Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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26. Die Hochzeit

Nun ist Elsa, ihre zehn Jahre jüngere Schwester, in den heiligen Ehestand getreten.

Die ganze, lange, schlaflose Nacht hindurch hat Brigitte diese Tatsache vor der Seele gestanden. Sie tritt aus ihrer einsamen Altjungfernkammer auf den Gang hinaus, durch dessen Fensterreihe man in den Burghof hinabsieht: dort eilen die Knappen 329 hin und her und satteln die Pferde; dort wimmelt es von Musikanten und Gauklern, die gestern schon da waren und sich alle wieder eingestellt haben. In der Höhe aber ragen die Türme dunkelbraun auf dem bleich schmelzenden Blau des Frühlingsmorgens; und wie gespreizte Finger greifen die mattgoldenen Strahlenbündel der am Horizont in die Erdenwelt hereinrollenden Sonne über die Dachfirsten hinweg.

Brigitte schreitet nach dem Brautgemach; aber sie wagt nicht einzutreten, obschon die Türe nur angelehnt ist und sie drinnen Stimmen vernimmt. Ihr Herz klopft vor Erwartung; sie lauscht und hört die Mutter scherzen: »Auf! Auf! Schon ist es heller Tag!« Und auch eine der Freundinnen ist am Lager der jungen Frau und ruft voll gut geheuchelter Verwunderung: »Ei, wo ist denn das schöne Hemd hingekommen, das wir dir nähten? Wer hat dir's stibitzt?« Jetzt aber – jetzt beginnen die beiden jüngsten Schwesterchen das Lied zu singen, das sie der Glücklichen gedichtet und in Musik gesetzt hat:

    So wollt ihr's denn zusammen wagen?
Das Leben ist kein Kinderspiel!
Ein jeder hat sein Kreuz zu tragen.
O nehmt euch Gott zum Ziel!

    Es wallen jetzt in frommen Scharen
Die Kinder nach dem Meeresstrand:
Mögt ihr im Herzen euch bewahren
Der Kindheit heiliges Land!

    Pflanzt euer Kreuz in seine Erde
Und seht, wie bald es grünend sprießt,
Wie sich auf jegliche Beschwerde
Des Himmels Huld ergießt!

330 Während Brigitte ängstlich den oft gefährlich schwankenden Tönen folgt, sieht sie bereits die sieben weißgekleideten Kinder der Gäste vor sich, welche gestern unter ihrer Anführung mit brennenden Kerzen dem Brautpaar bis zum Schlafgemach vorausgingen und die sie jetzt noch einmal vor dem Burgtor aufstellen will, wenn die neuen Eheleute nach der Stadt in den Dom reiten, um den Segen des Bischofs zu empfangen. Aber da ist der Gesang zu Ende – und sie kann sich's nicht versagen, mit einem flüchtigen Blick durch die Türspalte zu erkunden, ob die Neuvermählten von ihrem Hochzeitslied auch gut aus dem Schlafe geweckt worden sind: die Schwester liegt gesund auf dem breiten Hochzeitslager im umfangenden Arme des Gatten; und glücklich schauen sich die beiden ins Gesicht als süßes junges Weib und starker junger Mann. Wie ein Hauch der Erlösung aus Kampf und Sturm, und gleich einem Siegeslächeln des Tages über die Nacht, weht es ihr aus dem Gemach entgegen, so daß sie die Hände auf die welkende Brust preßt und wie eine Verdammte an der Türe des Paradieses vorüberschleicht.

Gewiß hat ihre Schwester kein Wort von dem Hochzeitsgedicht verstanden! Sie aber vernimmt noch im Enteilen die gutmütig mahnende Stimme der Mutter: »Auf jetzt, ihr Verliebten! Und ihr dort, ihr Mädchen, helft mir das Bett etwas zurecht machen! Schon höre ich die Gäste auf der Treppe, die euch ihre Glückwünsche darbringen wollen!« Und während sie mit dem Rot der Verwirrung auf den Wangen die Stufen hinunterschwebt, begegnen ihr der Koch, der mit zwei Gesellen das gebratene Brauthuhn, Wein und Brot zur Stärkung hinaufträgt, und die Kämmerer, welche mit den neuen Kleidern daherkommen; dazwischen verschiedene Gäste, Verwandte und 331 Bekannte der jungen Eheleute, die sie im Vorbeigehen freundlich-verwundert grüßen, offenbar weil sie sie bei der Schwester anzutreffen erwarteten.

Doch sie eilt zu den Kindern, welche von den Mägden eben wieder in ihre weißen Kleidchen gesteckt werden. »Da ist Tante Brigitte!« rufen die Kleinen und springen ihr entgegen, um zu hören, was sie Neues mit ihnen vor hat; sie sind indessen etwas enttäuscht, wie sie jedem wieder eine hohe, schlanke Wachskerze in die Hand drückt, und lassen sich erst nach einigem Widerstreben für die ihnen zugedachte Aufgabe begeistern. Und während sie weiß, daß jetzt die Neuvermählten auf dem rasch in Ordnung gebrachten Lager unter der glatt über sie hingebreiteten Decke die neckenden Worte der Besucher mit einem glücklich-stolzen Lächeln erwidern und ihnen gern, wie die Sitte es will, das Bild befriedigter Eintracht darbieten, huscht sie mit ihren Schützlingen vollends in den Hof hinunter, in das bunte Durcheinander von Menschen und Tieren hinein, und schlängelt die junge Schar, von herber Morgenkühle und einem Geruch von Roßmist umwittert, mit Mühe und Not vors Burgtor hinaus, wo sich der Blick frei auf Wald und Feld, Berge und Täler verbreitet.

Die Sonne scheint golden über die tauigen Wiesen herauf und beleuchtet hell und scharf die Schloßmauern; und in dem Lichtkeil, welcher durch das offene Tor in den Hof eindringt, wimmelt ein buntes Farbenspiel von leuchtenden Gewändern. »Wo geht nun Tante Elsa hin?« fragt eines der Mädchen. – »Sie reitet in den Dom, um den Segen Gottes zu empfangen!« versetzt Brigitte. – »Da würde ich doch gleich zum lieben Gott selber reiten!« ruft keck einer der Knaben. – »O, der wohnt weit weg hinter den blauen Bergen!« wehrt Brigitte ab. »Und er 332 hat einen großen Hund bei sich, der nur ganz brave Kinder einläßt!«

Die Kinder sagen nichts mehr; aber sie wechseln auf einmal seltsam glänzende Blicke untereinander, während Brigitte ihnen die Kerzen anzündet. Auf jeder Seite stellt sie ihrer drei auf, zu oberst am Burgrain; das siebente aber soll mitten im Wege das Pferd der Braut anhalten und ihr die Kerze mit den Worten emporreichen: ›Nimm hier die Flamme des Lebens!‹ Dreimal muß ihr der Knabe diese Worte vorsagen, damit sie sicher sein kann, daß er sie richtig auswendig weiß; und damit auch sie eine kleine Ahnung davon hat, wie es wäre, wenn diese Worte zu ihr gesprochen würden.

Nun brennen alle Kerzen; unbewegt stehen die kaum sichtbaren Lichtlein in der ruhigen Luft. Brigitte wirft einen letzten, ermunternden Blick auf die weiße Kinderschar, welche – gemäß ihren Anordnungen – sofort nach der kleinen Huldigung von den Mägden wieder in Verwahrung genommen werden soll, und begibt sich dann in den Burghof zurück, wo ihr gesatteltes Pferd noch zu den wenigen gehört, auf denen kein Reiter sitzt. Doch sie eilt an ihm vorbei die Treppen empor, um ihre Schwester endlich ans Herz zu drücken, und stößt schon auf den untersten Stufen mit ihr zusammen – »Wo steckst du denn, du Liebe?« ruft die Braut, umarmt sie und gibt ihr einen Kuß auf die Wangen, der ganz anders ist als alle die Küsse, die sie jemals im Leben von ihr empfing.

Im Hofe festliches Mantelleuchten, Waffengeklirr, Pferdegetrappel. Alles blickt auf die junge Frau, welche ihr Gatte selbst in den Sattel hebt: wie das Roß, als es die leichte Last spürt, ein paar feurig-ungeduldige Schritte tut, läßt sich ihr schlanker Oberkörper in einer schönen Welle nachziehen, bevor 333 er sich aufrichtet; die Liebe hat sie nicht gebrochen, sondern nur noch biegsamer gemacht. »Die könnte zu Fuß und ohne Stab nach dem Dom gehen!« raunt ein Roßknecht dem andern zu; und die Mägde sind ganz Auge und denken nicht mehr an die Kinder draußen am Burgrain.

Auch Brigitte sitzt jetzt, maßvoll beherrscht, auf ihrem Tier; sie denkt, wie der Zug sich in Bewegung setzt, nur daran, was für eine freudige Überraschung die kerzentragenden Kinder ihrer Schwester bereiten werden. Sie hat kein Gefühl dafür, daß die Seele der zum Burgtor hinausreitenden Braut in ihrer Sehnsucht der großen, blauenden Ferne verbunden ist und alle sie umdrängende Nähe nur als ein schattenhaft wechselndes, mißtönig summendes Gesellschaftsspiel empfindet, in welchem selbst Worte, Gesänge und Beleuchtungen, die ihr persönlich gelten, ihr kaum einen erstaunten Blick abgewinnen können; und sie ist sich auch nicht klar darüber, daß alle ihre Bemühungen, die aus dem Hause scheidende Schwester zu feiern, eigentlich nicht der Schwester gelten, sondern nur einen ohnmächtigen Versuch darstellen, sich selber einem Glück in Erinnerung zu rufen, welchem jene mit jugendlicher Zuversicht entgegensprengt. Während die vordersten Pferde über die Zugbrücke poltern, kann sie den Augenblick kaum erwarten, wo die Zügel angezogen werden und ein Ruck und Halt durch die ganze Gesellschaft geht, bis der Begnadeten die »Flamme des Lebens« überreicht worden ist.

Aber die Hochzeitsgesellschaft reitet in festlicher Ungestörtheit auf den Burgrain hinaus und über ihn hinunter; keine Kinder sind zu sehen, die in weißen Kleidchen brennende Kerzen hochhalten. Das Herz will Brigitte stillestehen: sie haben sie betrogen und sind ihr, die unnützen Rangen, heimlich 334 davongelaufen, damit ihr auch die Freude, Freude zu machen, vergällend! Und sie allein gibt sich einen Ruck, setzt sich in stolzer Selbstgenügsamkeit noch fester, noch steifer in den Sattel und spürt, wie ihre Lippen, die abermals um einen Grad schmäler werden, einen leisen Zug der Bitterkeit für immer festhalten . . .

 


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