Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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3. Bruder Augustins Weisheit

Sie erreichen mit ihren Kreuzen und Fahnen ein murmelndes Bergbächlein, das unter flechtenbehangenen Tannenwipfeln dahergeplätschert kommt und über grünbemooste Felsblöcke weitereilt, der offenen Ebene zu.

»Hier wollen wir unsere Nachmittagsrast halten!« ruft Bruder Augustin. »Ein so schönes Plätzchen haben wir noch nie angetroffen.« Und er denkt an die Tage zurück, wo sie durch das baumlose Land, wie in einem Meer von Sonne, dahinseufzten.

Die Knaben und Mädchen sind auch jetzt von dem heißen Wandertage so müde, daß sie sich, wo sie stehen und gehen, auf die höckerige Erde werfen. Ihre Banner fallen hinter ihnen nach wie die Segel eines Schiffes, das in den Hafen einläuft, und lassen alle Unternehmungslust aus der Luft verschwinden. Auch die Glöckchen, die der gute Bruder den Kleinen und Kleinsten um den Hals gebunden hat, sind auf einmal verstummt.

Schweigend lagern sie sich im Schatten des Waldrandes, aus welchem das Bächlein hervorbricht. Die Kühle der Wipfel überweht sie, während sie ihre Säcke aufschnüren, ihre mageren Bissen hervorholen und von dem Wasser trinken; und ihr Blick entflort sich, bei allmählich verebbendem Blute, von dem trüben Gluthauch der eigenen Hitze, in die sie sich während schmerzhaft langer Stunden hineingewandert haben. Aber ihre Herzen schlagen immer noch matt; und ihr Sinn bleibt bedrückt.

13 »Warum, lieber Bruder, ist der Mensch so elend und gebrechlich?« fragt ein hohläugiger Knabe. Es ist die Frage, die allen auf der Seele brennt; und in die unbekümmert das Bächlein hineinplaudert. Und die älteren Kinder, die sich seit einiger Zeit der Schar der kleinen Glöckchenträger wieder angeschlossen haben, heften hungrige Blicke auf den alten Mönch: es ist der Hunger des Herzens, der aus ihnen spricht.

»Schaut Gräser und Bäume an!« versetzt da Bruder Augustin wie einer, der von seiner Weisheit pfiffig lächelnd überzeugt ist. »Sie tragen Blüten, Blätter und Früchte und spenden Wein, Öl und Wohlgerüche. Ist aber der Mensch nicht ein umgekehrter Baum? Die Haare sind die Wurzeln; Kopf und Hals der Strunk; Brust und Bauch der Stamm; Arme und Beine Äste und Zweige; Finger und Zehen die Blätter. Und was kann von so etwas Verkehrtem anderes als Verkehrtes herrühren? Speichel, Pisse und Dreck? Und wie könnte ein solches Wesen anders als gebrechlich sein, hinfällig und sterblich?«

Die Kinder schweigen und blicken einander scheu an. »Aber warum denn ist der Mensch so unglücklich?« fragt ein Mädchen, dem das dunkle Köpfchen auf dem zarten Hals wie eine Blume auf dem Stengel steht. Und sehnsüchtig streichelt es das dürftige Gras zwischen den Felsen, auf dem sie sitzen, und blickt zu den Bäumen über ihren Häupten empor, die ihnen Schatten spenden und die alle – Gras und Bäume – soviel besser sein sollen.

»Warum?« ruft Bruder Augustin und reißt die Augen auf. »Da frag du den lieben Gott! Wir wissen nur, daß es so ist. Nicht umsonst schreit der Mensch so jämmerlich, wenn er auf die Welt kommt! Ein Mädchen ruft E, ein Knabe A. So halten wir's alle, die wir von Eva abstammen. Denn was ist der Name Eva anderes als ein zwiefacher Klageschrei?«

14 »Das ist lustig!« platzt irgendwo eine Stimme heraus und verstummt dann vor den aufsprießenden Gedanken. Und eine andere wird nach einer Weile des Überlegens hörbar: »Das verstehe ich nicht!«; und bricht in trotzigem Schweigen ab. Und das Bächlein lächelt unbekümmert und silberhell zwischen dieser Schule der Weisheit hindurch.

»Aber ihr werdet es glauben müssen!« bekräftigt Bruder Augustin und zieht die Brauen hoch. »Der heilige Vater in Rom hat das selber in seinem Büchlein »Über die Verachtung der Welt« so geschrieben. Wir haben es auch in unserm Kloster; und ich habe es gelesen . . .«

»Verachtung der Welt? Warum soll man die Welt verachten?« ruft ein älterer Knabe dazwischen. »Ist nicht alles außer dem Menschen schön und gut in ihr? Hast nicht du selber gesagt, lieber Bruder, daß die Pflanzen Früchte tragen und darum nützlich sind –?«

»Wir wollen jetzt beten und dann noch bis zum nächsten Gehöft weiterwandern!« bricht der Bruder das Gespräch ab. »Dort wird man uns wohl wie immer für die Nacht aufnehmen.«

»Ist es weit bis nach Rom, wo der heilige Vater wohnt?« hinkt aus dem Kreise der Kinder eine Frage nach. Aber schon gibt eine altkluge Stimme die Antwort: »Wir kommen ja gar nicht nach Rom.«

»Ja, es ist weit!« versetzt Bruder Augustin. »Aber noch viel weiter ist es bis zum heiligen Lande! Darum packt jetzt schleunig zusammen, damit wir den lieben Gott um seine Hilfe bitten können!«

Sie schnüren alle ihre Säcke, erheben sich in die Knie und falten die Hände zu stiller Andacht. Aber zwischenhinein blicken sie mit heimlicher Neugierde nach dem guten Bruder, ob er sich 15 auch diesmal wieder auf die Erde legen wird. Und in der Tat: Kaum kniet er und hat die erhobenen Hände gefaltet, so läßt er sich, ohne seine Haltung zu verändern, langsam auf die Seite fallen; und erst, wie er sich mühsam wieder aufgerichtet hat, betrachten die andern die Andacht als beendet.

»Sag uns einmal, lieber Bruder,« nähert sich ihm da der bleiche Knabe, »warum wirfst du dich beim Beten immer so auf die Seite?« Und er schaut ihm ins Gesicht, entschlossen, endlich hinter das Geheimnis zu kommen, das sie alle schon so lange beschäftigt.

Bruder Augustin steht wieder auf seinen alten Beinen und lächelt treuherzig-listig. »Ich mache das nur der Sicherheit halber!« sagt er und kichert vor sich hin.

»Aber wie meinst du das, guter Bruder?« rufen jetzt im Chore auch die andern Kinder, die ihre Neugierde nicht mehr zu bändigen wissen.

»Kommt her, ich will es euch entdecken! Aber sagt es niemand weiter!« flüstert der greise Mönch und breitet die Arme um sie.

Und alle drängen sich herzu und lauschen.

»Ist Gott nicht droben im Himmel? Also sieht er euch, wenn ihr vor ihm kniet, nur auf die Köpfe und auf die Fingerspitzen; und er gewahrt vielleicht gar nicht, daß ihr betet. Wenn ihr euch aber auf die Seite legt, so sieht er euch, wie ihr einander seht, und muß es unbedingt merken, daß ihr mit einem Anliegen zu ihm kommt . . . – Doch jetzt seht nach, ob wir alle beisammen sind, und laßt uns in Gottes Namen weiterziehen! Es ist kühler geworden und das Wandern eine Lust . . .«

Und sie nehmen mit frischem Mute ihre Stecken und Fahnen vom Boden auf und ziehen mit ihren weißen Kreuzen auf der 16 Brust in den schattenden Abend hinein. Das Bächlein plaudert wieder einsam durch sein enges, holperiges Steinbett nach der Ebene hinunter und wird von ihnen schon nach wenigen Schritten nicht mehr vernommen. Ihre Blicke gehören der aus grüngoldigem Himmel zum Horizont sinkenden Sonne . . .

 


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