Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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22. Gertruds Liebestat

»Es ist alles so unsicher!«

Albrecht schaut durch die Zweige des Gebüsches, in welchem sie unweit der Straße an einer Halde lagern. Sie haben die andern vorausziehen lassen und liegen immer noch in einer schwülen Müdigkeit des Leibes und der Seele an der Quelle, an welcher sie sich nur kurz erfrischen wollten, dann aber das Wiederaufstehen vergaßen. Nun sind sie allein zurückgeblieben und vertiefen sich in die Betrachtung der schweren Gewitterwolken, unter denen das letzte Abendrot verglimmt und erlischt.

»Alles ist so unsicher!« wiederholt Albrecht, wirft sich mit ausgreifendem Arm auf den Boden zurück und stützt den Kopf in die Hand.

Gertrud, die neben ihm sitzt, bemerkt den besondern Ton seiner Worte und betrachtet ihn forschend. Sie fühlt, daß er das nicht nur der Ketzerverfolgungen wegen sagt, deren Gebiet sie seit einigen Tagen durchwandern und von denen sie mit Recht Hindernisse und Gefahren befürchten: aus seinen gelegentlichen 109 Äußerungen während der letzten Zeit glaubte sie schon längst schließen zu dürfen, daß ihm auch der höhere Zweck ihrer Pilgerfahrt fraglich geworden sei. Als ob hier die Ketzerei mit der Luft eingeatmet würde, so zeigt er sich von einer tiefen Unzufriedenheit erfüllt und von einer inneren Rastlosigkeit bewegt, welche ihm die frohe Tatkraft je länger je mehr lähmt.

»Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wir hätten die Einladung angenommen und wären auf die Burg gegangen!« spinnt Albrecht abgewandten Blickes seine Gedanken fort.

Gertrud schaut ebenfalls auf die Seite. Vor ihrem geistigen Auge steht das Bild der stolz im Sattel sitzenden schwarzlockigen Reiterin, welche sich mit ihrem Jagdgefolge auf dem Heimweg befand und aus lockendem Munde und unter verheißenden Blicken Albrecht bereden wollte, die Nacht unter ihrem Dache zu verbringen – O, sie spürte recht wohl, wie es ihn gelüstete, der schönen Frau zu folgen; und erst, als sie wie zufällig ihren Arm um seinen Nacken legte, blieb er fest und fand die lachende Antwort, die Streiter Gottes seien auch unter freiem Himmel zu nächtigen gewohnt! Scheint es nun nicht, als ob er nachträglich Reue darüber empfände und voller Mißmut wie etwas Verlorenem nachgrübelte?

»Vielleicht ist sie eine Ketzerin und wollte die Schar ihrer Dienstmannen um einen tüchtigen Kämpfer vermehren!« redet sie ängstlich vor sich hin. Im Herzen freilich weiß sie, daß sie eine ganz andere Gefahr fürchtet: Jene herrische Jägerin glaubte gewiß nicht nur an den wahren Glauben, sondern noch viel mehr an das wahre Leben, das auch sie ersehnt! Es gilt jetzt immer entschiedener einen Kampf um Albrecht, in welchem sie nur dann auf Sieg hoffen darf, wenn sie auch vor dem Einsatz ihres eigenen Selbst nicht zurückschreckt.

110 Unbeachtet murmelt das dünne Quellbächlein in ihrer Nähe vorbei. Sie fühlen in der warmen Luft des dunstverhangenen Himmels, der in schmerzlich-praller Fülle auf der ansgetrockneten Erde lastet, nur noch jenen Durst des Blutes, den kein Wasser löschen kann. Führt diese abendliche Rast die Stunde mit sich, wo sie sich des tiefen Verlangens ihrer Seelen bewußt werden sollen, um in ihrem Innern zusammen mutig das Land eines neuen Erlebens zu betreten?

Wie jetzt Albrecht mit einem Seufzer, in welchem er alles bohrende Nachdenken und Antwortsuchen höhnisch verabschiedet, sich langausgestreckt auf den Boden hinwirft, schmiegt Gertrud sich keusch und zärtlich an seine Seite und flüstert ihm ins Ohr: »Warum willst du zu der fremden Frau gehen, wo du doch mich hast?« Sie erstickt fast an dieser Frage, welche ein längst lebendiges Gefühl in arme Worte faßt; und ein verhaltenes Schluchzen geht wie eine Welle durch ihren biegsamen Körper, der ihr nichts mehr wert ist, wenn er ihn nicht wert hält. Und indem sie dem gedämpften Klang ihrer eigenen Stimme nachlauscht, hat sie die Empfindung, als habe sie sich über einen Abgrund hinausgeworfen und warte nun auf das Wunder, das sie auffängt und rettet.

Ein erster Blitz, der von fernher stumm blendend alles Gewölk zu ihren Häupten und alle Büsche mit ihren Schlupfwinkel rings um sie her durchzuckt, zeigt Albrecht die rührende und in Demut tapfere Hingabe des Mädchens, das ihn bisher wie eine Magd begleitete. Keines Gedankens mehr mächtig, nur noch Eins mit der dumpf aufgrollenden sommerlichen Schwüle, welcher immer häufiger glühende Donnerkeile entstürzen, reißt er – wie einen von göttlicher Hand ihm gereichten Becher – ihren offenen heißfeuchten Mund und ihren jungen, mit süßer 111 Straffheit ihn umrankenden Leib im Ringe ihrer entschlossen zugreifenden Arme an seinen Mund und an seinen Leib; und über der wehen Verzückung selbstvergessener Leidenschaft, in die sie sich mit entflammten Sinnen hineinschwingen, werden sie sich des brüllend und brennend um sie her losbrechenden Gewitters gar nicht mehr bewußt. Sind es die Küsse der trunken ihre Geschwister suchenden Lippen, was sie glühend und kühlend zugleich auf Augen, Wangen und Hals spüren; oder sind es die großen, warmen Tropfen, die schwer durch die Zweige herabfallen? Und quillt jetzt aus ihnen selber ein Feuerstrom hervor, erlösend und erlöst zugleich in wilder Seligkeit aufjubelnd; oder ist es der Brand, der Himmel und Erde durchlodert und donnernd an allen Festgegründeten rüttelt, frißt und leckt, was sie beide, ohne daß sie es wissen und wollen, immer mehr in seine Glut aufnimmt?

Eratmend hören sie endlich das furchtbare Unwetter als etwas, das außer ihnen Wirklichkeit hat, und fühlen den fieberheißen Sturm in ihren Haaren und die immer dichter herabprasselnden Regentropfen auf ihren Wangen; und gleichzeitig werden sie auch inne, daß, was sie durch den schütternden Donner hindurch vernehmen, nicht mehr die Schreie ihrer verlangend aufschwellenden Sinne sind, sondern Menschenschreie in Haß und Not: Männerflüche und Weibergekreisch. Wie ein Gewitter im Gewitter kommt es unter hellem, scharfem Schwertergeklirr und dumpfem Schildgedröhne durch die Büsche herabgestürzt und wälzt sich, Verfolgte und Verfolger, so nahe an ihnen vorbei, daß sie während eines langen Blitzgeflammes die Mordgier eines Kriegsknechtes, den Grimm eines kreuzschwingenden Pfaffen, die Todesangst eines umringten Ritters und die händeringende Verzweiflung eines Weibes auf bläulichweiß 112 beleuchteten Gesichtern sehen, vor welchen der strähnengleich niederrauschende Regen wie ein schwankender himmlischer Vorhang herabhängt: selbst jetzt, wo das mehrfach auf- und abzuckende Blitzlicht erloschen ist und sie wieder abseits im Dunkeln liegen, steht das gräßliche Bild immer noch wie festgebannt in ihrer Seele und hören sie an dem Brüllen, Schreien und Jammern, daß ein furchtbares Schicksal weiter seinen Lauf nimmt, auch wo sie es nicht mehr sehen. Da zeigt ihnen ein neuer Blitz ein zweitesmal die vornehme blasse Frau, wie sie mit den Händen einem der Mordgesellen, der vor dem Leben zuerst den Leib von ihr verlangt, in die Augen greift, während der Ritter an ihrer Seite, von einem schon nicht mehr sichtbaren Hieb getroffen, tödlich verwundet niedertaumelt und noch im Fallen von dem Priester das Kreuz ins Gesicht geschlagen erhält.

In Gertrud hat sich die Atemlosigkeit des Entzückens jählings in eine Beklemmung tiefsten Entsetzens verwandelt – »Ist das alles ein Traum?« stöhnt sie auf, während die Welt und sie selber schon wieder in regendurchrauschte Finsternis zurückgesunken sind. Albrecht aber, der kniend auf dem Boden kauert und den sie mehr schützend als schutzsuchend umfangen hält, preßt die Rechte voller Scham auf das Kreuz an seiner Brust und keucht mit starren Blicken, die vergebens die Dunkelheit um sie her zu durchdringen suchen: »Großer Gott, was ist das für ein Leben!« Doch wie jetzt wiederum ein Blitz taghell die Nacht erleuchtet, ist an der Stelle, auf die sie die Augen gerichtet halten, alles – Ritter, Weib, Krieger und Pfaffe – gleich einem Spuk der Hölle verschwunden; und wie angestrengt sie auch lauschen, sie hören doch außer dem durch das Laub klatschenden Regen, der sie längst völlig durchnäßt hat, keinen Laut mehr und sind 113 eine Zeitlang fast versucht, sowohl die äußern Geschehnisse als auch ihr eigenes Erlebnis für eine bloße Einbildung ihrer erregten Sinne zu halten: bis die in ihrem Tiefsten erweckte Glut sie abermals unwiderstehlich zueinandertreibt.

Sie wollen einen Unterschlupf aufsuchen: aber plötzlich, so wie er gekommen ist, versiegt der Wolkenbruch; und die letzten Dunstfetzen zerreißen vor einem klaren Mondlichte, das silbern auf die tropfenden Büsche herabscheint. Was können sie da Besseres tun, als gleich wieder den Weg unter die Füße zu nehmen und sich noch in der Nacht trocken zu laufen? Und so wandern sie denn Seite an Seite durch das Land, das die Regenfluten spurlos in sich eingesogen hat und nun einen feuchten, schweren Erdgeruch ausatmet; und ihre auf dunklem Hintergrunde hell überleuchteten Gestalten bieten sich gegenseitig in den naß anliegenden Kleidern den Anblick scharf sich durchzeichnender, jugendlich kräftiger Glieder dar, deren leidenschaftliche Sprache sie beide in unauslöschlicher Erinnerung tragen. Während hoch in ihrem Rücken ein Schloß mit trüber, qualmverhüllter Glut ausbrennt, klingt die Not erlebter Liebe und geschauten Todes wie ein aus Himmel und Hölle unentwirrbar verknäueltes Rätsel in ihnen nach; und sie wundern sich selber darüber, daß trotz dieser schaudervollen Erfahrung, in welcher sie sich wie die andern Menschen als bloße Werkzeuge einer höheren Gewalt erkannten, eine plötzlich entbundene Lebenskraft sie freudig der neuen Sonne entgegenschreiten läßt, ja, daß sie einander schon in dem blauen Dämmer der Nacht, das sie noch umfängt, auf einmal mit verwegenem Mute in die Augen lachen, um sich dann immer wieder im Gehen – als zwei überselig Trunkene, die sich umschlungen halten – mit Wangen, Schultern und Schenkeln zu streifen und zu liebkosen . . . 114

 


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