Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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32. Die kleine Regula

Feuchte Föhnluft umspült lauwarm die Hügel und lockert die blaugrau darüber hinrollenden Wolken, so daß da und dort Bündel silbernen Sonnenlichtes durchbrechen und den düstern, unruhigen Tag immer wieder verlängern.

»Siehst du, Großmutter, wie grün die Wiesen sind? – Und wie finsterschwarz die Wälder? – Und dort, weit weg, wie weiß die Schneeberge?«

»Ich sehe es nicht mehr, Kind . . . Ich habe es früher gesehen . . . Aber ich glaube dir, daß es schön ist . . .«

Da tönt frommer, brünstiger Gesang von dem nahen Flusse her, dessen Rauschen wie eine heimliche Gärung in der Landschaft widerklingt und von dem Geraune des Föhns dann und wann heimliche Antwort zu erhalten scheint. Was bedeutet das?

»Regula, liebe kleine Regula, sind das nicht die Knaben und Mädchen, welche nach Jerusalem ziehen?«

Wie horcht die kleine Regula auf! Davon hat sie noch nie etwas gehört. Sie schaut von der Laube herab nach dem Acker, wo der Vater das Feld ansät und die Mutter mit dem jüngsten Kind ihm eben das Vesperbrot bringt; und ihr neugieriges achtjähriges Mündchen steht doppelt offen, weil ihr die beiden obern Schneidezähne ausgefallen sind. Sie wundert sich, daß die Eltern auch nicht einen einzigen Blick diesen Knaben und 357 Mädchen gönnen, welche mit Kreuzen und Fahnen auf dem Sträßchen den strömenden Wellen des Flusses entgegenwandern, dorthin, wo die weißen Berge leuchten.

»Gelt, Großmutter, in Jerusalem ist unser Herr Jesus Christus gestorben? – Warum ziehen sie denn nach Jerusalem?«

Die blinde Großmutter lauscht auf den Gesang, welcher über den jungen Häuptern eine unsichtbare Kirche wölbt, in die auch ihr Glaube mit eintritt. Oder ist, was sie jetzt noch zu hören vermeint, nicht bloß das fromme Echo in ihrer Seele, wo doch ihr leibliches nur die stärksten der Töne vernahm? Schon sind sie vorbeimarschiert; und das Lied klingt schwächer und schwächer.

»Sie werden wohl Christus bitten, daß er sie gute Menschen werden läßt . . . Und vielleicht beten sie auch, daß es denen, die sie zurückgelassen haben, gut geht . . . Daß die Bösen besser und die Kranken wieder gesund werden . . .«

Lange schaut Regula den Davonziehenden nach; und sie merkt sich genau Weg und Richtung. Warum sollte es ihr nicht auch möglich sein, nach Jerusalem zu wandern? Hat ihr die Mutter nicht schon oft gesagt, daß sie einen besondern Schutzengel habe?

»Großmutter, glaubst du, wenn eines dieser Kinder für dich beten würde, daß du des Nachts wieder besser schnaufen könntest?«

»Ja, das glaube ich wohl. Aber wer denkt von ihnen an eine arme, alte Frau? . . . Und dann – ich hab's ja nicht lange mehr nötig . . .«

Regula fühlt nicht, wie die harte, knöcherne Hand der Großmutter ihr zitternd über die Haare und das kleine Zopfschwänzchen streicht; und wie zuletzt der müde Arm auf ihren jungen Schultern liegen bleibt. Sie lauscht noch angestrengt auf den 358 Gesang, welcher, ob auch schon längst als zusammenhängende Melodie verstummt, in einzelnen Tonfolgen immer wieder von den weich fächelnden Winde dahergetragen wird. Und sie denkt darüber nach, wie ihrer schwachen Kraft die große Tat gelingen könnte.

»Großmutter – hast du nicht einmal gesagt, daß du, so oft du das Kreuz an deiner Brust in die Hand nahmst, den rechten Weg fandest?«

»Ja, Kind, das ist wahr. Und hoffentlich wirst auch du später im Leben den rechten Weg finden.«

Jetzt hallt aus der Ferne das Vesperglöcklein, dessen Klänge für Regula immer etwas Wehmütiges, Süßes haben. Die Großmutter faltet die Hände und murmelt ein Gebet vor sich hin, indem sie an den Mann denkt, der ihr einst vor seinem Tode das kleine goldene Kreuzlein schenkte; und auch Regula faltet die Hände und schaut aufmerksam in die fast erloschenen Augen der Großmutter, bis die Töne verklungen sind. Vielleicht – vielleicht, daß sie dann auch wieder sehen würde!

»Großmutter, hast du mir nicht versprochen, daß später ich dein Kreuz tragen soll?«

»Ja, Kind, das habe ich dir versprochen.«

»Willst du mir's nicht einmal umhängen, damit ich sehen kann, wie es mir steht?«

Wie doch so ein kleines Mädchen zu schmeicheln weiß! Warum soll sie ihm diese Freude nicht machen? Es wird ohnehin nicht mehr lange dauern, so ist es bei seiner Jugend besser aufgehoben als bei ihrem Alter.

Sie greift in ihren welken Busen hinab; und Regula sieht, wie sie das goldene Kreuz heraufholt und es sich mitsamt der Kette, an der es befestigt ist, über den Kopf abstreift. Sie hält 359 mit leuchtenden Augen ihr dünnes Hälschen hin und möchte aufjauchzen vor Freude, wie sie jetzt auf ihrer Haut wie ein Schlänglein das noch warme Metall der Kette fühlt. Und jetzt faßt sie mit beiden Händchen nach dem Kreuz, das ihr den rechten Weg zeigen wird . . .

»Gefällt es dir?«

»O so schön ist es . . . Aber, Großmutter, willst du jetzt nicht etwas schlafen? Du siehst so müde aus.«

»Ja, schlafen, Kind . . . Du meinst es gut mit mir! – Am liebsten für immer . . .«

Und die Greisin lehnt sich in die Nacht ihrer Blindheit zurück und verfällt wieder in jenen Halbschlummer, in welchem ihr schon seit langem die Tage hingehen.

Was barfüßelt die Stiege herunter und schleicht sich geduckt den Büschen nach? Wer beinelt durch die rasch sinkende Dämmerung, ängstlich zurückschauend, ob Vater und Mutter, die eben vom Felde heimkehren, die Flucht nicht bemerken? Wo will ein gläubiges Kinderherz hin in der weiten, dunklen Welt?

Kleine Regula! Arme Regula!

 


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