Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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27. Der König von Frankreich

Einsamer, graubärtiger Reiter in Mantel und Federbarett.

Entzückt ihn nicht der prangende Apfelbaumblust, der rosig schimmernd Hügel und Täler überschäumt, auf weite Strecken das Grün der Wiesen unter sich verbirgt und den Giebel des Jagdschlößchens in seiner Fülle ertrinken läßt? Denkt er noch an die durchsichtigen Ränke der Höflinge zurück, denen er wie gewohnt auf das strengste verboten hat, ihm zu folgen?

Sein Roß geht Schritt bergauf; sein Auge sieht und sieht doch nicht. Sein Herz fühlt träumend: die Welt ist herrlich und voll Hoffnung wie sechzehnjährige Mädchenbrüste. Sein schweifender Blick sagt ihm: all diese Schönheit des Frühlings ist nur der umfassende Blütenmantel, von welchem wie etwas Göttliches ein sechzehnjähriger Mädchenleib sich abhebt. Seine Seele dürstet nach Menschenfrühling.

Weiße Tauben fliegen über die Baumkronen hinweg und verschwinden in dem grauen Turm, der eben sichtbar wird. O Genevieve! Das Hoftor steht offen, als wäre der Gast erwartet: die Hufe trappeln auf die Steine hinein. Vom Stall her kommt ehrerbietig ein alter Knecht gelaufen, greift in die 116 Zügel und hält stumm das Tier, bis der hohe Herr abgestiegen ist, ihm alles mit einer erlösten Gebärde überläßt und das Haus betritt. Eine Welt versinkt in seinem Rücken.

Lautlose Zofenfüße fliehen vor ihm die Stiegen hinauf. Genevieve sitzt in der erhöhten Fensternische, neigt das Haupt in ihre beiden Hände und weint bitterlich. ». . . Der König!« flüstert die Magd und verschwindet. Aber sie hört es nicht. Und hört auch nicht den Männertritt, der jetzt vor der offenen Türe des Gemaches Halt macht.

Sonne, die aus dem duftigen Himmelsblau des Rundbogenfensters einfällt, durchleuchtet ihr zartes Nackengelock zu krausem Gold. Weiße Tauben spazieren auf dem breiten Mauergesims hin und her, ungeduldig darüber, daß ihnen keine Körner gestreut werden: und immer, wenn eine neue Taube im Fensterausschnitt erscheint und sich flatternd niederläßt, ist es, als grüßte der heilige Geist soviel Jugend und Schönheit in der Verdunkelung ihrer Trauer! Ein Wind fächelt herein, voll süßen Blütenhauches, und führt, indem er kühl über Arme, Knie und Sandalen des Mädchens hinwegstreift, den köstlichen Duft reiner, sonnenwarmer Kleider und eines jungen, blutwarmen Leibes mit sich durch das Gemach . . .

Des Königs Antlitz verfinstert sich. Aufatmend hat er alles Trübe des Lebens hinter sich geworfen und sich in dem Glück spiegeln wollen, das er diesem blonden Kinde schuf – und nun auch hier Schmerz und Schatten? Immer wieder neues Schluchzen durchschüttert den zarten Körper Genevieves, so daß sie gar nicht merkt, wer über die weichen Teppiche auf sie zuschreitet.

»Warum weint meine süße kleine Taube?«

Sie schrickt zusammen, hebt das Gesicht aus ihren feinen 117 Händen und erstarrt über dem unerwarteten Anblick in Mienen und Gebärden: nur die beiden letzten Tränen rollen ihr unbotmäßig aus den übervollen Lidern die Wangen herunter. Sie möchte reden und wagt es doch kaum; sie sucht Worte und findet sie nicht. »Majestät –«

Der König schüttelt den Kopf. »Hier bin ich nicht Majestät.«

Sie steht, allmählich gefaßter, von ihrem Sessel auf. »Sire –«

»Für dich bin ich nicht Sire!« Und er streckt ihr mit einem wehmütig-gütigen Lächeln beide Hände entgegen.

Genevieve legt zaghaft die ihren hinein. »Wenn Ihr denn wollt, daß ich Euch Vater nenne –«

»Das will ich! Und deinem Vater wirst du jetzt sagen, was dich so traurig macht, mein Kind.« Er ist ganz nahe an die erhöhte Fensternische und an ihren Stuhl herangetreten.

Da blickt sie ihm bittend aus ihren jungen klaren in seine vom Alter getrübten Augen.

»Mein Vater, Ihr seid der König von Frankreich. Rettet die tausend Kinder, die jetzt dem Meere zuziehen und sich nach dem Grabe des Erlösers einschiffen wollen! Wie sollte Gott es zulassen, daß Ihr mich aus Armut und Elend herausrisset und daß meine Füße hier auf weichen Teppichen schreiten und alles mir dient wie einem Fürstenkind, während so viele Knaben und Mädchen, die nicht schlechter sind als ich, Tag und Nacht durch Euer Land wandern, ihrem sicheren Verderben entgegen?«

Des Königs Stirne verdüstert sich wieder. »Woher weißt du diese Dinge?«

»Ein reisiger Mann ritt gestern vorbei und bat um einen Trunk. – O zürnt nicht, er hat mich nicht gesehen! Aber ich war bei der Muhme in der Küche und lauschte mit ihr in den Hof hinunter. Da erzählte er, daß oft schlimme Männer und 118 Frauen den Kindern folgen und ihnen Leides antun. Und die Muhme meinte, wenn sie auch bis ins heilige Land kämen, so wären dort die Heiden, die sie ans Kreuz schlagen werden, wie einst unsern Herrn Jesus Christus. Ihr seid ja auch einmal in Jerusalem gewesen, sagt die Muhme; Ihr müßt es wissen . . . Lieber, guter Vater, helft ihnen, wenn ich wieder froh werden soll . . .«

Sie legt ihre zarten Arme um seinen Hals und weint abermals an seiner Schulter. Er fährt ihr tröstend mit der linken Hand über das seidenfeine Haar, während die rechte ihren schlanken Leib an sich zieht; und während er nichts anderes denkt und fühlt, als daß er noch ein Kind an seiner Brust hält, blickt er über ihr angeschmiegtes Haupt hinweg durch das Rundbogenfenster: in die sonnige Frühlingslandschaft hinunter, in die weite Ferne. Er weiß, was Jerusalem ist! Bitternis.

»Du bist ein Närrchen, Genevieve! Wenn ihnen das Wandern nun einmal Freude macht? Zwingt denn jemand diese Knaben und Mädchen, ihre Eltern und ihre Heimat zu verlassen? Sie gehen von selber; und nichts wird sie zurückhalten können . . . Aber sei's drum! Sag du mir, was ich tun soll! Lehr du mich die Welt regieren!«

Sie richtet sich auf und legt mit einem unbeirrbaren Blick ihre Hände auf seine alten, müden Schultern. »Sende Boten aus im ganzen Lande und gebiete, daß die Kinder überall freundlich aufgenommen und zu ihren Eltern zurückgeschickt werden! – Bitte, tu's! – Versprich mir, daß du es tust!« Und sie schließt flehend vor ihm die erhobenen Hände und klatscht sie gleich darauf vor Freude zusammen, wie sie in seinem ernsten Gesicht gütige Gewährung wahrzunehmen glaubt.

Der König tritt in die Fensternische hinauf. Er lächelt.

119 »Es soll geschehen!« sagt er. »Aber zuerst darf ich doch ein Stündchen bei dir ausruhen und dir zuschauen, wie du deine Tauben fütterst. Nicht? – Siehst du, da kommt schon wieder eine . . .« Und er legt behutsam seinen Mantel ab und setzt sich in den Sessel, welcher dem ihrigen gegenübersteht und in welchem für gewöhnlich die Pächtersfrau sitzt. Und Genevieve hebt das Säcklein mit Körnern aus der Ecke und streut Futter auf den breiten Mauersims.

Der König lehnt sich schwer zurück. Er spürt an dem aufgestützten Arm den warmen Strahl der Frühlingssonne und schaut den schlanken, leichten Bewegungen seines Lieblings zu. Genevieve hat sich ebenfalls wieder auf ihren Sitz niedergelassen und denkt eine Weile lang nur an ihre Tauben, die mit wuchtigen Schlägen ihrer silberweiß schimmernden Flügel angeflattert kommen oder wieder auf- und wegfliegen; und so still verhält sich der König vor diesem Schauspiel, daß die Tierchen Genevieve die Körner zahm aus der Hand fressen, dann ihr auf Schoß, Arm und Schultern fliegen, ja, zuletzt ihr die Atzung zwischen den feuchtroten sechzehnjährigen Lippen wegpicken. So sitzen die beiden Menschen einander gegenüber; und nichts ist, was sie trennte, als der holde Frühlingswind, der von Zeit zu Zeit wie ein warmer, süßer Atem des Himmels zwischen ihnen durch fächelt.

König Philipp, was weiß dieses Kind vom Leben? Es denkt nicht daran, daß du seinen jungen Leib lieben könntest, wie der Mann das Weib liebt. Es denkt nicht daran, daß es selber schon ein sich hingebendes liebes Weib sein möchte. Die Jugend ist für das Alter zum Anschauen da. König Philipp, wo ist Jerusalem? König Philipp, wo liegt das heilige Land?

Ein ganzes, großes Reich gehorcht ihm: er braucht nur zu winken und die Schätze der Erde liegen zu seinen Füßen; er 120 braucht nur zu blicken und die schönsten Frauen sinken in seine Arme. Er aber sitzt hier, bei diesem Kinde, und findet köstlicher als allen Genuß auf dieser Welt die süße Anmut, mit der sie die weißflatternden lebhaften Tierchen füttert, und die zarte mütterliche Liebe, mit welcher ihre jungfräuliche Seele sich der jungen Brüder und Schwestern erbarmt, die jetzt durch die Gauen seines Landes wandern. Was kann es Holderes geben als diesen jungen Leib, der noch ganz das Werk der ihn durchleuchtenden Seele ist und in jeder seiner Bewegungen jene tiefe Güte offenbart, mit welcher das Leben so ahnungslos in dieses Dasein tritt?

Die Tauben sind alle fortgeflogen, gesättigt, und bleiben weg. Genevieve kehrt zu dem Gedanken zurück, der sie nicht losgelassen hat: sie kniet vor ihrem »Vater« nieder, schmiegt sich an sein Knie und betrachtet die große goldene Münze, die an seiner Brust hängt. Und indem ihre Hände mit ihr spielen, finden ihre Augen seine Augen; und ihre Lippen beginnen wieder lieblich zu flüstern:

»Gelt, du tust es! . . . Gelt, du tust es . . .«

 


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