Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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10. Der Aussätzige

Eine weiße Kapuze sticht aus dem grünen Laub der Waldrandbüsche. Ein Arm schwingt eine trocken schmetternde Holzklapper in die goldene Abendluft; ein anderer Arm fuchtelt ihm entgegen wie der eines Betrunkenen. Mißtöniges Gelächter bellt zwischen den Bewegungen.

»Gott der Herr hat mich beschützt!« lästert der Aussätzige in die friedliche Welt hinein. »Räuber und Mörder sind vor mir wie vor einem seiner Erzengel davongelaufen . . . Sieh, Vater im Himmel, wie sie dort durch das Dickicht brechen, als wäre der Satan hinter ihnen her!«

Er schweigt plötzlich und lauscht.

Gleich einer Antwort auf sein wild anklagendes Kreischen dringt aus dem Tale herauf der helle, reine Gesang von Kinderstimmen. Und jetzt sieht er durch die blühenden Bäume hindurch sanft wehende Fahnen und unsicher schwankende Kreuze; und unter ihnen den Zug der jungen Jerusalempilger, welche den Weg herangestiegen kommen. So hat das Gerücht, das ihnen vorausging, nicht gelogen!

Das sind die frommen Knaben und Mädchen, die Christus im Herzen und im Blut tragen; Christus, der ihn vergaß, als er die 272 Menschen erlöste. Und er betrachtet seine in gräßlicher Blässe verwesenden Hände: Wie, wenn er mit ihnen über eines dieser Kinder herfiele und ihm mit den Zähnen, die noch das einzige Harte an ihm sind, das Blut aussaugte? Warum soll er sich nicht mit Gewalt verschaffen, was ihm vorenthalten wird?

Doch was schreiten dem Zug für Männer und Weiber voraus, nebenher und hintendrein? Wollen sie vielleicht die Kinder den Kerlen in die Hände treiben, die er im Walde begegnet hat und die bereits vor ihm davongelaufen sind? Er stiert ihnen, von einem Baume gedeckt, aus seinen verquollenen Augen voll Grimm und Mißtrauen entgegen: und in seinem überschwärten Kopfe geht ihm auf einmal ein Licht auf; und sein Herz erbarmt sich der übelberatenen Jugend, die ihm bereits auf Rufweite nahegrückt ist.

Er bewegt leise seine Holzklapper. Und siehe: Die Huren und Halunken, die den Aussatz in der Seele tragen, bleiben unweit von ihm wie gebannt stehen und äugen wie nach einem Ungeheuer aus, das seine Nähe verraten hat. Da lacht er heiser auf, lugt mit seiner weißen Kapuze neben dem Stamm hervor und tritt ihnen, die Klapper schwingend, mit einem Grinsen in den Weg, das wie ein bittendes Flennen aussieht.

Als wäre plötzlich der Tod aus der Erde gewachsen, so erhebt das Gelichter ein Geschrei, streckt, sich abkehrend, die Hände in die Höhe und stiebt nach allen Richtungen auseinander. Das immer wieder aufs neue gellende Lachen des Unglücklichen ist noch nicht verstummt, so gewahrt er schon keine Fußsohle mehr von ihnen: nur die jungen Kreuzfahrer stehen vor ihm da, ein Trüpplein von etwa dreißig Kindern, welche weder die Gefahr kennen, der sie entgangen sind, noch die Gefahr, die ihnen von dem seltsamen Manne drohen könnte. Sie stellen verdutzt ihre 273 Kreuze und Fahnen auf die Erde und gleichen einer Herde Lämmer ohne Hirten.

»Warum hast du mit deiner Klapper die verscheucht, die uns den Weg zeigen wollten?« ruft eine Stimme von hinten.

Ein anderer Knabe tritt vor, besieht ihn und schlägt nach ihm in die Luft. »Du bist Pfui-der-Teufel!«

»Nicht unartig sein!« mahnt die kleine Elsbeth. »Siehst du nicht, der arme Mann ist krank!«

»Gottes Segen ist verschieden – mich hat er so gesegnet!« murmelt der Aussätzige. Dann ruft er laut: »Die ihr bei euch hattet, wollten euch ein Leides antun. Mit mir aber könnt ihr sicher über das finstere Waldjoch ziehen: und noch vor der Nacht werdet ihr drüben in der Stadt ankommen, wo wieder andere für euch sorgen werden . . . Singt jetzt euer frommes Lied! Ich gehe euch mit der Klapper voran.«

Und die größeren Knaben, die an der Spitze stehen, heben ihre Kreuze und Fahnen wieder hoch und folgen dem seltsamen Führer in den Wald hinein, wo unsichtbare, von einem neuen Leben geschwellte Bächlein plätschern. Unter den düstern Wipfeln scheint der Tag eine Stunde früher sterben zu wollen: aber sie halten sich gläubig an ihrem Sange fest; und das trockene Geräusch der Rätsche umgeistert sie in der rasch zunehmenden Dunkelheit mit seinem schützenden Zauber. Sie sehen in dem Abenteuer nur eine der vielen wunderbaren Fügungen, die ihnen noch immer weitergeholfen haben, wo sie selber keinen Rat mehr wußten.

Der Aussätzige aber hört nicht mehr die Klapper, die er wirbelt, sondern nur noch den zuversichtlichen Gesang der gläubigen Jugend in seinem Rücken. Und er denkt bei sich: »Herr, vielleicht ließest du mich räudig werden, damit ich diese guten 274 Kinder ein kleines Stück ihres Weges geleite! Herr, ich will nicht mehr murren!« Und wie sich die Stämme zu lichten anfangen und die jungen Kreuzfahrer die ummauerte und betürmte Stadt im verglühenden Abendrot vor sich liegen sehen, so daß sie nicht mehr fehlgehen können, preßt er auf einmal sein Holz an sich und verschwindet lautlos zwischen den Büschen.

Er bemerkt noch, wie in einigem Abstand von der weiterziehenden Kinderschar ein großes Mädchen aus dem Walde heraustritt, mit dem Bündelchen in der Hand scheu wie ein Reh um sich blickt und dann, ein schelmisches Lächeln in den Wangengrübchen, ihnen eilends nachbeinert. Was die für einen Nacken, für Arme, für Hüften hat! Und wie sie lachen mag, daß es auch ihr gelang, unversehrt durch den schlimmen Wald zu kommen. O, die ist gesund, gesund, gesund . . .

Von dem Bächlein an der Waldecke schaut er ihr nach, wie sie alsbald die müde dahinwankenden Kinder einholt und freundlich sich ihrer annimmt; und er wartet, bis das verdämmernde Stadttor den ganzen, gläubigen Zug in sich eingeschluckt hat. Dann starrt er wieder auf seine beiden grau überschuppten Hände, die er vor sich in die Luft hält und die ihm immer mehr wie fremde, bösartige Tiere vorkommen – »Ich werde Nicht-Ich! Ich werde einer, der ich nicht bin!« ächzt er.

Und wie von ungefähr fällt sein Blick auf das still und tief fließende Wasser zu seinen Füßen. Er sieht den grünlich-weißen Abendhimmel zu Häupten sich darin spiegeln und – eine Kapuze, aus der ihm ein fremdes, furchtbares Gesicht entgegenschaut! Er stürzt vor sich selber auf die Knie, um sich aus der Nähe zu vergewissern.

»Herr, wenn ich heute deinen unerforschlichen Willen getan habe: sollte ich einst mit diesem Leibe auferstehen müssen, so laß mich lieber auf ewig begraben und vergessen sein –«

275 Und eiterige Tränen, die sich ihm schmerzend aus den Augen hervorquälen, tropfen von seinen fahlen Wangen in die lenzjunge Flut und lassen in ihr sein elendes Abbild erzittern . . .

Dann aber setzt er sich mit seiner Rätsche an den Waldrand und schaut lange zu der eingedunkelten Stadt hinüber, die ihn nicht nur aus ihren Mauern, sondern auch aus seinem Glücke ausstieß. Das Heer der Sterne zieht erfunkelnd über die Türme herauf; tausend Lichter zeugen von dem einen, großen Lichte, das hinter der harten, finstern Schale der Welt am Jüngsten Tage die Gläubigen erwartet. Und zuletzt flüstern seine Lippen vor sich hin:

»Oder vielleicht ist das die himmlische Seligkeit, daß die einen die Wonne Gottes nachfühlen dürfen, die andern aber seine Weisheit erkennen – und ist mein Platz bei diesen . . .«

 


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