen, damit ich vergleichen kann!« ruft Cäcilie, sich seiner erwehrend. »– aber wo ist sie nur?«

»Verschwunden!« wirft Antonie, die mit aufgestemmten Ellenbogen auf dem Leibe liegt, spöttisch-gleichmütig hin und weidet sich an der allgemeinen Bestürzung. »Ein solches Meerwunder bleibt nie lange an einem Ort . . . Was wird wohl der gute Bruder dazu sagen?«

»Mir ist es gleich!« erklärt Cäcilie. »Ich habe sie nicht aus dem Sack genommen! . . . Gelt Paul?« Und sie läßt sich, die Arme ausbreitend, rücklings in das kurze Gras hinsinken. Süß ist die Sonne! süß der Atem der Erde! Und sich auf dem warmen Boden auszustrecken ist das Beste . . .

»Und mir ist es auch gleich!« lacht Peter, indem er sich über Cäcilie neigt und dabei von Antonie einen eifersüchtigen Blick auffängt. »Du bist nicht nur zum Dranlauschen, sondern noch mehr zum Anschauen eine Muschel . . . Hier die glatte rote Lippe, der offene dunkle Mund . . . Und stachelspitze Zähne wie du hat die Muschel auch gehabt – Uih!!!«

»So zum Beißen, nicht?«

»Mach doch keine Dummheiten! Fast hätt' ich den guten Bruder aufgeweckt! – Brauch du deinen süßen Mund lieber zu etwas Gescheiterem –«

Und bevor sie noch einmal die Zähne an seinem tupfenden Finger mißbrauchen kann, verschließt er ihr die Lippen mit seinen Lippen und beginnt, sie fest umarmend, abermals andächtig zu lauschen auf das, was in ihr und auch in ihm zu klingen anfängt . . .

»Hier ist die Muschel!« ertönt da in ihrer Nähe die tiefe, überzeugte Stimme Pauls. Und während sie nicht daran denken, ihren Kuß abzukürzen, hören sie das Wehgeschrei Antonies.

136 »Halt, halt! – Au, sie hat Stacheln! Ui, sie sticht! – Langsam, langsam!«

Und jetzt sehen Peter und Cäcilie, wie Paul seine Hand nicht weniger sachlich als vorher in Bruder Augustins Reisesack in Antoniens Busen gesteckt hat und, von ihren Fingern verzweifelt umklammert, eben im Begriffe ist, das verschwundene Meerwunder trotz allem Weh und Ach zwischen Kehle und Kleid der Diebin wieder herauszufischen . . .

»Ich habe die Muschel aus dem Sack geholt! Aber nicht für dich!« brummt er bei seiner Arbeit finster vor sich hin. »Du kannst mit deinem getreuen Peter zusammen gehen! – Sieh nur dort! Er wartet gerade auf dich!«

»Und du mit deiner getreuen Cäcilie!« giftelt Antonie beim Anblick der beiden, die sich bereits wieder lachend umfangen haben und so wenig von einander abzulassen gedenken, als die Muschel sich dem süßen Wellengrund einer jungen Mädchenbrust entreißen lassen will. Dann aber fleht sie, plötzlich verwandelt: »Aber so sei doch vernünftig! Ich will sie dir ja selber geben . . . Sieh, hier!«

Da steht wie ein verschrumpfter Erzengel, seinen Wanderstecken schwingend, Bruder Augustin über ihnen, um sie mit lauter Scheltrede aus dem vorzeitig betretenen Paradies zu vertreiben. Klatsch! fällt der Stock Peter über den Rücken, so daß er und Cäcilie, der er jede Aussicht nach oben versperrt, wie ein paar verträumte Schlänglein aufzucken; und schon saust er auch in der Richtung nieder, wo Paul und Antonie gekniet haben, mit ihrem Muschelfang beschäftigt, nun aber, von der Gefahr zu Schicksalsgenossen zusammengeschmiedet, bereits Hand in Hand durch den Wald davonfliehen, damit Peter und Cäcilie ein Beispiel dessen gebend, was ihnen allein noch frommen kann. 137 Und erst wie die beiden Paare längst in toller Flucht durch das Unterholz hindurchbrechen, fassen sie den Wortschwall des wütend hinter ihnen her rennenden Mönchs, der ihnen bisher nur in Ohren lag, mit der Seele auf . . .

»Wie? Was sehe ich? Ist der Satan auch schon unter euch gefahren? So nutzt ihr die Mittagsrast, die euch neue Kräfte geben soll für die Reise nach dem heiligen Lande? Fahrt zur Hölle, von der ihr ja schon die Einladung erhalten habt; und vergiftet mir nicht noch meine unschuldigen Kleinen, denen ich, so wahr Gott mir altem Knaben das Leben läßt, schon den rechten Weg zeigen will!«

So wettert Bruder Augustin mit zorngerötetem Antlitz durch den schwülen Busch und Tann hinter den Fliehenden drein, bis er sich plötzlich bewußt wird, daß er sowohl von dem einen wie von dem andern Pärchen jede Spur verloren hat und atemlos und schweißtriefend allein in dem dichten Walde dasteht. Und auf einmal merkt er, daß er selber nicht mehr weiß, wo er sich befindet und welche Richtung er einschlagen muß, um zu seinen lieben Kindern, die wohl immer noch friedlich schlafen, zurückzugelangen. Aber Gott sei Dank, er hat wenigstens die ihm anvertraute Herde gesäubert!

Schon will ihm über dem vergeblichen Bemühen, den Rastplatz wiederzufinden, diese Genugtuung von dem Zweifel vergällt werden, ob ihn nicht am Ende in Gestalt dieser verworfenen Jugend der Teufel selbst von seinen Schutzbefohlenen weggelockt habe, um sie desto sicherer zu verderben: da hört er in der Ferne ein leises, kindliches Weinen. Bald einmal mischt sich ihm eine zweite unglückliche Stimme bei, dann eine dritte und vierte; und zuletzt heult ein herzzerreißender Kinderchor durch den Wald, der selbst einen Tauben auf die richtige Fährte bringen 138 könnte, dem guten Bruder aber wie Engelsgesang in der Seele widerhallt. Mit seinen alten, zitterigen Armen rudert er eifrig durch das Gestrüpp den Tönen entgegen, bis er wieder zwischen den hohen Baumstämmen die kleine Wiese vor sich liegen sieht.

Die Kinder, die über seiner donnernden Strafrede erwacht waren, hocken und stehen auf ihr in einem kleinen Kreise herum und flennen und greinen in ihrer Verlassenheit, ein jedes wie es ihm sein Alter eingibt. Dabei schauen und zeigen sie auf ein Ding in ihrer Mitte, vor welchem sie wie vor etwas Unheimlichem sich fürchten, ohne doch seinem rätselhaften Banne entfliehen zu können. In dem grünen Grase liegt die stachlichte Meermuschel: mit der wellengeglätteten Rosalippe und mit dem breiten, dunkelgeöffneten Schlund . . .

 


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