Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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15. Der Kinderkönig wird begraben

Mit einem harten Knotenstock in der Faust wandert Franz in den Abend hinein, unter dem schwarzen Stirnhaar und hinter der eingekerbten Stirn seine Erlebnisse überdenkend.

Die kleinen Kinder hatten Angst gehabt vor seiner mächtigen Nase; und den größeren Buben und Mädchen, die bald einmal lustigere als Kirchenlieder sangen und als einziges Joch jedes den Arm des andern im Nacken duldeten, wich er selber aus, wo er sie antraf. So ist er allein geblieben und will auch allein sein mit der bitteren Erkenntnis, die er zwischen den zusammengepreßten Lippen immer aufs neue wiederkäut: daß keine Treue ist in allem, was der Mensch unternimmt; und daß keines seiner Gefühle lange die Heiligkeit der ersten Empfindung bewahrt.

Noch nie hat er unter dem Dach einer menschlichen Wohnung genächtigt, seit er das Kreuz nahm. Und auch für diesmal hat er sich schon von ferne das Buchenwäldchen gemerkt, von welchem ihn nur noch eine Wiesenhalde trennt und wo er sicher ist, eine hinreichende Unterkunft zu finden. Auf wie manchem Neubau ist er in seinem Leben herumgeklettert, als wäre der Firstbalken das eingelegte Brett der Kegelbahn! Was macht es ihm aus, 290 in einer bequemen Ästegabel zu sitzen und, geschützt vor allem wilden Getier, an den Stamm angelehnt dem Morgen entgegenzuschlafen?

Rasch hat er die beste Gelegenheit ausgekundschaftet und den Baum auf seinen natürlichen Sproßen erklettert; und schon sitzt er befriedigt in dem zarten grünen Laub, durch welches mit sanftem Gold die zu fernen Höhenzügen sinkende Sonne hereinleuchtet. Doch wie er jetzt durch eine Lücke in dem Geäst auf das Land hinunterschaut, sieht er auf demselben Wege, den er zurücklegte, einen rund überdachten Wagen herannahen, gezogen von einer Kuh, umringt von einer Schar jugendlicher Kreuzfahrer und gefolgt von einem Trüpplein gläubiger Menschen. Von diesen letztern bleiben – und zwar, wie es ihm scheint, auf wiederholte drohende Zurufe der ihn begleitenden Streiter Christi – immer mehr und zuletzt alle zurück.

Jetzt hält das sonderbare Gefährt gerade vor dem Waldrande und unweit des Baumes, auf welchem Franz sitzt; die Jünglinge spannen die Kuh aus, lassen sie weiden und werfen sich müde ins Gras. Hat er nicht sagen hören, daß auf einem solchen Wagen der Knabe Nikolaus fährt, der als König der Kinder diesen selig-unseligen Zug nach Jerusalem ins Werk setzte? Und sitzt nicht ein Rabe auf dem Wagendach und liegt nicht ein Hund neben den Rädern, vielleicht letzte Reste jener bunten Schar von Tieren, die ihm anfänglich, wie die Rede ging, so zahlreich folgten, als wäre er der heilige Hieronymus? Er schaut und lauscht hinab und sucht vergebens mit den Blicken in den verschlossenen Wagen einzudringen: schon seine Umrisse werden in der zunehmenden Dämmerung immer undeutlicher . . .

»Jetzt führen wir ihn bereits den zweiten Tag mit uns. Er fängt an zu riechen!« sagt einer der Jünglinge zu den andern. 291 »Hier sind wir allein und vor fremden Augen sicher – Laßt uns ihn begraben!«

»Wenn wir ja doch immer sagen müssen ›Der König betet und will niemanden sehen!‹, so bleibt sich's gleich, ob er im Wagen drin ist oder nicht!« meint ein zweiter. »Aber daß er drin ist, das müssen sie alle glauben, sonst könnte es geschehen, daß uns niemand mehr folgen, niemand mehr uns helfen mag!«

»So ist es; und es ist auch gar nichts weiter dabei,« schließt ein Dritter. »Denn führte uns, als er lebte, sein Leib? Uns führte sein Geist. Und sein Geist soll uns auch weiterhin zum Ziele führen!«

Und Franz auf seinem Baume hört mehr, als daß er es sieht, wie sie die ihnen unterwegs von mitleidigen Händen gespendete Atzung aus ihren Bündeln hervorholen und eine Weile lang, stumm vor sich hin kauend, ihre vom tagelangen Marsch abgezehrten Glieder stärken. Unterdessen schiebt sich die trübgelbe Scheibe des Vollmondes über die nächtlich eingeblauten Höhenzüge empor und wird langsam und feierlich auf einem Wolkenkissen ins dunkelklare Weltall hinausgehoben: es ist, als ob ein großes göttliches Auge aus dem Jenseits hereinschaute auf das, was sich in dieser irdischen Welt begibt, und sich zusehends mehr anstrengte, das Gewühl ihrer Freuden und Leiden zu durchdringen! Und jetzt, nachdem das nachbarliche Gestirn hoch am Himmel zu einer scharf umrissenen, fast wesenlos durchsichtigen, mild ihr magisches Licht verspendenden Silberschale geworden ist, hebt unter den heimlich ihr süßes Grün hervordrängenden Baumkronen ein gespenstisches Hin und Her an, bis die Jünglinge gerade am Fuße der Buche, die sich Franz für sein Nachtlager auserkor, den unter dem raschelnden vorjährigen Laub feucht gärenden Boden aufzugraben anfangen.

292 Wie kurz und schmal ist die Grube, welche sie auswerfen, mit Knebeln, großen Messern und mit den bloßen Händen den Grund durchwühlend! Und jetzt tragen sie den kleinen Toten herbei: steif ausgestreckt, wie er im Wagen auf seinem Kranken- und Sterbelager gelegen haben mag, die zarten weißen Hände über der engen Brust um ein dürftiges Holzkreuzlein herumgefaltet. Sacht senken sie ihn in die dunkle Erde hinein, in welche ihm der bleiche Strahl des Mondes nachfolgt und sein feines, wie eine gläubige Bitte zum Sternenhimmel aufschauendes Kindergesicht verklärt.

So hat ihn sein glühender Wille nach dem großen Friedensreich, das er in Jerusalem auf dem heiligen Grab aufrichten wollte, nur in sein eigenes Grab geführt! Und wieviele von denen, welche, von seinem Vorbild begeistert, noch unvermindert jene große Sehnsucht im Herzen nähren und bei all ihrer Verdunkelung sich von ihr doch von Tag zu Tag immer weiter durch die Welt treiben lassen, werden ihm auch darin nachfolgen und es ihm gleichtun, daß sie nichts anderes als ihr eigenes Grab finden? Franz hört nicht mehr, wie sie drunten mit vollen Händen die Erde auf den stillen kleinen Heiligen werfen: er schaut von seiner Ästegabel, müde an den glatten Stamm angelehnt, hinaus in das zu grausamer Deutlichkeit entschleierte Weltall, in welchem der helle Mond und die verloren blinkenden Sterne unaufhaltsam ihre Reise durch die Nacht vollbringen, Sinnbilder eines Werdens, das ohne Ende Leben erzeugt und Leben vernichtet und in dessen dunklem Zwang jede Seele rettungslos verhaftet ist, es sei denn, daß Gott ihr eines Tages seine gütige Vaterhand darreicht, nach welcher sie in diesem Dasein so oft flehend die Blicke aussandte . . .

Hat er geschlafen oder wachend geträumt? Er sieht auf einmal 293 im Osten einen roten Streifen und spürt, daß seine Glieder vom kalten Tau, der auf ihnen liegt, ganz abgestorben sind. Was ihn aber aufweckte, das war das Rascheln des Laubes in der Tiefe unter ihm: die jungen Kreuzfahrer sind aus den Büschen hervorgekrochen, in denen sie nächtigten, und machen sich reisefertig. Sie werfen alle ihre Habseligkeiten in den überdachten und verhängten Wagen, um selber leichter marschieren zu können, spannen aufs neue die magere Kuh vor und ziehen, ohne von der frischen Grabstätte einen besondern Abschied zu nehmen, nur der harten Notwendigkeit des neuen Tages gehorchend, in den goldig aufglühenden Morgen hinein.

Da ertönt ein leises, langgezogenes Klagegeheul. Der Hund sitzt auf dem Grabe seines gütigen kleinen Herrn und klagt seinen Schmerz dem Raben vor, welcher auf einem Aste hockt und mit seinem großen Schnabel wie in trauervoller Bestätigung des Geschehenen herniederschaut. Diese beiden Tiere allein sind zurückgeblieben und halten Wache, wo alle andern achtlos sich davongemacht haben und nur noch an sich selber denken: sie sind in ihrer dunklen Treue zu ungeschickt, um sich so rasch, wie die Menschen es vermögen, in die Wechselfälle des Daseins zu fügen . . .

Erst wie die jungen Kreuzfahrer mit ihrem Wagen hinter der nächsten Hügelwelle verschwunden sind, steigt Franz mit schmerzenden Gliedern von seinem Baume herunter. Er muß beim letzten Absprung Sorge tragen, daß er nicht auf den kleinen, toten König von Jerusalem tritt: denn wie aus einem schlechten Gewissen heraus haben seine Totengräber das Grab derart mit welkem Laub überstreut, daß es nicht mehr kenntlich ist. Erst nach einigem Suchen kann er sich zurechtfinden und – von all den Tausenden, denen der Glaube dieses Knaben den Glauben 294 an ihre eigene Sehnsucht erweckte, der einzige – niederknien an der Ruhestätte eines gütigen Herzens, die schon vom ersten Tage an verschollen ist.

Soll er aus abgebrochenen Ästen ein Kreuz machen und es daraufpflanzen? Aber nachdem er erkannt hat, wie diejenigen dahinleben, die »das Kreuz nehmen« – nämlich nicht anders, als wenn sie zu Hause geblieben wären! –, ist sein Glaube an das Kreuz wankend geworden. Sein Blick fällt auf einen süßblühenden Schlehdorn am Waldesrand, der ihm gestern schon von weitem wie ein stilles, reines Glück entgegenleuchtete; und er geht hin, bricht sich einen der von milchweißem Blust überschäumenden Zweige und steckt ihn auf das Grab, mitten in das welke Laub hinein, als heimliches Auferstehungszeichen.

Dann murmelt er ein Vaterunser, tritt aus dem Walde heraus und folgt langsamen Schrittes den andern, dem nämlichen Schicksal untertan, das sie alle miteinander angerufen haben und das sie alle miteinander nicht mehr loslassen wird, bis es sich vollendet hat. Er will auch den Hund mit sich locken, der ihm bei seiner Totenfeier aufmerksam zugeschaut hat: aber das Tier kehrt immer wieder zu der Grabstätte zurück, wo sich, nach etwelchem dunklem Geflatter, auch der Rabe auf einem der untersten Äste der Buche, welche Franz ein Nachtlager bot, dauernd scheint niederlassen zu wollen. Noch lange folgt dem Davonziehenden, wie ein machtloser Vorwurf an ein unbekanntes Verhängnis, das Geheul des Hundes in die Ferne nach . . . 295

 


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