Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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Sechstes Kapitel

1. Die hundertjährige Jubelfeier in Rom. Richard Annibaldi vom Colosseum und Gentilis Orsini Senatoren 1300. Toscanella dem Kapitol unterworfen. Dante und Johann Villani als Pilger in Rom.

Noch einen großen Triumph erlebte Bonifatius VIII., ehe er sich schwereren Kämpfen ausgesetzt fand; er eröffnete das XIV. Jahrhundert mit einer berühmt gewordenen Pilgerfeier. Das hundertjährige Jubiläum war im alten Rom durch glänzende Spiele begangen worden, doch die Erinnerung daran erlosch, und kein Bericht erzählt, daß Schluß oder Beginn eines Säkulum im christlichen Rom durch Kirchenfeste je gefeiert wurde. Die massenhaften Pilgerfahrten zum St. Peter hatten während der Kreuzzüge aufgehört; nach deren Erlöschen erwachte die alte Sehnsucht der Völker wieder und zog sie nach den Apostelgräbern. An diesem frommen Triebe hatte freilich die Klugheit der römischen Priester nicht geringen Anteil. Man begann in Rom um die Weihnachtszeit 1299 (und mit Weihnachten schloß der Stil der römischen Kurie das Jahr) in Scharen nach dem St. Peter zu ziehen, aus der Stadt wie vom Lande. Ein Ruf von Sündenablaß und Pilgerung nach Rom erscholl in der Welt und brachte sie in Bewegung. Dem immer stärkeren Zuge gab Bonifatius Form und Sanktion, indem er am 22. Februar 1300 die Jubelbulle verkündigte, welche allen denen, die während des Jahrs die Basiliken Sankt Peter und Paul besuchen würden, völligen Sündenablaß verhieß. Die Einheimischen sollten dreißig, die Fremden fünfzehn Tage lang diese Wallfahrt fortsetzen. Nur die Feinde der Kirche wurden ausgeschlossen; als solche bezeichnete der Papst Friedrich von Sizilien, die Colonna und ihre Anhänger und sonderbarerweise alle Christen, welche mit Sarazenen Handel trieben. Bonifatius benutzte demnach das Jubiläum, seine Gegner öffentlich zu brandmarken und vom Gnadenschatz des Christentums auszuschließen.

Der Zudrang war beispiellos. Rom bot Tag und Nacht das Schauspiel von heergleich hereinströmenden oder herausziehenden Pilgern dar. Ein Betrachter dieser großen Szene konnte von einer Höhe der Stadt herab von Süd, Nord, Ost und West Menschenschwärme gleich wandernden Völkern auf den alten Römerstraßen herankommen sehen, und wenn er sich unter sie mischte, Mühe haben, ihre Heimat zu erraten. Es kamen Italiener, Provençalen, Franzosen, Ungarn, Slawen, Deutsche, Spanier, selbst Engländer. Italien gab den Wandernden die Straßen frei und hielt Gottesfrieden. Sie zogen einher im Pilgermantel oder in den Nationaltrachten ihrer Länder, zu Fuß, zu Pferde, auf Karren, Müde und Kranke führend, beladen mit ihrem Gepäck; man sah hundertjährige Greise von ihren Enkeln geleitet und Jünglinge, welche wie Aeneas Vater oder Mutter auf ihren Schultern nach Rom trugen. Sie redeten in vielen Landessprachen, aber sie sangen in der einen Sprache der Kirche Litaneien, und ihre sehnsüchtigen Vorstellungen hatten ein und dasselbe Ziel. Wenn sie in der sonnigen Ferne den finstern Wald der Türme der heiligen Stadt erscheinen sahen, so erhoben sie den Jubelruf »Roma! Roma!«, wie Schiffer, die nach langer Fahrt auftauchendes Land entdecken. Sie warfen sich zum Gebete nieder und richteten sich auf mit dem inbrünstigen Geschrei: »St. Petrus und Paulus, Gnade!«. An den Toren empfingen sie ihre Landesgenossen und Verpflegungsbeamte der Stadt, ihnen Herberge zuzuweisen, doch sie zogen erst zum St. Peter, die Treppe des Vorhofs auf Knien zu ersteigen, und warfen sich dann mit Ekstase am Apostelgrabe nieder.

Ein ganzes Jahr lang war Rom ein völkerwimmelndes Pilgerlager und von babylonischer Sprachenverwirrung erfüllt. Man sagt, daß täglich 30 000 Pilger aus- und einzogen und daß 200 000 Fremde sich täglich in der Stadt befanden. Der Umfang Roms wurde nach langer Zeit zum erstenmal wieder hinreichend belebt, wenn auch nicht ausgefüllt. Eine musterhafte Verwaltung sorgte für Ordnung und für billige Preise. Das Jahr war fruchtreich; die Campagna und die nahen Provinzen schickten Vorrat in Fülle. Ein pilgernder Chronist erzählt: »Brot, Wein, Fleisch, Fische und Hafer waren reichlich und billig auf dem Markt, das Heu aber sehr teuer; die Herbergen so kostbar, daß ich für mein Bett und für die Stallung meiner Pferde, außer dem Heu und Hafer, täglich einen Torneser Groschen bezahlen mußte. Als ich am heiligen Christabend Rom verließ, sah ich einen großen Pilgerschwarm fortziehen, den niemand berechnen konnte. Die Römer wollen im ganzen zwei Millionen an Frauen und Männern gezählt haben. Oft sah ich Männer wie Weiber unter die Füße getreten, und mit Mühe entkam ich selbst einige Male dieser Gefahr.«

Der Weg, welcher aus der Stadt über die Engelsbrücke zum St. Peter führte, war zu eng; man eröffnete daher in der Mauer, nicht weit vom alten Grabmal Meta Romuli, eine neue Straße am Fluß. Um Unglücksfälle zu verhüten, traf man die Vorrichtung, daß die Hinziehenden auf der einen, die Herkommenden auf der andern Seite der Brücke gingen, welche damals, mit Buden bedeckt, der Länge nach in zwei Hälften geteilt war. Prozessionen zogen ohne Aufhören nach St. Paul vor den Toren und nach St. Peter, wo man die schon hochberühmte Reliquie, das Schweißtuch der Veronika, zeigte. Jeder Pilger legte eine Opfergabe am Apostelaltar nieder, und derselbe Chronist von Asti versichert als Augenzeuge, daß am Altar in St. Paul Tag und Nacht zwei Kleriker standen, die mit Rechen in der Hand zahlloses Geld zusammenscharrten. Der märchenhafte Anblick von Geistlichen, welche lächelnd Geld wie Heu aufschaufelten, veranlaßte boshafte Ghibellinen zu behaupten, daß der Papst das Jubeljahr nur um des Geldgewinnes willen ausgeschrieben habe. Und Geld brauchte Bonifatius freilich viel, um seinen Krieg wider Sizilien zu bestreiten, welcher unberechenbare Summen verschlang. Wenn die Mönche in St. Paul statt Kupfermünzen Goldflorene vorgefunden hätten, so würden sie allerdings fabelhafte Reichtümer gesammelt haben; jedoch die Geldberge in St. Paul und St. Peter bestanden meist nur aus kleinen Münzen, den Gaben geringer Pilger. Der Kardinal Jakob Stefaneschi bemerkte dies ausdrücklich und beklagte die Umwandlung der Zeiten, wo nur noch Arme opferten, die Könige aber, unähnlich den drei Magiern, dem Heiland nichts mehr zum Geschenke brachten. Die Jubiläumseinnahme, wovon der Papst den beiden Basiliken Kapitalien zum Ankauf von Gütern zuweisen konnte, war gleichwohl beträchtlich genug. Wenn in gewöhnlichen Jahren die im St. Peter dargebrachten Pilgergeschenke 30 400 Goldgulden zu betragen pflegten, so mag man daraus schließen, um wieviel ansehnlicher die Gewinste des großen Jubeljahrs gewesen sein müssen. »Die Gaben der Pilger«, so schrieb der Chronist von Florenz, »trugen der Kirche Schätze ein, und die Römer alle wurden durch den Verkauf von Waren reich.«

Das Jubeljahr wurde in der Tat für sie ein Goldjahr. Sie behandelten daher die Pilger mit Zuvorkommenheit, und nirgend wurde von Gewalttaten gehört. Wenn der Sturz des Hauses Colonna dem Papst Feinde in Rom erweckt hatte, so entwaffnete er sie durch den unermeßlichen Vorteil, welcher den Römern erwuchs, die immer nur von dem Gelde der Fremden gelebt haben. Ihre Senatoren waren damals Richard Annibaldi vom Colliseum (aus welchem die Annibaldi bereits die Frangipani verdrängt hatten) und Gentilis Orsini, deren Namen man noch heute auf einer Inschrifttafel im Kapitol lesen kann. Diese Herren ließen sich durch die fromme Begeisterung der Wallfahrt nicht hindern, Kriege in der Nachbarschaft zu führen; sie ließen die Pilger an den Altären beten, aber sie selbst rückten mit den Bannern Roms gegen Toscanella und unterwarfen diese Stadt dem Kapitol.

Man mag sich vorstellen, wie massenhaft Rom damals Reliquien, Amulette und Heiligenbilder verkaufte, und zugleich, wie viele Reste des Altertums, Münzen, Gemmen, Ringe, Bildwerke, Marmortrümmer und auch Handschriften, von den Pilgern in ihre Heimat entführt wurden. Wenn sie ihren religiösen Trieben genuggetan hatten, warfen diese Wallfahrer staunende Blicke auf die Monumente der Alten. Das antike Rom, welches sie mit dem Mirabilienbuch durchwanderten, übte dann seinen tiefen Zauber auf sie aus. Dies klassische Theater der Welt belebten im Jahr 1300 neben den Erinnerungen des Altertums andere an die Taten der Päpste und Kaiser seit Karl dem Großen, und ein für die Sprache der Geschichte empfänglicher Geist mußte gerade damals mächtig von ihr ergriffen werden, wo Pilgerscharen aller Länder in dieser majestätischen Trümmerwelt für den ewigen Bezug Roms auf die Menschheit die lebendigen Zeugen waren. Es ist kaum zu zweifeln, daß Dante in jenen Tagen Rom sah und daß ein Strahl von ihnen in sein unsterbliches Gedicht fiel, welches mit der Osterwoche des Jahres 1300 beginnt. Der Anblick der Weltstadt entzündete die Seele eines andern Florentiners. »Auch ich befand mich«, so schreibt Giovanni Villani, »in jener gesegneten Pilgerung, in der heiligen Stadt zu Rom, und wie ich die großen und antiken Dinge in ihr sah und die Geschichten und großen Taten der Römer las, welche Virgil, Sallust, Lucan, Titus Livius, Valerius und Paulus Orosius und andere Meister von Historien beschrieben haben, so nahm ich Stil und Form von ihnen, obwohl ich als Schüler nicht würdig war, ein so großes Werk zu tun. Und so im Jahre 1300 von Rom zurückgekehrt, begann ich dies Buch zu schreiben, zu Ehren Gottes und Sankt Johanns und zur Empfehlung für unsere Stadt Florenz.« Die Frucht der schöpferischen Aufregung Villanis war seine Geschichte von Florenz, die größte und naivste Chronik, welche Italien in seiner schönen Sprache hervorgebracht hat; und mancher andere Mann von Talent mochte damals befruchtende Eindrücke von Rom empfangen haben.

Für Bonifatius war das Jubiläum ein wirklicher Sieg. Das Zusammenströmen der Menschheit nach Rom zeigte ihm, daß ihr Glaube diese Stadt noch als den heiligen Bundestempel der Welt betrachtete. Das großartige Versöhnungsfest schien wie ein Gnadenstrom über seine eigene Vergangenheit hinwegzufließen und die gehässigen Erinnerungen an Cölestin V., an den Krieg mit den Colonna und alle Anklagen seiner Feinde in Vergessenheit zu tauchen. Er konnte in jenen Tagen in der Fülle eines fast göttlichen Machtgefühles schwelgen wie kaum ein Papst vor ihm. Er saß auf dem höchsten Throne des Abendlandes, welchen die Spolien des Reiches schmückten, als der »Vikar Gottes« auf Erden, als das dogmatische Oberhaupt der Welt, die Schlüssel des Segens und des Verderbens in der Hand; er sah Tausende aus allen Fernen vor seinen Thron kommen und sich vor ihm wie vor einem höheren Wesen in den Staub werfen. Nur Könige sah er nicht. Außer Karl Martell kam kein Monarch nach Rom, als Bekenner von Sünden den Ablaß zu nehmen. Dies zeigte, daß der Glaube, welcher einst die Schlachten Alexanders III. und Innocenz' III. gewonnen hatte, an Königshöfen erloschen war.

Bonifatius VIII. schloß das denkwürdige Fest am Weihnachtsabend des Jahrs 1300. Es macht eine Epoche in der Geschichte des Papsttums wie Roms; denn auf dies begeisterte Jubeljahr folgte als schrecklicher Gegensatz das tragische Ende jenes Papsts, der Fall des Papsttums von seiner Höhe und das Versinken der Stadt Rom in schauervolle Einsamkeit.


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