Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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5. Im Hoffnungsrausch

»Mutter! Mutter! – Gott, mir ist der Atem ganz versetzt! – Erschrick nicht, Mutter! Du wirst wieder gesund werden und nicht mehr im Bett liegen müssen. Wenn wir erst das Grab des Heilands den Ungläubigen entrissen haben, so gibt es keine Krankheit und keinen Jammer mehr auf Erden . . . Was schaust du mich nur so erschrocken an? – So höre denn: Heute morgen sind drei Hirtenknaben durch das Dorf gezogen und haben uns alle – auch uns Mädchen – aufgerufen zu einem Zuge nach dem heiligen Land! – Einem von ihnen, den sie Stephan nennen, ist gestern Abend, als er auf der Weide die Schafe hütete, Christus erschienen und hat ihm einen wunderkräftigen Brief gegeben, daß alle Mächtigen der Erde uns durch ihr Gebiet durchlassen müssen; und daß selbst das Meer vor uns zurückweichen wird, damit wir trockenen Fußes nach Jerusalem pilgern können . . . Du staunst und machst ein ungläubiges Gesicht? Ich habe die Knaben nicht mehr selbst gesehen; aber die Salome hat sie gesehen und hat mir alles erzählt. Wie ihnen plötzlich in der Nacht der Stern geleuchtet habe, der schon die heiligen drei Könige zur Krippe des Jesuskindes führte; wie sie die Stimmen der Engel gehört hätten, die ihnen mit silbernen Flügeln bis in den Morgen hinein folgten; und wie man 19 ihnen das selige Erlebnis noch an den Gesichtern ablesen konnte . . . – Verzeih, Mutter: ich will erst im Dorf herum und es den andern Mädchen sagen! Dann komme ich zurück und mache dir schnell das Bett – und dann geht's nach Jerusalem! Und wenn ich wieder heimkehre, so stehst du unter der Haustüre und bist gesund und lachst; und ich bin's, die dich gesund gemacht hat! O, wie wird das dann herrlich sein! . . . Aber du freust dich ja gar nicht! Warum schaust du mich nur immer so angstvoll an? Du glaubst nicht, daß es dieses Wunder geben kann, wie es schon so viele andere gegeben hat? Ist denn nicht dieses ganze Jahr ein Wunder? Monatelang hat's gefroren, daß jetzt noch ein Eisklumpen im Teiche schwimmt: aber seit vierzehn Tagen ist ein Frühling gekommen, wie noch keiner dagewesen ist. Alle Vögel jubilieren; das Vieh hüpft und weidet wieder. Und die Sonne scheint einem so warm in den Nacken, daß man ganz närrisch wird davon . . . Man sieht's, denkst du? – Wie, und nun weinst du gar noch? Nein, nein, nein, nicht weinen! – Wie könnte ich da auf die Wallfahrt gehen und dich gesund machen? Oder glaubst du wirklich nicht, daß ich es kann? Hast du denn den Stern nicht gesehen? Du liegst ja so oft wach des Nachts. Aber vielleicht stand er auf der andern Seite –«

Dem schwärmenden Menschenkind versagt jedes weitere Wort. Wie ein Sonnenstrahl durch die Wolken dringt, so tritt plötzlich in dem von Angst und Zweifeln verdunkelten Gesicht der kranken Frau ein verklärender Abglanz innerster Zuversicht hervor. Und jetzt schlägt sie die Decken zurück, stellt die schwachen Schenkel auf den Boden und trippelt, wo sie doch seit Jahren das Lager nicht mehr verlassen hat, mit demütig dem Willen gehorchenden Gliedern nach der Türe, als zöge sie ein Strom von Kraft, der draußen vorüberflutete, noch nachträglich in seine lebendige Spur herein.

20 Stehe auf und wandle! . . . »Mutter! Mutter!« jauchzt das zuschauende Mädchen wie außer sich. »Du bist ja schon gesund!« Und der mit vorgestreckten Händen, mehr schwebend als schreitend sich vorwärts bewegenden Frau kann es gerade noch ein Tuch überwerfen, um ihre Blöße zu decken und sie vor Erkältung zu schützen.

Und schon stehen sie auf der Dorfstraße, wo die so unverhofft Genesene die warme Sonne und die weiche Frühlingsluft wie einen Segen Gottes empfindet. Und wer des Weges kommt und sie erkennt, der schlägt die Hände über dem Kopf zusammen; und alles steht still und schaut ihr nach, wie sie von ihrer Tochter mehr begleitet als geführt wird. »Es geschehen Zeichen und Wunder! Die alte Marthe ist von ihrem Siechbett auferstanden.«

Die Frau in ihrer Begnadung aber nickt allen, die ihnen begegnen, mit einem seligen Lächeln in die offenen Augen und Mäuler hinein. »Bring mich dorthin, wo der fromme Knabe durchgegangen ist!« flüstert sie geheimnisvoll der Tochter zu, als wollte sie einem himmlischen Freier entgegengehen; die Tochter aber, die es nicht weiß, fängt an, die Leute zu fragen. Und ein Wort gibt das andere; und immer mehr erstaunte und ergriffene Menschen gesellen sich ihnen bei: so daß es zuletzt ist, wie wenn die Blinden im Glauben von ihr, der wiedererstarkten Lahmen, dem Ziele der endgültigen Erleuchtung entgegengeführt werden sollten.

»Wo kann er auch anders durchgegangen sein, als hier durch die Dorfstraße!«

»Nein, nein! Die drei Knaben kamen dort vom Walde her über die Wiesen und ließen sich nur bei den äußersten Häusern etwas Speise und Trank geben. Dann zogen sie wieder weiter.«

21 »Seht doch! Seht doch! Dort stehen ja noch die Leute beisammen und erzählen sich, wie sich alles zugetragen hat –«

In der Tat hat sich vor dem Dorfe eine Schar Männer und Weiber zusammengerottet; und jeder Neuhinzustrebende bekommt die alte Geschichte zu hören: wie um des einen Knaben Haupt ein heiliges Leuchten zu sehen gewesen sei. Und dann schauen alle miteinander wieder die Landstraße hinauf, welche sich mit winterlich tiefen Kotgeleisen, die jetzt in der Märzensonne zu Staub zerbröckeln, über die nächste Anhöhe hinwegschwingt und aller Sehnsucht zum Sprungbrett dient. Aber dort, wo die jungen Kreuzprediger verschwunden sein sollen, tritt nur dann und wann aus dem blauen Himmel ein Bauer hervor, der seine Kuh oder sein Rind zu Markte treibt.

»Hier, sagt ihr, hat der fromme Knabe gestanden?« fragt glücklich die alte Marthe. Und sie kniet nieder und küßt den Boden; und dann erhebt sie sich wieder und lächelt unter der süßen, warmen Sonne in aller Augen hinein einen holden Schwesterngruß der Seele. Und wer von denen, die sie staunend betrachten, wollte nicht dieser eines so großen Wunders gewürdigten Kranken Bruder oder Schwester in Christo sein?

»Das ist die Kraft des heiligen Grabes! – Dieser Knabe, glaubt es, wird Jerusalem befreien! – Die Kranken stehen wieder auf wie zu der Zeit, da unser Herr auf Erden wandelte!«

Und schon sieht sich die alte Frau umringt, auf einen rasch herbeigeschafften Stuhl gesetzt und von kräftigen Fäusten hochgehoben. Das Volk jauchzt laut in den Frühlingstag hinein; und wie eine Königin tragen sie die Gebrechliche, Schwankende, die von allen Seiten gestützt werden muß und nach allen Seiten hin freundliche Dankesblicke versendet, zu ihrer Hütte zurück. Und die Bauern, die immer zahlreicher mit ihrem Vieh dem 22 Dorfplatz zustreben, schauen erstaunt die unvermutete Festlichkeit, lassen sich nachher zwischen Markten und Feilschen die Geschichte von dem wundertätigen Hirtenknaben erzählen, welcher die sündige Welt aufwecken will, und tragen am Abend die Neuigkeit, zusammen mit den harten Talern in der Tasche, nach allen Himmelsrichtungen in ihre Weiler hinaus.

Im Dorf aber wird bis spät in der Nacht das Haus der alten Marthe besucht. Die Genesene liegt friedlich und glücklich auf ihrem Lager und spricht kein Wort; und immer mehr leuchtet eine solche Verklärtheit über ihr, daß die letzten Neugierigen, fast beschämt, schon unter der Türe wieder umkehren. Wie sie in gesunden Tagen einst jeden Abend ihre Kleider ordentlich ablegte, so ist es, als habe sie jetzt auch ihre alten, müden Glieder in eine fromm ergebene Stellung zurechtgelegt.

Am andern Morgen findet die Tochter sie noch so, wie sie sie in der Nacht hat einschlafen sehen. Auf dem Rücken liegend, die wachsbleichen Hände auf der eingefallenen Brust ineinandergefaltet; aber hinter geschlossenen Augen über die etwas spitz gewordene Nase hinweg ein höheres Ziel bedenkend. In stiller Sternenstunde ist nicht mehr an ihren vergänglichen Leib, sondern an ihre unsterbliche Seele die tröstliche Mahnung des Herrn ergangen: Stehe auf und wandle! . . .

 


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