Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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4. Die Regionen der Stadt im X. Jahrhundert. Die Straßen. Damalige Bauart. Beschreibung eines Palasts. Große Anzahl großer Ruinen. Plünderung Roms durch die Römer.

Wir wollen nicht aus jenen Fabelbüchern, sondern aus Urkunden eine Graphia Roms im X. Jahrhundert zusammenstellen; sie wird freilich so regellos werden, wie die Mirabilien es sind, weil wir keinen Führer durch das Labyrinth der Stadt haben. Wir versuchen, diese Schilderung nach Regionen zu entwerfen, doch die Urkunden boten sie uns nicht vollständig dar. Es ist merkwürdig, daß eine bürgerliche Regioneneinteilung fortdauernd sichtbar bleibt, während die sieben geistlichen Bezirke unserem Blick verschwinden; sie stimmte nicht mehr mit der Augusteischen überein und mußte in verschiedenen Epochen sich verändert haben. Schon im X. und XI. Jahrhundert zählte die eigentliche Stadt Rom zwölf Regionen; Trastevere bildete wahrscheinlich die dreizehnte. Sie wurden mit Zahlen bezeichnet, hatten aber auch ihre eigenen Namen. Jede Region stand unter einem Kapitän oder Vorsteher, und diese zwölf oder dreizehn Führer der städtischen Bannerschaften begegneten uns bereits im Jahre 966 als mächtige Häupter des römischen Volks unter dem fraglichen Namen Decarcones.

Von den zwölf Regionen jener Epoche vermögen wir die Lage der X. und XI. nicht zu bestimmen.

Die I. begriff den Aventin und erstreckte sich über Marmorata und Ripa Graeca zum Fluß; von den dortigen antiken Kornspeichern hieß sie auch jetzt noch Horrea.

Die II. Region umfaßte den Coelius und einen Teil des Palatin bis zum Aventin. Es werden in ihr aufgeführt die IV Coronati, die Forma Claudia, Circus Maximus, Septizonium, Porta Metrovia oder Metrobi, vor welcher sumpfige Strecken, die prata Decii oder Decenniae, lagen.

Die III. Region findet sich bezeichnet durch Porta Maggiore, Santa Croce, die Claudia, welche zwei Regionen durchschnitt, die Merulana, das Kloster S. Vito und S. Lucia Renati, St. Pastor und den Arcus Pietatis. Sie umfaßte also Gegenden, die der V. Augusteischen Esquiliae angehörten.

Die IV. zeigt sich einmal durch den Campus St. Agathae bestimmt; sie grenzte vielleicht an St. Agatha in Subura in Region VII und umfaßte Quirinal und Viminal.

In der V. Region lag ein Teil des Marsfeldes, und darin das Mausoleum des Augustus, die Colonna Antonina, die Via Lata, S. Silvestro in Capite, die Posterula St. Agathae am Tiber, und wohl auch der Pincius und das Tor St. Valentin ( del Popolo). Dieses Gebiet gehörte ehemals teils zur Region IX Circus Flaminius, teils zu Region VII Via Lata.

Die VI. Region wird bezeichnet durch die Kirche S. Maria in Sinikeo in dem heutigen Viertel Trevi.

In der VII. lagen St. Agatha super Suburam, die Trajanssäule und der darangrenzende Campus Caloleonis.

Die VIII. Region hieß im X. Säkulum Sub Capitolio, wie sie in den Katalogen der Päpste mehrmals genannt wird; es hatte demnach das alte Forum Romanum seine Zahl behalten.

Die IX. war der Bezirk, wo S. Eustachio, die Navona, das Pantheon, die Alexanderthermen, S. Lorenzo in Lucina liegen. Sie umfaßte das eigentliche Marsfeld, also die alte Region IX Circus Flaminius, aus welcher zwei Bezirke entstanden waren. Ein Zufall hat gerade für diese Region des X. Jahrhunderts die meisten Urkunden erhalten; sie nennen uns sehr häufig einen Ort ad Scorticlarios oder in Scorticlam, der dem ganzen Gebiet den Namen gab. Er bezeichnet das Gerberquartier, welches heute am Fluß in der Regola liegt, aber damals bei den Alexanderthermen am Tiber sich befand.

Die X. und XI. Region sind uns nirgends in Dokumenten jener Zeit begegnet; aber die XII. taucht aus einem Diplom mit dem antiken Namen Piscina Publica auf, der sich also nicht verändert hatte.

Die alte XIII. (Aventinus) erscheint im Mittelalter aufgegangen in die Region I, welche den Aventin umfaßte. Dagegen wird Trastevere noch im XI. Jahrhundert als XIV. Region wie im Altertum bezeichnet.

Wie die Namen Via Lata, Caput Africae und Subura sich erhalten hatten, mußten auch andere antike Straßen in Rom noch gekannt sein; indes die meisten wurden schon von Kirchen, einige nach hervorragenden Monumenten benannt, wie wir das vom Colosseum, Marcellustheater und den Marmorkolossen sahen. Oft findet sich in Urkunden für größere Verkehrsstraßen in Rom der Ausdruck Via publica oder communis, und schon im X. Jahrhundert gab es eine Via Pontificalis, die durch das Marsfeld zum St. Peter führte. Diese regellosen Straßen der Stadt, von denen einige noch antik, andere zwischen Schutt und Ruinen neu entstanden waren, müssen einen finsteren und bizarren Anblick gewährt haben. Ihre Verworrenheit und Enge wie das wüste Aussehen der Wohnungen würden uns abgestoßen, aber die malerische Bauart uns überrascht haben. Wie oft noch heute, hatte jedes römische Haus eine freie Steintreppe; Türen und Fenster hatten römische Bogenform; die Gesimse waren mit scharfen Ziegelkanten markiert; die Dächer häufig mit Schindeln gedeckt; die Mauern aus gebranntem Stein und wohl nicht übertüncht. Die Häuser hatten in der Regel einen Söller, woher wir so oft dem Ausdruck casa solorata begegnen. Vorhallen, die man in ganz Italien mit dem deutschen Wort Laubia nannte, auf Pfeilern oder antiken Säulen ruhend, waren allgemein und erhielten sich lange in Rom. Man muß heute Trastevere oder das Viertel Pigna und Parione durchwandern, um die letzten Reste jener mittelalterlichen Bauart zu sehen. Wir haben keine authentische Schilderung eines vornehmen römischen Wohnhauses jener Zeit; eine auf den Palast der Herzöge von Spoleto bezogene Beschreibung weist auf das Altertum zurück. Es werden darin zwölf Teile unterschieden und erklärt: das Proaulium und Salutatorium; das Consistorium, wo man sich vor dem Speisen versammelt und die Hände wäscht; der Trichorus oder Speisesaal; der Zetas Hiemalis, ein gewärmtes Wintergemach; der Zetas Estivalis, ein gekühlter Sommerraum; das Epikastorium (wohl Epidikasterium), ein Geschäftssaal; daneben Triklinien von je drei Lagerplätzen; Thermen; ein Gymnasium oder Spielplatz; die Küche; das Columbum, woraus Wasser in die Küche floß; der Hippodrom und Arcus deambulatorii, Säulengänge, womit auch die Schatzkammer verbunden ist.

Einige der antiken Paläste, welche den edlen Geschlechtern Cethegus, Maximus, Gracchus, Anicius gehört hatten, konnten sich noch im X. Jahrhundert erhalten haben, wenn auch durch Verfall und Verwandlung unkenntlich geworden. Denn warum sollte nicht eins jener aus unverwüstlichen Quadern errichteten Privathäuser fortgedauert haben wie ein Tempel oder ein Triumphbogen? Andere burgartige Paläste waren neu entstanden, und wohl immer auf den Fundamenten antiker Gebäude. Wenn es uns vergönnt wäre, die Paläste der Marozia auf dem Aventin, Alberichs bei St. Apostoli, die Wohnungen der Baruncii, der Cencii und der Crescentier in der Nähe des Pantheon oder die Kaiserburg Ottos III. zu sehen, so würden wir Gebäude aus Ziegelmauern vor uns haben, so wunderlich mit alten Konsolen und Friesen verziert und von Bogenfenstern mit ihren kleinen Säulen durchbrochen, wie es noch die Bauweise an der sogenannten Casa di Crescenzio zeigt, dem ältesten Privatgebäude aus dem Mittelalter, welches heute in Rom bekannt ist. Antike Denkmäler liehen den schönsten Schmuck zu Kirchen und Palästen her, und wenn wir noch heute in den ältesten Stadtbezirken über die vielen Säulen korinthischen und jonischen Stils uns verwundern, die als Wandpfeiler in die elendesten Häuser eingemauert sind, so mag man sich vorstellen, wie im X. Jahrhundert fast alle größeren Häuser der Stadt mit Resten des Altertums versehen waren. Der Palast Alberichs mochte manche antiken Mosaikböden, Vasen und Gefäße, doch kaum eine Statue aufweisen; sicher sah man in ihm mit goldenem Bildwerk überzogene lectuli oder Ruhelager, die mit Seidenbrokat des Orients bedeckt waren, wie solche Ratherius in den bischöflichen Wohnungen gefunden hat. Die Ausstattung dieser Zimmer mit schwerfälligen Geräten in Goldschnitzerei, mit Sesseln, die noch an das Antike streiften, mit bronzenen Kandelabern, mit Schreinen, worin keine Bücher standen, aber kostbare goldene Becher ( Scyphi) oder silberne Krateren oder Trinkmuscheln ( Conchae), kann man sich aus Musiven und Miniaturen jener Zeit herstellen, wo die Luxusmode wesentlich von Byzanz die phantastische Form, die arabeskenartige Buntheit und die musivische Verzierung entlehnte.

Die Menge der alten Bauwerke war damals noch sehr groß. Die meisten Triumphbogen, Portiken, Theater, Thermen und Tempel standen noch als herrliche Ruinen da und zeigten dem lebenden Geschlecht auf jedem Schritt die Größe der Vergangenheit, die Kleinheit der Gegenwart. Und nur aus diesem das ganze Mittelalter hindurch die Stadt beherrschenden antiken Charakter erklären sich viele geschichtliche Erscheinungen. Seit Totila hatte kein Feind Rom beschädigt; aber kein Kaiser noch Papst schützte die Monumente mehr. Schon Karl der Große hatte Säulen und Skulpturen aus Rom nach Aachen geführt, und die Päpste, welche die größten Denkmäler zuerst als Eigentum des Staats betrachteten, hatten bald weder Sinn noch Zeit oder Macht, sich um ihr Dasein zu bemühen. Die Plünderung der Stadt wurde den Römern freigegeben; die Priester schleppten Säulen und Marmor in ihre Kirchen, Adel und Klerus führten Türme auf antiken Prachtmonumenten auf, die Bürger richteten in Thermen und Circus ihre Schmieden, Hanfstrickereien und Spinnereien ein. Wenn der Tiberfischer an den Brücken oder der Fleischer am Theater des Marcellus oder der Bäcker seine Ware feilbot, lag sie auf Marmorplatten, die einst vielleicht den Herren der Welt, dem Caesar, Marc Anton, Augustus und so vielen Konsuln und Senatoren im Theater oder Circus zum Sitze gedient hatten. Die Sarkophage von Helden standen als Wasserzuber, Waschkufen, Schweinetröge umher wie noch am heutigen Tag; der Tisch des Schusters oder Schneiders mochte nicht minder der Cippus eines erlauchten Römers oder eine Platte von Alabaster sein, auf der einst die edlen Matronen Roms ihren Schmuck ausgebreitet hatten. Wenn die Stadt im X. Jahrhundert schon wenig bronzene Bildsäulen mehr besaß, so muß doch die Menge der marmornen Statuen noch sehr groß gewesen sein. Wohl auf allen Plätzen und Straßen begegnete der Blick umgestürzten oder verstümmelten Kunstwerken, und noch waren die Portiken, die Theater und Thermen nicht so ganz in Schutthaufen verwandelt, daß nicht manche ihrer Bildwerke noch gesehen werden konnten. Statuen der Kaiser und großen Römer standen oder lagen noch unbedeckt auf dem Boden; manche antiken Wandgemälde wurden noch in ihren Räumen gesehen. Aber der Sinn für die Werke der Kunst war so vollkommen erstorben, daß auch nicht ein Schriftsteller jener Epoche ein Wort für sie besessen hat. Die Römer selbst betrachteten sie nur noch als nützliches Material. Seit Jahrhunderten war Rom einer großen Kalkgrube gleich, in welche man den schönsten Marmor hineinwarf, daraus Mörtel zu brennen; und nicht ohne Ursache finden sich in Diplomen des X. und XI. Jahrhunderts häufig Namen wie Calcararius, der Kalkbrenner, was nicht von ihrem Gewerbe, sondern davon herzuleiten ist, daß sie im Besitz von Kalkgruben waren oder an solchen wohnten. Seit Jahrhunderten also plünderten und zerstörten die Römer das alte Rom, zerlegten, zerbrachen, verbrannten, verwandelten dasselbe, und wurden niemals mit ihm fertig.


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