Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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3. Der Prozeß des Arvandus. Fruchtlose Unternehmungen gegen Afrika. Übermut Rikimers und sein Bruch mit Anthemius. Er belagert Rom. Dritte Plünderung Roms 472. Olybrius Kaiser. Tod Rikimers. Sein Denkmal in Rom: S. Agata in Suburra. Glycerius; Julius Nepos, Kaiser. Die germanischen Söldner empören sich. Orestes erhebt seinen Sohn Romulus Augustulus zum Kaiser. Odoaker Herr von Italien 476. Ausgang des abendländischen Kaisertums.

Die Regierung, des Anthemius war ohne Glück und ohne Kraft; sie zeichnet nur ein merkwürdiger Vorfall aus: der Prozeß des Präfekten Galliens, Arvandus. Dieser übermütige Beamte hatte die große Provinz bedrückt, war von den Edeln des Landes angeklagt worden und gezwungen, sich nach Rom vor den Senat zu begeben. Die erlauchte Kurie machte sich zum höchsten Richtertribunal, und der Angeklagte wurde auf dem Kapitole festgesetzt. Der letzte Staatsprozeß Roms im Charakter der Republik erregt unsere Neugierde in hohem Grade; außerdem hat Sidonius, der persönliche, mutige Freund des Angeklagten, diese Vorgänge beschrieben. Arvandus, in Haft bei dem Comes des Schatzes Flavius Asellus, mit der seinem Range gebührenden Achtung behandelt, bewegte sich frei auf dem Kapitol. Im weißen Kleide des Kandidaten drückte er den zahlreichen Großen, die ihn zu besuchen kamen, die Hände, sprach sich verächtlich über die Mißbräuche im Staate aus, schonte weder Senat noch Kaiser und wandelte auf dem Platz umher oder nahm die Seidenstoffe und den Schmuck in Augenschein, welchen die Juweliere dort in ihren Buden feilboten. Als der Termin des öffentlichen Prozesses kam, erschienen die vier gallischen Ankläger in unscheinbaren Gewändern der Flehenden: sie erhoben mit anständiger Ruhe ihre Stimme gegen den stolzen Aristokraten, und er anerkannte mit verächtlichem Trotz einen Brief, welcher ihn hochverräterischer Pläne gegen den Kaiser und der Absicht überwies, die Provinz Gallien zwischen Westgoten und Burgundern zu teilen. Der außerordentliche Fall versetzte den Senat in die Zeit des Verres und des Catilina zurück und gab ihm das Bewußtsein seiner richterlichen Majestät wieder: einstimmig sprach er Arvandus schuldig. Der Präfekt Galliens wurde kassiert, unter die Plebejer »zurückversetzt« und zum Tode durch Henkerhand verurteilt. Er erwartete dessen Vollziehung nach den gesetzlichen dreißig Tagen in einem Kerker der Äskulapischen Tiberinsel, bis es seinem Freunde Sidonius und andern einflußreichen Personen gelang, das Todesurteil in Exil zu verwandeln. Dieser Prozeß war eine der schönsten Ehren, womit der altersschwache Senat seine letzten Tage zierte, doch für Gallien nur eine geräuschvolle Genugtuung, denn die Statthalter dieses Landes fuhren fort, es auszusaugen, ja den Westgoten zu verraten, und schon der unmittelbare Nachfolger des Arvandus, Seronatus, ein neuer Catilina, mußte vom Senat mit dem Tode bestraft werden.

Die Rüstung gegen die Vandalen, mit vereinten Kräften des Ostens und Westens betrieben, und eine der größten Anstrengungen des Reichs, welchem die unausgesetzten Raubzüge der Afrikaner an den Küsten des Mittelmeers das Leben bedrohten, erschöpfte Byzanz und Rom, und doch hatte der Feldzug in Afrika unter der Führung des Basiliscus und Marcellinus im Jahre 468 einen unglücklichen Ausgang. Das Ansehen des Anthemius, von welchem Rom wegen seiner Verbindung mit Konstantinopel die Herstellung Afrikas erwartet hatte, erlitt einen empfindlichen Stoß, und in demselben Maße, als die Macht des Kaisers sich schwächte, wuchs die Anmaßung Rikimers. Der morgenländische Kaiser hatte sich von Aspar, einem gefürchteten Manne ähnlicher Stellung im Reich, glücklich zu befreien gewußt, aber Anthemius vermochte sich nicht dem Joch seines allmächtigen Ministers und Schwiegersohnes zu entziehen. Nach einem offenen Bruche war Rikimer nach Mailand gegangen, wo er seinen Sitz aufschlug und durch das Gerücht, er habe sich mit den Barbaren jenseits der Alpen in Verbindung gesetzt, Rom erschreckte. Ein Vergleich zwischen ihm und dem Kaiser durch den Bischof Epiphanius von Ticinum oder Pavia fruchtete nur eine scheinbare Aussöhnung. Rikimer brach mit einem Barbarenheer von Mailand auf, rückte vor Rom und belagerte die Stadt, indem er neben der Aniobrücke vor dem Salarischen Tor sein Lager aufschlug. Es war im Jahre 472.

Während er Rom bedrängte, traf bei ihm von Konstantinopel her Anicius Olybrius ein, mit welchem er lange vorher eine Übereinkunft geschlossen hatte. Dieser Senator von erlauchtem Geschlecht hatte sich zur Zeit der Einnahme Roms durch Geiserich nach Konstantinopel gerettet und war dort der Gemahl Placidias geworden, der Tochter Eudoxias. Durch diese seine Gattin war er der einzige Erbe der Ansprüche des Stammes Theodosius' des Großen, und deshalb schien er der geeignetste Mann zu sein, den Griechen Anthemius zu stürzen. Der Kaiser verteidigte sich jedoch mit Mut, obgleich seine Streitkraft gering und die Stadt selbst von Anhängern Rikimers und von Arianern erfüllt war. Die Pest brach aus, Hungersnot wütete in Rom, wo man an Übergabe dachte. Sie hielt noch ein Fremdling auf; der Gote Bilimer, Befehlshaber in Gallien, war in Eilmärschen zum Entsatz herbeigezogen und hatte sich mit seinen Truppen nach Rom geworfen. Aber der transtiberinische Stadtteil befand sich bereits in der Gewalt Rikimers, und vom Vatikan und dem Grabmale Hadrians, welches noch nicht als Befestigung bemerkt wird, versuchte er über die Brücke durch das Aurelische Tor in die Stadt zu dringen. Nach einem blutigen Kampf, in welchem Bilimer fiel, erzwang Rikimer das Tor, worauf seine Söldner, ein gemischter Haufe von Germanen und alle arianischen Glaubens, sich mordend und raubend in die Stadt hinabstürzten. Es war der 11. Juli 472.

Auch von dieser Plünderung fehlt jede bestimmte Nachricht in bezug auf das Schicksal der Monumente der Stadt; die Schriftsteller wissen nichts von Zerstörungen durch Feuer, noch nennen sie irgendein vernichtetes Bauwerk. Nur in einer Inschrift wird gesagt, daß der Stadtpräfekt Anicius Acilius Aginatius Faustus eine Bildsäule der Minerva herstellen ließ, deren Tempel vom Feuer zerstört worden war. Nach einem alten Bericht wurden nur jene zwei Regionen verschont, welche Rikimer schon früher besetzt gehalten hatte, nämlich das vatikanische, damals schon mit Klöstern, Kirchen und Hospitälern erfüllte Gebiet, und der Janiculus oder Trastevere, welche Stadtteile eine einzige Region bildeten. Es geht daraus hervor, daß der St. Peter keine Plünderung erlitt, aber ganz Rom wurde den germanischen Söldnern preisgegeben.

In die von Hunger und Pest, von Mord und Raub entstellte Stadt zog jetzt Flavius Anicius Olybrius ein, um vom Haupte des in Stücke gehauenen Anthemius das Diadem zu nehmen, wonach er schon lange getrachtet hatte. Schon vor der Einnahme Roms mit Bewilligung Leos und auf Verlangen des Vandalenkönigs zum Kaiser ernannt, nahm er Besitz vom Cäsarenpalast, und er ließ sich vom Senat in seiner Würde bestätigen. Aber den Plünderer Roms, den Mörder und Tyrannen so vieler Kaiser, raffte die Pest hin.

Rikimer starb am 18. August 472. Das Andenken dieses mächtigen Germanenhäuptlings bewahrt eine Kirche, die er am Abhange des Quirinal gebaut oder erneuert hatte. Es ist die Diakonie S. Agata in Subura, ursprünglich eine den arianischen Goten eingeräumte Basilika; denn dieses Glaubensbekenntnis, welchem die das Reich bereits beherrschenden Germanen hartnäckig anhingen, fand damals volle Duldung in Rom. Rikimer hatte die Tribune der Kirche mit Musiven geschmückt, von denen uns nur eine Zeichnung geblieben ist. Sie stellt Christus zwischen den Aposteln auf einem Globus sitzend dar, bärtig und mit langen Locken, die Rechte erhoben, in der Linken ein Buch; neben ihm St. Petrus, der merkwürdigerweise nur einen Schlüssel trägt. Ohne Zweifel wurde Rikimer in dieser Kirche begraben.

Die Würde des Generalissimus des Heers übertrug jetzt Olybrius dem burgundischen Prinzen Gundebald, einem Neffen Rikimers; aber er selbst starb schon am 23. Oktober an der Pest und ließ den Thron als Spielball der Barbaren zurück. ihre Herrschaft über Rom und Italien war seit dem Tode des Anthemius und Olybrius, der letzten Vertreter der römischen Legitimität, außer Frage; es kam nur darauf an, daß sich der rechte Mann fand, welcher diesem anarchischen Söldnerregiment eine feste politische Gestalt gab.

In der grenzenlosen Verwirrung jener letzten Jahre erscheinen noch die Unglücksgestalten einiger Kaiser wie flüchtige Schatten. Gundebald hatte am 5. März 473 zu Ravenna dem Glycerius die Kaiserwürde gegeben, einem Manne von unbekannter Vergangenheit. Bald darauf verließ der burgundische General Italien, um in seiner Heimat den Thron Gundiochs, seines Vaters, einzunehmen, und das Barbarenheer kam jetzt unter die Führung römischer Hauptleute. Den Kaiser Glycerius stürzte indes schon im Jahre 474 Julius Nepos, Sohn des Nepotianus, ein Dalmatiner von Geburt, welchen die Kaiserinwitwe Verina mit einem Heer von Byzanz nach Ravenna geschickt hatte. Er rückte gegen Rom, ereilte Glycerius im Tiberhafen und zwang ihn hier abzudanken, Geistlicher zu werden und sich als Bischof nach Salona zurückzuziehen. Die wiederholte Verwandlung eines entthronten Kaisers in einen Bischof spricht vielleicht für das hohe Ansehen, welches die bischöfliche Würde genoß, doch nicht gerade für den Wert, den man auf die geistlichen Eigenschaften legte. In späterer Zeit würden Avitus und Glycerius sich nur mit der Kutte des Mönchs bekleidet haben. Nepos wurde am 24. Juli in Rom zum Kaiser ausgerufen, worauf er nach Ravenna zurückkehrte. Während er hier mit dem Westgotenkönige Eurich unterhandelte, dessen Freundschaft er durch die Provinz Auvergne erkaufte, rückte Orestes, von ihm selbst zum Patricius und General des Barbarenheers für Gallien ernannt, als Rebell gegen ihn heran, und Nepos entwich am 28. August 475 aus Ravenna über Meer nach demselben Salona, wohin er Glycerius eben erst verbannt hatte.

Orestes, ein Römer aus Pannonien, war ehemals Geheimschreiber Attilas gewesen und hatte nach dem Tode des Hunnenkönigs als Führer von Barbarentruppen bei den Kaisern gedient. Er befehligte sodann das Söldnerheer, welches Rikimer geführt hatte, und dies war in wilder Gärung. Der zusammengeraffte Haufe von Sarmaten und Germanen ohne Vaterland weigerte sich, nach Gallien zu marschieren, wohin Nepos ihn zu entfernen suchte, und bot seinem General die Krone Italiens. Orestes hielt es jedoch für besser, seinen jungen Sohn mit dem Purpur zu bekleiden; er ließ am 31. Oktober 475 Romulus Augustus zum Kaiser des Abendlandes ausrufen. Dieser letzte altrömische Kaiser vereinigte in seiner Person aus seltsamem Zufall die Namen des ersten Gründers und des ersten Augustus von Rom.

Nur kurze Zeit trug er den Purpur. Sein Sturz erfolgte durch dieselben aufrührerischen Soldtruppen, denen er seine Würde verdankte. Seit den Zeiten Alarichs und Attilas hatte das absterbende Reich Skiren, Alanen, Goten und andere Schwärme von Fremdlingen als Bundesgenossen in das Heer aufgenommen; diese und ihre Führer beherrschten und regierten jetzt das Kaisertum; des Dienstverhältnisses müde, wurden sie naturgemäß die Herren des Landes, dessen kriegerische Kraft erloschen war. Das Haupt dieser Banden wurde damals Odoaker, Sohn Edekons, eines Skiren im Dienste Attilas, ein Mann von dem waghalsigsten Mute, dem schon als dürftigem Jünglinge das Königtum Italiens war prophezeit worden. »Gehe nach Italien«, so hatte ihm einst der heilige Mönch Severin in Noricum gesagt, »gehe jetzt mit ärmlichen Fellen bekleidet, denn bald wirst du imstande sein, viele reich zu beschenken.« Nach einem abenteuerlichen Heldenleben unter zahllosen Kämpfen – auch unter Rikimer hatte er im Kriege gegen Anthemius sich hervorgetan – war er der angesehenste Führer in dem bunten Söldnerhaufen. Diese heimatlosen Krieger, Rugier, Heruler, Skiren, Turzilinger, denen er selbst begreiflich machte, daß es ihnen besser zieme, ansässige Herren über das schöne Land Italien zu sein, als im Solde elender Kaiser umherzuschweifen, verlangten jetzt mit Ungestüm von dem römisch gesinnten Orestes den dritten Teil aller Äcker Italiens. Als er dies verweigerte, erhoben sie sich in wütendem Aufstande. Sie scharten sich um die Fahne Odoakers, welcher die frühere Machtstellung Rikimers im Staat für sich beanspruchte und am Ende mehr als sie erlangte. Sie riefen ihn zu ihrem Könige aus und zogen sofort vor Ticinum oder Pavia, wohin sich Orestes geworfen hatte. Die feste Stadt wurde erstürmt, Orestes bald darauf in Placentia enthauptet, und der letzte Kaiser Roms, Romulus Augustulus, fiel zu Ravenna in die Hände des ersten wirklichen Königs in Italien aus germanischem Stamme.

Odoaker hatte den Königstitel angenommen, welchen er sich alsbald in Rom selbst von dem mutlosen Senat bestätigen ließ, ohne jedoch deshalb von Purpur und Diadem Gebrauch zu machen. Dies geschah im dritten Jahre des Kaisers Zeno des Isauriers, im neunten des Papstes Simplicius, unter dem zweiten Konsulat des Basiliscus und dem ersten des Armatus, am 23. August 476 nach Christi Geburt. Der glückliche Söldnerkönig faßte indes nicht den Gedanken, sich zum Kaiser des Westens aufzuwerfen oder nur Italien als ein selbständig, germanisch werdendes Königreich vom Imperium abzutrennen. Die Majestät des einen und unteilbaren Reichs, dessen Mittelpunkt jetzt Konstantinopel war, blieb als politisches Prinzip bestehen, welches die Barbaren voll Ehrfurcht anerkannten. Odoaker wollte nur der gesetzmäßige Herrscher in Italien sein, der letzten Provinz, die noch dem Reich im Abendlande geblieben war; und hier stiftete er kein nationales, sondern ein barbarisches Söldnerkönigtum ohne Grundlagen und ohne Bestand. Seinen Kriegern gab er den dritten Teil aller Äcker Italiens. Um jeden Schein der Usurpation zu vermeiden, zwang er Augustulus zu einer formellen Abdankung vor dem Senat und diesen zur Erklärung, daß das abendländische Kaisertum erloschen sei. Die letzte politische Handlung der senatorischen Kurie erregt ein trauriges Mitgefühl: sie schickte Abgeordnete an Zeno nach Konstantinopel, welche im Namen des Reichssenats und Volks erklärten: Rom bedürfe eines selbständigen Kaisers nicht mehr, ein einziger Kaiser für Morgenland und Abendland reiche hin; sie hätten zum Beschützer Italiens den in Künsten des Friedens wie des Kriegs wohlerfahrenen Odoaker erwählt, und sie bäten, Zeno möge ihm die Würde eines Patricius und die Regierung Italiens verleihen. Die Pein dieser Erklärung milderte der unerträgliche Zustand Roms; das Kaisertum war hier in der Tat unmöglich geworden, und das gequälte Volk erkannte, daß die Herrschaft eines germanischen Patricius unter der Oberhoheit der noch im Osten fortdauernden Reichsgewalt dem ewigen Wechsel ohnmächtiger Schattenkaiser vorzuziehen sei.

Zeno, selbst ein Barbar aus Isaurien, empfing zu gleicher Zeit ein Bittgesuch des entthronten Nepos, welcher seine Wiederherstellung als rechtmäßiger Kaiser des Abendlandes begehrte; er erwiderte den Senatoren, daß sie von zwei Kaisern, die er ihnen nach Rom gesendet, den einen vertrieben, den andern getötet hätten; da nun der erste noch am Leben sei, so hätten sie ihn wieder aufzunehmen; es sei die Sache des Nepos, dem Odoaker den Patriziat zu erteilen. Zeno begriff jedoch, daß sein Günstling Nepos keine Hoffnung mehr habe, den Thron wiederzuerlangen, und daß die vollendete Tatsache anzuerkennen sei. Er nahm die Reichskleinodien des abendländischen Kaisertums an sich und legte sie in seinem Palast nieder. Den Usurpator, welcher die Herrschaft Italiens an sich gerissen hatte, duldete er für so lange Zeit, als er selbst unvermögend war, ihn zu beseitigen. In den Briefen, die er an ihn schrieb, verlieh er ihm nur den Titel »Patricius der Römer«; er gab Nepos auf und überließ Rom und Italien dem Regiment eines germanischen Häuptlings unter seiner kaiserlichen Autorität.

So wurde dieses Land als eine Provinz in das allgemeine Reich zurückgenommen, die Teilung desselben in eine westliche und östliche Hälfte aufgehoben und das Ganze nochmals unter einem einzigen Kaiser vereinigt, welcher seinen Sitz in Konstantinopel hatte. Die alte Einheit des Imperium, wie sie zur Zeit Constantins bestand, war hergestellt, aber Rom und der Westen den Germanen preisgegeben. Die antike lateinische Politik Europas erlosch.

Der Ausgang des abendländischen Reichs, von dem die Germanen eine Provinz nach der andern abgerissen hatten, besiegelte nur den innern Verfall der lateinischen Stämme und des alten Römertums. Selbst die christliche Religion, welche fast überall an die Stelle der alten Götterkulte getreten war, schuf in jenen Völkern kein Leben mehr. Der gallische Bischof Salvianus warf einen Blick auf den moralischen Zustand jener veralteten, jetzt christlich gewordenen Nationen und fand, daß sie alle in Laster und Trägheit verkommen waren; nur in den Goten, Vandalen und Franken, welche sich in den römischen Provinzen erobernd niedergelassen hatten, erblickte er Sittenreinheit, Lebenskraft und Jugendfrische. »Jene«, so sagte er, »wachsen täglich, wir verringern uns; jene schreiben vor, wir verderben; jene blühen, wir verdorren... Und sollen wir uns wundern, wenn alle unsere Länder von Gott den Barbaren hingegeben sind, damit sie von den römischen Lastern durch ihre Keuschheit gereinigt werden?« Der große Name »Römer«, ja der einst höchste Ehrentitel unter den Menschen, der des »römischen Bürgers«, war bereits verächtlich geworden.

Das am Marasmus des Alters sterbende Reich wurde endlich durch den größten Völkerkampf der Weltgeschichte zerstört. Auf seinen Trümmern ließ sich das Germanentum nieder, welches die lateinischen Stämme mit frischem Blut verjüngte und die abendländische Welt durch das Prinzip der persönlichen Freiheit neu gestaltete. Der Sturz des Römerreichs war in Wirklichkeit eine der größten Wohltaten, welche das Menschengeschlecht erfahren hat. Denn nun begann Europa sich neu zu beleben und in obwohl langen und erschütternden Entwicklungskämpfen aus der Barbarei zu einem reichgegliederten Organismus selbständiger Nationen sich umzugestalten. Für die Stadt Rom selbst hatte das Erlöschen des Kaisertums große Folgen; sie sank jetzt tatsächlich zu einer Provinzstadt herab: ihre stolzen Monumente fielen in immer tieferen Ruin, und ihr letztes politisches und bürgerliches Leben erstarb. Aber das Papsttum, vom Kaiser des Abendlandes befreit, erstand, und die Kirche Roms wuchs unter Trümmern mächtig empor. Sie trat an die Stelle des Reichs. Sie war schon ein festes und großes Institut, als dieses fiel, und unberührbar von dem Schicksal der alten Welt. Sie füllte augenblicklich die Lücke aus, welche durch deren Hinschwinden entstand, und sie bildete die Brücke zwischen dem Altertum und der neuen Welt. Sie nahm die trotzigen Germanen, welche jenes Reich zerstört hatten, in das römisch-kirchliche Bürgerrecht auf und suchte aus ihnen die neuen Lebenselemente zu bereiten, in denen sie selbst sich herrschend darstellen konnte, bis sie nach einem langen und merkwürdigen Prozeß das abendländische Reich als ein germanisch-römisches Imperium wiederherzustellen imstande war. Diese unter schrecklichen Kämpfen, in öden, uns lichtlos erscheinenden Jahrhunderten vollzogene Metamorphose der Welt ist zugleich das großartigste Drama der Geschichte und der glänzendste Triumph des in ihr sich ordnenden und entwickelnden Menschengeistes.


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