Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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2. Albrecht beschützt Gertrud

Sie haben sich unweit der Straße im Schatten eines vielästigen Kastanienbaums hingelagert und nehmen in müdem Schweigen – und immer noch wie berauscht von der Anstrengung des Wanderns und von der fremden, soviel heftigeren Sonnenglut – ihr karges Mittagsmahl ein.

»Ob wohl außer der Mutter auch noch Menschen an uns denken, die wir so allein durch die Fremde ziehen?« sinnt Gertrud zuletzt laut vor sich hin. »Wie lang ist es doch schon wieder her, seit wir an dem großen See waren und seinem Ufer folgten! – Überhaupt: Die Menschen denken viel zu wenig aneinander . . .«

»Hast du auch solchen Durst wie ich?« fragt Albrecht, indem er sich zu einem fröhlichen Lachen zwingt. Er steht auf und schaut 7 sich nach dem Wäldchen um, das in ihrem Rücken aus der Wiese emporsteigt. »Ich glaube, ich höre einen Quell rauschen . . . Wenn wir uns erst erfrischt und erholt haben, siehst du die Welt wieder ganz anders an!«

Und er geht nach dem nahen Gehölz, um für sie beide Wasser zu schöpfen. Gertrud sitzt auf einmal verlassen unter dem mächtigen Baum, in dessen Krone sich kein Blättchen regt. Warum fühlt sie sich von einer Bangigkeit umschnürt, die ihr den Atem versetzt und sie in Furcht vor etwas Unbekanntem vergehen läßt?

Da kommt ein Strolch die Straße heraufgeschlurpt und stutzt plötzlich, wie er sie mit aufgestütztem Arm halb im Grase liegen sieht.

»Hoho, Kreuzfahrerdirn, hast du dir den Tisch gedeckt?« ruft er ihr gröhlend zu. »Bei Gott, bist selber ein gedeckter Tisch –«

Sie versteht die Worte nicht und staunt nur in fassungslosem Schrecken den Unhold an, der mit frohlockender Gier im Antlitz in ein paar Sätzen sich ihr nähert.

Albrecht hat eben an dem Bächlein seine Holzflasche gefüllt, da hört er durch das Gemurmel hindurch unter gellenden Notschreien seinen Namen rufen und eilt, so rasch als ihn die Beine tragen, nach dem Lagerplatz zurück. Während er aus den dichten Büschen des Waldrandes hervorbricht, sucht und findet sein Blick Gertrud, welche, auf den Rücken hingeworfen, mit straff ausgestreckten Armen einen über ihr knieenden Mann ihrem abgedrehten Gesicht und weggekrümmten Leibe fernzuhalten sucht . . .

Und er sieht auf einmal die Welt wie durch einen roten Schleier hindurch. Im Laufen reißt er sein Schwert aus der Scheide und trifft den Landstreicher, der vor der drohenden Gefahr aufgeschnellt ist, gerade noch an der linken Schulter. Aber er kümmert sich nicht weiter um den fluchend und stöhnend 8 die Straße Hinauffliehenden, sondern denkt allein an Gertrud, welche abgewandt, mit zuckenden Gliedern daliegt und vor seiner Gegenwart aufschluchzend beide Hände in ihr glühendes Gesicht drückt.

Lange bleiben alle seine Reden und Liebkosungen ohne jede Wirkung; sie ist außer sich und kann sich nicht beruhigen. Endlich schlägt sie die tränenverschleierten Augen zu ihm auf mit einem Ausdruck, als wäre sie schuld an allem und müßte ihn um Verzeihung anflehen. Aber sie bringt nichts als immer nur die beiden Worte »Lieber Herr! Lieber Herr!« über ihre Lippen und lehnt den Kopf wie eine demütige Magd an seine Brust.

Ist dieses Mädchen noch die starke, klug überlegende Führerin, die ihm so oft mit ihrem Rate weiterhalf? Etwas Kindlich-Hilfloses, das er noch nie an ihr wahrnahm, beherrscht auf einmal ihr Wesen und zwingt ihm selber eine ganz neue Rolle auf. Wahrlich, er ist es, der sie beschützen muß! Er hat es soeben getan; und er wird es auch weiterhin tun.

Stolz darüber, daß seinem Mut und seiner Kraft ihre Rettung gelang, wischt er gemächlich die rotangefeuchtete Spitze seines Schwertes im Grase ab, stößt es in die Scheide zurück und steht in jugendlichem Selbstbewußtsein vor ihr da. Sie aber kauert noch auf der Erde und wagt nicht, den Blick zu ihm zu erheben – denn was würde in seinem Auge für eine Frage geschrieben stehen? Sie überläßt schweigend alles weitere seiner Entschließung, als wollte sie ihm dadurch andeuten, daß sie keinen andern Willen mehr als den seinen über sich anerkenne.

»Der Schrecken wäre vorüber!« lacht Albrecht übermütig vor sich hin. »Und wohl auch die ärgste Hitze . . . Mich wundert nur, ob uns so etwas auch auf den Schneebergen zugestoßen wäre, über die ich den Weg nehmen wollte! Siehst du jetzt ein, daß 9 man dem Schicksal nicht ausweichen kann? . . . Komm, laß uns weiterwandern!«

Schweigend packt Gertrud ihr Bündel zusammen; und sie schreiten wieder nebeneinander auf der Straße dahin. Sie wagt nicht mehr, Albrecht wie sonst die Hand zu geben, denn das Zutrauen in ihre Führerschaft ist erschüttert: er aber ergreift nach einer Weile selber ihre Rechte und hat dabei die Empfindung, daß nicht sie ihn führt, wie bisher, sondern er sie. Ist sie wirklich mehrere Jahre älter als er? Ihn dünkt plötzlich, sie sei um ebensoviel Jahre jünger.

Dann und wann streift ihr Haar seine Schulter, so dicht beinelt sie an seiner Seite durch den heißen Staub. Für die Schönheiten der Landschaft hat er kein Auge mehr; in seiner nächsten Nähe entschleiert sich ihm eine Landschaft von lieblicheren Vordergründen und süßeren Horizontlinien, als sie der schweifende Blick irgend sonst entdecken könnte. Er erinnert sich der Gesänge der Fahrenden, welche von den ritterlichen Helden erzählen, daß sie das Herz der Dame gewannen, indem sie sie vor einem Ungeheuer retteten; und wenn er zuweilen verstohlen auf Gertruds stumm geneigtes Haupt schaut, das unverwandt den Weg vor sich betrachtet, so wird es ihm schwer, wieder wegzublicken, und sucht er vergebens mit Sicherheit zu erraten, was für Gedanken wohl unter ihren schweren blonden Flechten hausen und warum das Rot ihrer Wangen nicht weichen will.

Stundenlang wandern sie ungestört in den sinkenden Tag hinein; die Menschen, die sie antreffen, staunen ihnen nach und reden hinter ihnen drein, aber ohne daß sie ihnen Böses androhten. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander: um so mehr halten sie ein jedes mit seinem Herzen Rücksprache, das sich auch selber dann und wann zu einer Bemerkung meldet, und sehen sie alle 10 die Fährnisse, die ihnen noch zustoßen könnten, plötzlich in einem ganz neuen Lichte. Während Albrecht allmählich wieder getrost die Blicke in die Ferne sendet, weil er sich endgültig klar darüber geworden ist, daß in diesem reifen Mädchen die Heimat an seiner Seite schreitet, pilgert Gertrud nur um so stiller, wie in einem heimlichen Bangen, neben ihm her . . . »Wir sollten nicht länger so allein bleiben, lieber Herr!« flüstert sie endlich.

Da nähern sie sich einer Weggabelung und sehen von rechts eine Schar Knaben und Mädchen mit Kreuzen und Fahnen unter frommem Gesang dahergeschritten kommen. Aber wie ganz anders wirkt ihre Erscheinung auf sie ein, als die der Scharen, mit denen zusammen sie einst die Heimat verließen! Wieviel dunkler brennen ihre umherschweifenden Blicke; und wieviel wilder lodert die Sehnsucht der Seele, die ihnen im Gesicht geschrieben steht! Während Gertrud die unverständlichen Zurufe anhört, mit denen die Vorbeiziehenden den ihnen entbotenen Gruß erwidern, drückt sie auf einmal fest und innig Albrechts Hand: sie fühlt den Augenblick herannahen, wo sie es sein wird, die ihn vor einer Gefahr bewahrt; und zwar auf eine ganz andere Weise als bisher.

Die Hintern in dem Zuge kümmern sich um den demütigen Pomp an seiner Spitze nur noch wenig; sie folgen ihm wie das wahre Gesicht hinter der Maske. Die Mädchen werfen unter unordentlichen Löckchen hervor aufmunternde Blicke auf Albrecht, als wollten sie ihm den Weg zu ihren roten Lippen zeigen; und einer der Jünglinge, dem schon ein Dirnchen am rechten Arme hängt, versucht mit dem linken im Vorbeigehen Gertrud zu häkeln. Albrecht aber versetzt ihm einen derben Stoß und zieht Gertrud zurück, bis der immer übermütiger sich gebärdende Schwanz der Prozession vorüber ist.

11 Was ist das für eine sonderbare Frömmigkeit, die diese Jugend durch die Welt treibt? Ein Hauch von seelischer Gärung und sinnlicher Begehrlichkeit bleibt mit dem Geruch ihrer heißen Glieder in der Luft zurück und berührt Albrecht und Gertrud wie etwas Fremdes, Furchterregendes. Weil sie von dem Wege, den die meisten deutschen Kinder einschlugen, abgewichen sind, haben sie schon seit langem keine Pilgerscharen mehr angetroffen und wissen sie darum auch nicht, wie sehr sich alle – auch sie selber – im Laufe der Reise verwandelt haben: sie erfahren es jetzt zum erstenmal – und bei dieser nach Blut und Geist verschieden gearteten Jungmannschaft besonders deutlich –, wieviel dunkles Verlangen der Grund ist, aus welchem die Sehnsucht nach dem Licht aufsprießt.

»Du sagtest, wir sollten nicht länger so allein bleiben!« grollt Albrecht vor sich hin, indem sie weiterwandern. »Wollen wir uns wirklich diesen da anschließen?«

»Nein!« versetzt Gertrud und blickt nach rechts, wo über den Hügeln die Sonne untergeht. Die Nacht kommt und scheucht sie alle nach der Stadt, wie die Herde nach dem Stall.

Sie folgen dem Zuge, weil sie sich nicht auf dem Felde zum Schlummer hinlegen möchten und am selben Orte wo die andern Knaben und Mädchen, wenn auch für sich allein, ein Obdach zu finden hoffen. Aber sie bleiben doch stets hinter ihnen zurück und werden sich in der sinkenden Dämmerung immer tiefer bewußt, daß sie beide etwas Besseres verbindet als diese abenteuernde Jugend: Weder das eine noch das andere denkt mehr daran, die Blicke ins Weite schweifen zu lassen, sondern verlangt im Herzen nur noch, daß sie bei jedem Wimpernaufschlag von dem getreuen Reisegefährten mit einem freundlichen Gegenblick abgefangen werden. Wenn sie das besondere Gefühl, das sie 12 erfüllt, in Worte fassen wollten, so müßten sie sagen, daß sie zwar nach dem heiligen Grabe sich aufmachten, nun aber je länger je mehr einer heiligen Geburtsstätte entgegenwandern . . .

 


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