Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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24. In der Kathedrale

Sie fliehen, von Entsetzen und Empörung erschüttert, in zersprengten Gruppen durch den Abend, durch die Nacht.

Das Gewitter hat ausgetobt; nur noch ein sanfter Regen sprüht herab. Aber nach einem kurzen Zwischenspiel des Mondscheins werden am Himmel wieder die Wolken allmächtig und ist die Welt aufs neue eine einzige, weder von Blitzen noch von Sternenlicht erleuchtete Finsternis: sie tappen in ihr dahin wie in einer Gruft, bei jedem Schritt darauf gefaßt, in einen noch tieferen Abgrund zu versinken. Erst allmählich verebbt ihr keuchender Atem und können ihre Gedanken durch das Brausen des Blutes hindurch sich einige Geltung verschaffen.

Sie wissen nicht mehr, wo sie sind; und oft nicht einmal, wer sie sind. Wie gerade der Zufall es ergab, hatten sie einander bei den Händen errafft; waren sie – so eng aneinandergeschmiegt, daß nicht nur ihre Schultern, sondern oft auch ihre erhitzten Wangen sich berührten – stundenlang vorwärts gestürmt: bis zuletzt ihre marschgewohnten Schenkel wieder in Schritt verfielen und mit stumpfer Ergebung die Qual ihrer Herzen weitertrugen. Ihre wie im Fieber klappernden Zähne hatten umsonst Worte zu formen versucht, die ihr innerstes Grauen zum Himmel schrien; und auch jetzt gelten ihre stieren Blicke weniger einer Zuflucht für ihre Leiber, als einem Ausweg ihrer Seelen aus dieser schreckenschwangern Welt.

Stephan und Ellenor gehören zu denen, die sich in der allgemeinen Verwirrung, nachdem die Ketzerjagd mit Verfolgten 124 und Verfolgern durch ihre friedlich im Wald rastende Schar hindurchgebrochen war, nicht von der Seite verloren, sondern entschlossen zusammenhielten. Ellenor hatte Eustachius allein, ohne Alix, unweit von ihnen in sinnloser Hast durch das Unterholz davonrennen sehen; und bei seinem Anblick war sie sich mit jähem Schmerze bewußt geworden, daß er ihr wohl nie mehr in diesem Leben zurückkehren werde: so ergriff sie denn, in der krampfhaften Suche nach einem Halt, die Hand Stephans, der gerade neben ihr stand, und begann zusammen mit ihm ihre Flucht – und nun wandert sie noch immer neben ihm dahin inmitten einiger anderer Knaben und Mädchen, die sie nicht kennen, aus der nach einigen Irrfahrten neuerdings erreichten Straße. Zum erstenmal sind ihnen die entsetzlichen Taten dieses gegen Christen geführten Kreuzzuges in unleugbarer, fürchterlicher Wirklichkeit vor Augen getreten; aber indem sie sich einreden, daß es sich nur um ein zufälliges Zusammentreffen gehandelt habe und daß ihre Reise alsbald wieder, wie bisher, ohne größere Schwierigkeiten werde von statten gehen, kehrt ihnen auf ihrem nicht weiter gestörten Nachtmarsch allmählich das Vertrauen in ihre Lage und in die nächste Zukunft zurück.

Da steht unter dem wolkenverhangenen Himmel plötzlich ein ungeheures, schmal zu einem einzigen Spitzbogen sich aufschwingendes Stadttor, wie der Eingang zu einem Bezirk des Grauens. Aber es fällt ihnen in ihrer Müdigkeit nicht auf, daß die schweren Torflügel trotz der späten Nachtstunde weit offen gähnen: kaum haben sie in dem schwachen Dämmer die hochragenden Umrisse wahrgenommen, so dringen sie auch schon in die pechschwarze Höhlung hinein, wieder nicht mehr ihren Blicken, sondern lediglich ihren Füßen sich anvertrauend. Noch ist ihr Glaube an die Menschen nicht dermaßen erstorben, 125 daß sie nicht nach den Todesschrecken auf dem offenen Lande in dieser Stadt christlichere Sitten und ein gerne gewährtes Obdach anzutreffen hofften.

Wie sie sich mitten in dem völlig lichtlosen Durchgang befinden, stolpert Ellenor über etwas Weiches und reißt Stephan, an dem sie sich festhält, beinahe zu Boden. »Hier hat gewiß jemand einen Sack vom Wagen fallen lassen!« redet Stephan, wendet sich zurück uns ruft den unsichtbar hinter ihm Folgenden »Obacht!« zu. Dann schreiten sie, doppelt behutsam mit Hand und Fuß voraustastend, in dem finster-feuchten Gange langsamer vorwärts, bis sich der Torweg zu einer Gasse auseinanderweitet, worauf alsbald, aus Schwarz und Grau geformt, ein von Palästen umschlossener Platz sich vor ihnen auftut, über welchem eine gewaltige Kathedrale in die Wolken steigt.

Sie bleiben einen Augenblick stehen und halten lauschend den Atem an. »Es ist schon alles zur Ruhe gegangen!« flüstert Ellenor. »Übernachten wir hier in der Kirche!« Und sie steigen die breiten, flachen Stufen der Freitreppe hinan, auf denen der Regen, der seit kurzem wieder kräftiger eingesetzt hat, plätschernd aufspritzt und sie mit einem heimlichen boshaften Kichern empfängt.

Sie sind schon in der Nähe des Portals angelangt, da stößt auch Stephan mit dem Fuß an etwas am Boden Liegendes an. Ein Bettler? Und der Gedanke schießt ihm durch den müden Kopf: Wie kann man nur bei solchem Regen im Freien übernachten! Aber er sucht alsbald nach keiner Erklärung mehr für diese sonderbare Tatsache, sondern mit letzten Kräften nur noch nach dem Eingang in den Dom. Steht das Hans Gottes nicht Tag und Nacht den Gläubigen offen?

Das Hauptportal ist wie immer geschlossen. Sie schieben 126 sich an den Säulenbündeln und Statuen entlang seitwärts und geraten zuletzt, um eine Ecke herum, in eine warme, finstere Leere hinein. Da sie den Regen auf einmal in ihrem Rücken rauschen hören und nicht mehr auf Kopf und Schultern aufschlagen fühlen, nehmen sie an, daß sie durch ein Nebenpförtchen in das Dominnere eingetreten sind; und der Weihrauchgeruch, welcher ihnen, wenn auch eigentümlich schwül und klebrig süß, fast zum Erbrechen reizend, entgegenwallt, bestärkt sie in dieser Vermutung. Wie sie aber, im Vertrauen auf die ebenen Steinfliesen unter ihren Füßen, wieder sicherer vorwärtsschreiten, um in irgendeiner Nische sich zum endlichen Schlummer niederzulegen, gleitet Ellenor auf einer nassen Stelle aus und kann von Stephan nur mit Mühe vor dem Hinfallen bewahrt werden.

»Es ist doch nicht möglich, daß es durch das Dach geregnet hat!« murmelt er vor sich hin. Doch schon beim nächsten Schritt verfängt sich auch sein Fuß: er fällt, zusammen mit Ellenor, auf ein weiches Polster und hört etwas wie Kleider rascheln. Warum haben sie hier so viel Meßgewänder auf einen Haufen zusammengetragen? denkt er bei sich selbst – Dann nimmt seine Erschöpfung derart überhand, daß er alle Kraft zu weiterem Überlegen verliert und unfähig bleibt, auch nur noch das kleinste Glied zu bewegen. Er weiß nicht mehr, rührt ein tiefer Seufzer der Erlösung von ihm oder von Ellenor her, die ganz in seiner Nähe liegen muß; er taucht mit erblindetem Geiste in Schlaf und Starrheit unter.

Aber er schläft nicht gut. Seine Seele wälzt alle die erlebten Furchtbarkeiten immer wieder aufs neue vor sich her und versucht umsonst, durch eine lastende Decke von Angstgefühlen ins klare Licht des Selbstbewußtseins emporzustoßen: ihm ist, als rieche er, darin erstickend, seinen eigenen Blutdunst, welcher ihm 127 wie ein roter Nebel über dem geistigen Auge lagert; und bisweilen, wenn er sich zu einem halben Wachsein durchgerungen hat, meint er, ein Röcheln und Stöhnen zu hören, das wie das Rauschen eines dunklen Baches ineinander und durcheinander klingt. Und einmal glaubt er sogar, Ellenors Hand suchend über sich hintasten zu fühlen, und greift ihr vergebens mit seiner Hand entgegen, um wie am Tage im süßen Druck ihrer Finger die tröstliche Gewißheit ihrer Zusammengehörigkeit zu empfinden.

Erst nachdem er, schon halb erwacht, den Pfühl, auf dem er liegt, immer und immer wieder durchwühlt hat, findet er endlich ihre Hand; spürt jedoch einen Ring an ihr, den er bisher noch nie bemerkte, und wundert sich darüber, daß sie so kalt und steif ist. Und so sehr er sie auch, während er mit geschlossenen Lidern in seiner Erschöpfung daliegt, immer wieder heimlich fragend preßt, sie gibt ihm nicht mit der geringsten federnden Regung jene Antwort, die sie ihm sonst noch nie schuldig blieb. Ellenor, wo sind wir? Wo haben wir uns gestern zur Ruhe niedergelegt? Hilf mir erwachen –

Plötzlich schaut Stephan aus weitgeöffneten Augen mit langem, zweifelndem Staunen in ein hohes, steingraues Gewölbe empor; und indem er mit rascher Bewegung den Kopf auf die Seite wendet, gewahrt er die Blendung des frühen Tageslichtes, das durch das offene Nebenpförtchen in einem weißen Scheinkegel in das Innere der Kathedrale eindringt. Er richtet sich jäh auf: eine große Blutlache glänzt dunkelrot geronnen neben ihm; und er erkennt, daß er die starren Finger eines toten Weibes, auf dessen Brust er schlummerte, in der Hand gehalten hat. Und indem er vollends auf die Füße springt und sich umwendet, sieht er vor sich, zu mehreren Gipfeln 128 ansteigend, ein ganzes Gebirge von übereinandergeworfenen Männer- und Frauenkörpern.

Überall, durch die ganze Kirche hin, türmen sich diese Leichenhaufen, in welchen beseelte Wesen zu einer fühllosen Sache geworden sind gleich den blutüberflossenen Steinplatten, auf denen sie liegen; und den stickigen Dunst, welcher ihn selbst im Schlafe mit seiner widerlichen Süße gequält hatte, begreift er nun auf einmal als den Geruch des in Strömen vergossenen Ketzerblutes. Hier hinein hatten sie sich in ihrer Not geflüchtet; hier waren sie nacheinander, in gräßlichem Massenmord, wie Tiere abgeschlachtet worden: die einen nach verzweifelter Gegenwehr, denn da und dort hält ein Toter noch das blutbefleckte Schwert in der Hand; die andern in jener stumpfen Ergebung, welche die Seele lange schon welk macht, bevor das Haupt sterbend auf die Schulter fällt. Und rings aus der Höhe glühen in der neuen Sonne die roten, blauen, grünen Farben der schmalsteilen Glasfenster und vollen, runden Rosetten herab, als hätte eine satanische Kunst die tausendfachen Todesschreie in sie verwandelt, damit sie nicht das geschändete Gotteshaus durchdringen und vor dem Schöpfer furchtbare Klage über die Schöpfung führen.

Ein eisiges Grauen hält Stephan umkrallt; er steht da, ringt nach Atem und wehrt sich gegen die Vernichtung, die er wie ein tödliches Gift in alle Haarwurzeln, in Adern und Knochen, in die innerste Lebenskammer sich einschleichen fühlt. Da bleibt sein allmählich umherschweifender Blick unvermutet an Ellenor haften – sie liegt, nur wenig von ihm entfernt, am Rande des Leichenhügels, aus welchem, durch ein Gewirr von bunten Gewändern, Armen und Beinen hindurch, da und dort fahle, schmerzverzerrte Gesichter mit glanzlos glasigen Augen und 129 bleckenden Zähnen hervorschauen! Der Schoß eines toten Mädchens ist das Kissen, auf dem sie, halb zur Seite gewendet, einen tiefen Genesungsschlaf schlürft: auf ihrem Antlitz allein pulst noch rot das Blut, das rings um sie her aus den verstümmelten menschlichen Gefäßen ausgeflossen ist und der letzten Blässe Platz gemacht hat; und einzig ihr Busen unter all den vielen, die durch die Kirche hin zu einer ekelhaften Fleischmasse zusammengepreßt sind, zeigt sich noch von dem leisen, süßen Hauche des Lebens bewegt.

Stephan steht und staunt. Wie hat er nur in ihr jene wilde Glut der Sinne fürchten und seine Seele Alix zuwenden können? Wahrlich: Deutlicher als jemals erkennt er jetzt, wo sie auf diesen toten Leibern wie auf einem Bett ausgetobter Leidenschaften ruht, wieviel himmlisches Licht ihr Antlitz verklärt und ihrer reifen Jungfräulichkeit die Lieblichkeit und Güte des Kindes erhalten hat! Und er bemerkt auf einmal, daß ihr goldenes Gelock noch mehr als im Scheine des einfallenden Tages in seinem eigenen lebendigen Glanze leuchtet, während bei den Toten um sie herum die Farbe der Haare matt und erloschen ist gleich dem Gefieder verendeter Vögel.

Ein brüderliches Erbarmen zwingt ihn zu ihr nieder: im Schlafe will er sie hinaustragen, um ihr den Anblick dieses Jammers zu ersparen. Aber noch hat er mit ihr, die in seinen Armen langsam die Augen öffnet, nicht das offene Seitenpförtchen durchschritten, so gellen in ihrer Nähe Schreie: zwei Knaben von ihrer Schar, die in der Nacht gleich ihnen diese Unterkunft gefunden hatten, sind ebenfalls aufgewacht, haben umherschauend das wahre Wesen der vermeintlichen Gottesherberge erkannt und fliehen entsetzt die unfaßbaren Schrecken des Ortes. Da hat auch Ellenor in einem einzigen Rückblick die 130 kirchliche Zufluchtsstätte als ein Schlachthaus begriffen, gleitet Stephan mit einem Ruck von der Brust und steht wie angewurzelt da.

Was aber hallt jetzt vom Hochaltar für ein schauriger Ruf? Ins Bewußtsein zurückgezerrt von den Schreckensschreien der beiden Knaben, richtet sich aus dem Leichengewirre ein noch lebender Greis in wirrweißem Barte auf und kommt, mit den Arm winkend, über die Totenhügel hinweg ihnen entgegengekrochen. Es ist, als ob er aus der jenseitigen Welt zurückkehrte, um dieser, die in den blutigen Greueln ihrer eigenen Sündhaftigkeit ertrunken daliegt, den Tag des jüngsten Gerichts anzusagen: sein Haupthaar ist gesträubt; seine Augen glühen unter buschigen Brauen im Wundfieber; und gehindert von den Krusten geronnenen Blutes, das einer klaffenden Stirnwunde entströmte, bewegen sich seine Lippen weiter, ohne doch nach dem Schrei der Verzweiflung menschliche Worte zu finden.

Sie denken nicht daran, daß sie ihm Hilfe bringen könnten. Sie halten sich einen Augenblick lang umklammert, ihrerseits von der Furcht umschnürt, die Endwehen der Welt möchten gekommen sein und sämtliche Toten, diese letztgestorbenen zuerst, mit ihrer Auferstehung beginnen: dann eilen sie, von einem unwiderstehlichen Grauen gejagt, miteinander aus der Kathedrale auf die Freitreppe hinaus, auf deren obersten Stufen der vermutete Bettler, ein Erschlagener, liegt. Auch der große Platz vor der Kirche ist, wie sie jetzt erkennen, mit Leichen übersät; und in den Fenstern und auf den Balkonen der Paläste, welche in dem harten, klaren Morgenlicht wie die Denksteine eines ungeheuren Friedhofes auf sie herniederblicken, entdecken sie ebenfalls heraus- und herabhangende 131 Körper: das einzig Lebendige sind, außer ihnen selber, ein paar Angehörige ihres Kreuzfahrerheeres, welche, zu gleicher Zeit wie sie versprengt, irgendwo in einem Winkel der Stadt den Rest der Nacht verbracht hatten und sich nun, wo sie allmählich hier auf dem Platz zusammentreffen, aus verstörten Mienen gegenseitig ihr wortloses Entsetzen widerspiegeln.

Plötzlich schreien sie alle miteinander auf, so laut sie nur können, und stürmen – getrieben von dem Lebensfunken, der sich in ihnen zur Wehr setzt – in einem Taumel des Wahnsinns durch den Torgang hindurch, auf das neugrünende Feld hinaus und in der grenzenlosen Landschaft so lange vor sich hin, bis sie, atemlos und von krampfhaftem Weinen erschüttert, einer hier, der andere dort niederfallen und Gesicht und Hände in diese unbegreifliche Erde hinein vergraben . . .

 


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