Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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29. Auf der Nachtigalleninsel

»Nicht fliehen, Liebster! Sich verstecken ist besser.«

So lautet Gertruds Weisheit seit jener Gewitternacht. Die gefährlichen Städte umgehen sie; die Burgen auf den Bergen grüßen sie nur von ferne. Und sobald im freien Felde irgendwo eine Gefahr naht, verkriechen sie sich wie die Mäuse.

Wie oft sehen sie an der Hecke, hinter der sie kauern, ganze Horden wilder Kriegsknechte vorüberziehen, denen die Freude an Gewalt und Grausamkeit auf den Gesichtern glüht! Und wie erschüttert sie erst die Flucht der elenden Verfolgten, wenn ihnen schon die gräßliche Angst vor dem Tode stumm aus den Augen schreit und sie sie dennoch, als untätige Zuschauer in ihrem Versteck, müssen in ihr Verderben rennen lassen! Manchmal fährt Albrecht die junge Hand unbesonnen ans Schwert; und nur die flehentlich geflüsterte Bitte Gertruds kann ihn jeweilen davor bewahren, daß er nicht wie ein Tollkühner hervorspringt und, statt jene zu retten, sie selber ins Unglück stürzt.

159 »Was geht der Zank hierzulande Euch und mich an, lieber Herr?« schilt sie ihn dann immer aufs neue aus, ganz vergessend, daß er jetzt von ihr das traute Du hören möchte. »Haben wir gelobt, uns in die Händel dieser Welt einzumischen; oder haben wir uns vorgenommen, nach dem heiligen Lande zu ziehen? Ob diejenigen, die sie hier als Ketzer verfolgen und umbringen, schuldig oder unschuldig sind, das mag Gott mit ihnen und ihren Richtern ausmachen. Wir wollen Gedanken und Hände davon lassen!«

Aber wenn auch ihre Sorge ihn dermaßen abkanzelt, sie liebt ihn doch nur um so mehr wegen seiner ritterlich-hilfebereiten Gesinnung. Und er weiß, daß sie recht hat; und er möchte wahrlich auch nicht schuld sein, daß sie, wenn ihm etwas zustieße, allein stünde in dieser schlimmen Welt. Der schönste Glaube, der sie jetzt erfüllt, ist der Glaube an ihr Glück; und der tiefste Wille, der sie ganz beherrscht, der Wille, es durch alle Fährnisse hindurchzuretten: wobei sie, mehr dem allgemeinen Zuge folgend als aus eigenem Vorsatz, dem Meere zustreben.

Begegneten sie nicht erst gestern wieder einem solchen Mördertrupp, als die Straße just zwischen hohen, mit Dornen überzäunten Mauern hindurchlief und ein Sichverstecken ganz unmöglich machte? . . . »Tut wie ich, lieber Herr!« rief Gertrud, als sie die Schergen von weitem erblickte; und sie spuckte sich in die Hand, griff in den Staub, durch den ihre Füße stapften, und versalbte sich derart das Gesicht, daß niemand ahnen konnte, was für ein liebes junges Weib sie war. Und alsdann begann sie unverzüglich ein wild zerknirschtes Gebet zur Jungfrau Maria, der heiligen Muttergottes, vor sich hin zu schreien. Und Albrecht, der ihren ersten Rat befolgt hatte, tat es ihr auch hierin gleich . . . »Sehr da: Wieder zwei von dieser überschnappten 160 Jugend, die nach Jerusalem wallfahrten will!« grunzten die Waffenknechte im Vorbeigehen. Und sie waren gerettet . . .

»Weißt du noch?« erinnern sie sich jetzt daran, während sie eben im Begriffe sind, die Lehre, die sie aus diesem Erlebnis zogen, in Tat umzusetzen. Fort von der Straße, wo man nie weiß, wem man begegnet! Nicht nach den Bergen, sondern nach dem Fluß hinunter ausweichen, wo in den Pflanzungen die Früchte reifen und sie vielleicht ein meerwärts fahrendes Schiff finden, das sie mit einem Mal den Gefahren der Fußwanderung enthebt! Aber es wird Abend, bis sie, nach Überwindung vieler Hindernisse, an den rauschenden Strom kommen: eben sinkt über der jenseitigen Uferlandschaft die Sonne und streut ihr Gold bis in die Wellen herein, welche in ihrer Sehnsucht nach dem Meer, die sie ihnen innigst nachfühlen, eine die andere überholend dahinschießen.

»Eine Insel!« ruft Albrecht, nachdem sie dem einsamen Ufer eine Weile gefolgt sind und auf das Wasser hinausgeschaut haben. »Ich will sehen, ob man hinüberwaten kann . . . Dort wären wir sicher für die Nacht!«

Und er schreitet ohne Zaudern langsam und vorsichtig in die strömende Flut hinein, während Gertrud ihm mit warnenden Reden vom Ufer aus zusieht.

»Es ist nicht tief!« wendet er sich zurück, wie er schon die halbe Strecke hinter sich hat. »Aber die Wellen reißen mich um . . . Wenn ich dich auf die Schulter nehme, so habe ich bessern Stand, und wir sind beide miteinander drüben!«

Nicht ohne anfänglichen Kampf mit dem Wasser kommt er wieder an ihre Seite gesprungen, bückt sich voll Eifer vor ihr und hebt sie, die sehnigen Jünglingsarme um ihre straffen Schenkel schlingend, mit der Kraft seines Nackens langsam hoch. 161 Ein prickelndes Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit läßt Gertrud zuerst in ein ängstliches Gelächter ausbrechen: sobald aber Albrecht die im Anfang ziehende, dann immer mehr reißende Flur zu durchschreiten beginnt, siegen in ihr Klugheit und Besonnenheit über jede andere Empfindung und denkt sie nur noch daran, wie sie seinen behutsam vorwärtstastenden Füßen die Erhaltung ihres gemeinsamen Gleichgewichtes erleichtern kann. Um sich selber vor Schwindel zu bewahren, schaut sie entschlossen nicht mehr auf die enteilenden Wellen, die Albrecht allgemach bis an die Hüften emporsteigen, sondern in den über den jenseitigen Uferhügeln sinkenden Sonnenball hinein, welcher auf Insel, strömendes Wasser und sie beide einen schwachen Purpurschein wirft; und gleichzeitig streckt sie die Hände, die ihr und Albrechts Bündel tragen, bald mehr, bald weniger nach den Seiten aus, je nach der unmittelbaren Eingebung ihres Gefühls den Geliebten in seinem Widerstand gegen die Flut unterstützend.

In der Mitte erleben sie einen Augenblick, wo Albrecht nur dadurch, daß Gertrud ihr Gewicht dem Zuge des Stromes entgegenwirft, davor bewahrt bleibt, umgerissen zu werden; sie selber spürt kalt die ersten Wellenspritzer an ihrem rechten Fuße. Dann aber nimmt sowohl die Tiefe als auch die Wucht des Wassers langsam ab: Albrechts Schritte werden wieder sicherer und rascher; und bald fühlt Gertrud durch seinen Körper hindurch, daß er den sanften Sand des Inselstrandes betreten hat. Wie wonnig war es doch, von ihm ganz als sein Eigen getragen zu werden! O, daß diese Furt noch breiter wäre! Aber da ist er in der umbuschten Bucht angelangt; und sie springt, um ihm nicht länger Last zu sein, in das seichte Wasser, das ihr kaum über die Knöchel emporreicht.

162 Albrecht stehen vor Anstrengung die hellen Tropfen auf der Stirne. Er schaut zuerst wie abwesend Gertrud zu, welche, einer plötzlichen Regung folgend, auf einen flachen Stein niederkniet und sich Gesicht, Hals und Arme mit viel Geplätscher und Gespritze von den Spuren der langen Wanderschaft, besonders von der absichtlichen Bemalung mit Straßenstaub, sauber wäscht; dann ahmt er in ihrer Nähe ihr Beispiel nach und reinigt sich mit ihr um die Wette von allem Schweiß und Schmutz, bis sie einander aus erfrischten Gesichtern und klaren Augen entgegenlachen und ihre Blicke über das Eiland hinschweifen lassen. »Das ist nun unser Königreich!« jubelt Gertrud. – «Freilich!« sagt Albrecht trocken. »Aber zuerst müssen wir sehen, ob nicht irgendwo ein Drache verborgen liegt . . .«

»Du glaubst –?« fragt Gertrud und betrachtet ihn betroffen, wie sie sieht, daß er sein gutes Schwert aus der Scheide zieht; dann faßt sie voll Zuversicht seine Linke und beginnt mit ihm zusammen die Erforschung der kleinen Insel, welche um so mehr Mut erfordert, als in das grüne Blätterdickicht der Sträucher zusehends die braune Dämmerung herabsinkt. Mit vorgehaltener Klinge, auf welcher sich matt der bleich eindunkelnde Abendhimmel spiegelt, schreiten sie nebeneinander über die Hälfte des Ufers ab, um zuletzt von der innern, der Stromseite zugekehrten Seite aus eine felsige Anhöhe zu ersteigen, wo zu ihrem Erstaunen eine zerfallene Schutzhütte mit aufgeschüttetem welkem Laub steht. Wer mag hier vor ihnen gehaust haben? Einsame Fischer oder ein weltflüchtiger Einsiedler? Gleichviel: Das soll die Wiege ihrer Liebe sein für diese Nacht! Drachen haben sie keine angetroffen; und die paar Vögel, die vor ihnen durch den Busch hüpften, werden ihr Glück nicht stören.

Erst jetzt, wo sie nicht mehr beständig um ihr Leben zittern 163 und von allen Seiten her Gefahren wittern müssen, können sie sich wieder einmal mit selbstvergessener Seligkeit ins Antlitz schauen, obschon sie darin bei der zunehmenden Dunkelheit fast nur noch das weiße Blinken der Augäpfel wahrnehmen. Seit jener ersten, von allen Grauen des Todes umschauerten stürmischen Hingabe und Hinnahme in der furchtbaren Gewitternacht haben sie ihre Liebe wie einen Schatz im Herzen getragen, dessen man sich allein am sicheren Ort erfreuen darf, und sich ihr Einverständnis nur in gelegentlichen verstohlenen Lächelblicken kundgetan – was ist da natürlicher, als daß sie wechselseitig sich die Arme um den Nacken schlingen, sich in das trockene, raschelnde Laub hinschmiegen und mit dem süßen Druck der Lippen jenen Krieg eröffnen, welcher in den beiden Königreichen ihrer jungen, von der Wanderschaft mehr gestählten als geschwächten Körper alsbald immer weitere Provinzen in Mitleidenschaft zieht, bis sich ihnen zuletzt, Kraft an Gegenkraft zur höchsten Entfaltung gesteigert, alle Nöte dieses Lebens abermals in strömende Süße verwandeln? Und wie sie hierauf eratmend in das Dunkel der Nacht hinauslauschen, hören sie, neben dem verebbenden Tosen ihres Blutes, das Perlen und Kochen und Sieden der Stromwellen, welche tief unter ihnen in drängender Fülle – aus dem engen Erdenbett bereits sich ins schrankenlose Meer hinaussehnend – auf beiden Seiten dem sandigen Ufersaum der einsamen Insel entlangschäumen.

Und sie flüstern sich mit heißem Atem ihr seliges Erstaunen ins Ohr, daß sie einander stets aufs neue zum nie versiegenden Quell einer Freude werden, die sie beide wie einen feurigen Wein schlürfen. Sie treten immer wieder vor die morsche Hütte, um die Sterne nicht nur durch die Lücken des halbverfaulten Daches zu sehen, sondern sich mit Blicken des ganzen 164 Himmels über ihnen zu versichern, welcher gerade groß genug ist, die Überfülle ihrer Empfindungen zu fassen; und sie stehen immer wieder aufs neue still, um Wange an Wange in das Land hinauszulauschen, ob ihnen nicht irgendwoher, wo auch selige Menschen sind, das Echo ihres Entzückens entgegenklinge. Da horch! Eine Vogelstimme hebt aus dem finstern Gebüsch hinter ihnen sehnsüchtig schlagend zu singen an, wie eine Seele aus dem Kerker ihres Leibes; und jetzt antwortet ihr jauchzend eine andere derselben Art, so beschwörend, so süß überredend, daß sie, die in staunendem Zuhören gegenseitig sich die Hände auf die Schultern gelegt haben, plötzlich abermals in inniger Umarmung ihre Lippen vereinigen, als wäre das, und nichts anderes, das Gebot der Stunde.

Ist es am Ende nur ein schlimmer Traum gewesen, daß der Mord über dieses blühende Land vorausging und der Tod ihm nachfolgte? Und ist Wirklichkeit allein die Liebe, die sie mit dem vollen Einsatz des Leibes und der Seele einander schenken und voneinander empfangen?

». . . Dort brennt wieder ein Schloß!« sagt Gertrud auf einmal und zeigt in der Richtung, aus der sie herkamen, nach einem steil lodernden Feuer, über welchem eine dunkle Rauchsäule in der Sternenklarheit des Alls sich entfaltet. Und sie versenken sich in dieses ferne, lautlose Schauspiel des Hasses, während auf ihrer Insel, unbekümmert um den übrigen Weltlauf, der Gesang der Nachtigallen fortdauert und mit seinem verlangenden Geflöte, seinen verzückten Schreien und Trillern eine tönende Zauberhecke um sie herumflicht, die keiner Qual und keiner Marter den Weg zu ihren Herzen gestattet.

»Ich weiß nicht, warum Gott die Menschen mit soviel Unglück schlägt!« ruft Albrecht zum flimmernden Himmel 165 empor. »Mir hat er ein Glück gegeben – und dieses Glück bist du!«

Und sie kehren durch die stromdurchrauschte, vögelüberjauchzte Sommernacht zu ihrem Liebeslager zurück und sinken noch einmal, beide einander lächelnd erraffend, sich selber und bald darauf dem Schlummer in die Arme. Aber dann und wann erwachen plötzlich wieder ihre kaum beruhigten Seelen: ein jedes versichert sich ängstlich, ob auch das andere noch an seiner Seite liege; und überselig haucht die Flüsterrede: Wie schön, jetzt habe ich in deinem Arm geschlafen!« Bis dann zuletzt, wie sie die Augen abermals aufschlagen, lichter Tag über der Erde glänzt und das Rauschen des Stromes viel heller klingt.

Albrecht schnellt empor und tritt vor die Hütte hinaus, wo er die Insel und die übrige Welt mit Staunen in der Beleuchtung der Sonne wiedererkennt und sich nicht ohne Mühe davon überzeugt, daß auch die schönste Nacht ein Ende nimmt und daß selbst die Nachtigallen eine Pause machen müssen. Wie er nach einigen Schritten auf der Höhe der Kuppe wieder zu Gertrud zurückkehrt, sieht er sie fast bekümmert neben der Türöffnung sitzen und vorn an ihrer Brust etwas herumnesteln. »Du hast mir das Kreuz abgerissen!« schmollt sie schelmisch unter der aschblonden Haarwildnis hervor, die ihre gesund blühenden Wangen umwuchert.

»So laß doch! Hast du nicht auch das Kreuz eines liebeleeren Lebens von dir abgeworfen?« ruft Albrecht. Und nach einigem Besinnen fügt er hinzu: »Wahrlich, ich glaube, ich reiße meines auch herunter! Fort damit!«

»Nein, nein!« wehrt sie ihm ängstlich. »Wir kommen doch überall besser durch, wenn wir sagen können, wir reisen nach 166 dem heiligen Land . . . Wenn man schon im Walde ist, muß man mit den Wölfen heulen!«

Sie hat ihr Kreuz wieder befestigt und sieht auch noch das seine nach. Dann bindet sie sich ihr Haar wieder auf und lacht ihm stumm unter die Augen: Gefall ich dir immer noch? Und sie schreiten – im Ungewissen über ihre weiteren Schicksale; aber von der einen, großen Gewißheit ihrer Liebe erfüllt – wechselseitig umschlungen gegen das Sandufer hinunter, zu der Stelle, wo sie gestern herkamen.

Wie breit erscheint ihnen heute dieser schmale Nebenarm des Stromes! Wieder hinüberwaten? Albrecht traut seiner Kraft nicht mehr recht; und auch Gertrud ist nicht sicher, ob sie diesmal auf seiner Schulter frei von allem Schwindel das Gleichgewicht würde bewahren können. Sie schauen einander forschend an: mit einem Lächeln, weil sie die Gedanken erraten, die sie beide sich über ihre mangelnde Unternehmungslust machen; mit einem Leuchten, weil ihnen diese holde Mattigkeit einer ausgeschenkten Seele und eines ausgeschöpften Leibes als ein teurer Beweis ihrer Liebe erscheint, den sie nicht missen möchten.

»Und ein Schiff?« sagt Gertrud auf einmal.

»Ein Schiff?« Daß er daran nicht selber gedacht hat!

»Natürlich!« haucht sie in ihrem Glück wie träumend vor sich hin. »Auf der andern Seite wird sicher bald eines dahergeschwommen kommen . . .«

Und sie wandern, gemächlich dem Strand entlang, wieder auf die andere Seite hinüber. Wange an Wange und Schulter an Schulter; und die Arme vertrauend um ihre Hüften gelegt. In der sichern Überzeugung, daß das Schiff schon unterwegs ist, das sie dem Meere zutragen wird. 167

 


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