Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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43. Franz wehrt sich

Das Gebirge mit seinem Schnee liegt hinter ihm.

Den blühenden Garten um den blauen See herum hat er staunend bewundert und unermüdlich durchwandert. Aber ist es nicht, als lauerten hier überall Schlangen im Grase?

397 Als einzige Erinnerung an die Welt im Norden hält er den schweren Knotenstock in der Hand, der ihm auf einmal doppelt kostbar erscheint unter diesen Menschen, die zwar wie er schwarzes Haar und scharfgeschnittene Nasen haben, aber mit ihren vollen Lippen eine Sprache sprechen, die ihm eben so unverständlich bleibt wie die Tücke ihrer Herzen . . .

Wie manches arme Kind hat er ermordet und ausgeraubt am Wege gefunden, vom eigenen Blute gerötet das Kreuz auf der Brust, das ihm führendes Sinnbild war auf dieser unseligen Fahrt in die Ferne! Wie oft drückte er, bevor er weiterging, die Lider einem Augenpaar zu, in welchem der fiebrige Glanz, den er in so vielen andern hatte entbrennen sehen, für immer erloschen war! Und wußte dabei nicht, daß er längst auch in seinen eigenen glomm wie eine schwelende Fackel, die angesteckt wird, wenn es der Nacht entgegengeht.

Er ist nur noch harter Wille, dumpf schmerzende Sehnen, hagere, eckig in den Gelenken hervortretende Knochen, von der sommerlichen Sonne braungebrannte Haut. Die Neugierde nach dem Ende, die ihn bald einmal allein seine Schritte dorthin richten ließ, wohin alle andern die ihrigen richteten, stumpft sich in ihm in dem Maße ab, als dieses Ende ihn selber umfängt und allgemach seine Seele durchdringt. Er ist ein grob und schwer hintrottender Bettler geworden, der wohl dann und wann um Gotteswillen eine Gabe dargereicht bekommt, aber gerade darum die scheelen Blicke jener auf sich lenkt, die in diesem Lande das Nichtstun als ihr Vorrecht betrachten und in den zerlumpten Kreuzfahrerkindern nichts als unerwünschte Mitbewerber um die Gunst freigebiger Christen sehen.

Jerusalem? Er glaubt schon lange nicht mehr, daß sie es jemals mit Augen erblicken werden; und er begreift, daß diese 398 bettelnden Scharen, welche über die Dörfer herfallen wie die Heuschreckenschwärme über die Felder, für die Bewohner eine Plage bedeuten. Aber sie sind nun einmal unterwegs, sie sind nun einmal da; und ob sie nach vorwärts oder rückwärts weiterwandern, sie können sich mit dem besten Willen nicht aus der Welt schaffen. Warum also nicht vorwärts?

Auch heute hat Franz in dem dürftigen Dorfe, das er gegen Abend durchzog, kein Nachtlager gefunden, sondern nur von einem gutherzigen Mädchen heimlich ein Stück harten Brotes zugesteckt erhalten. Er schreitet weiter durch die rasch sinkende Dämmerung, um in der Einsamkeit des Feldes einen ungestörten Schlafplatz zu finden: da merkt er, daß ihm drei Bursche, die ihn mit dem Mädchen sprechen sahen, scheinbar zufällig eine Strecke Weges folgen. Und blinken jetzt nicht, wie er sich abermals umwendet, im Zwielicht lange Messer in ihren Fäusten? Ehe sie selber zum Angriff kommen, fährt er gleich einem Rasenden mit seinem wirbelnden Knotenstock unter sie –

Der erste prallt aufheulend zurück wie ein Hund, dem die Pfote entzweigehauen wurde; der zweite stürzt, kaum hat der harte Prügel krachend auf seinem Schädel aufgeschlagen, sackschwer zu Boden; der dritte flieht brüllend vor Angst davon und ist, zusammen mit dem vorausgeeilten ersten, im Nu verschwunden. Wahrlich, da hört die christliche Nächstenliebe auf! denkt Franz. Und wenn durchaus gemordet werden soll, so kann er es auch! Grimmig schaut er sich mit seinem guten Stock in der Hand um und hätte nichts dagegen, wenn noch ein halbes Dutzend andere es mit ihm versuchen wollten . . .

Dann aber wird er sich plötzlich der Gefahr bewußt, in welcher er jetzt ernstlich schwebt; und er rennt und rennt vor sich hin, bis ihm der Atem ausgeht. Erst wie er sich in Sicherheit glauben 399 darf, mäßigt er allmählich seine Schritte, blickt wild und froh zu den flimmernden Sternen auf und fühlt, indem er sich am Fuß einer dunkel wispernden Zypresse auf den Boden wirft, die ganze Süßigkeit des geretteten Lebens. Und jetzt zum erstenmal flucht er seiner Einsamkeit als einer dumpfen Fessel, die er haßt.

Jetzt möchte auch er, wie er es so oft bei andern sah, ein Mädchen im Arm halten, um wenigstens zu wissen, warum und für wen er sich seiner Haut gewehrt hat. Die Agathe, die ihm so lang in den Augen saß und am Herzen fraß, mag seinetwegen der Teufel holen! Weib ist Weib; und die Hauptsache ist, daß eines neben einem liegt, wenn einen die Lust nach etwas Holdem ankommt . . . Franz, Franz, was warst du zeitlebens für ein Narr! Und wie waren die andern die Gescheiten!

Haben es die Tiere nicht viel besser? Sie nehmen, was der Augenblick ihnen bietet, und versäumen ihn nicht über der Ewigkeit, die sich vielleicht auch nur aus vielen Augenblicken zusammensetzt. Ist nicht der schlimmste aller Teufel derjenige gewesen, der den Menschen mit Erinnerung und Voraussicht begabte, so daß er stets der Vergangenheit nachtrauert und die Zukunft ersorgt und darüber die einzige Wirklichkeit der Gegenwart vergißt? In einem Weibe sein Echo finden, in seinem Leben das eigene Leben empfinden, das ist der allein begehrenswerte Lohn des Daseins . . .

Aber diese Wünsche zerrinnen ihm, ohne daß er längeren Widerstand leisten könnte, in seiner Müdigkeit. Schwer atmend, mit verworfenen Armen, liegt er bald einmal unbeweglich auf dem Rücken da, mit offenem Munde in tiefen Schlummer versenkt. Und der Mondschatten an seiner großen Nase wandert langsam von der einen Seite aus die andere Seite hinüber. 400

 


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