Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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5. Leidenschaftliche Begier nach dem Besitz von Reliquien. Die heiligen Leichen. Ihre Translationen. Charakter der Pilgerschaften jener Zeit. Gregor IV. baut die Basilika des St. Marcus neu. Er stellt die Aqua Sabatina wieder her. Er baut die päpstliche Villa Draco. Er stirbt im Jahre 844.

Der Geschichtschreiber Roms ist für diese Periode auf die Annalen der fränkischen Chronisten, die ihm nur dürftige Berichte darbieten, und auf die Lebensbeschreibungen der Päpste angewiesen, welche kaum mehr verzeichnen als Bauten und Weihgeschenke. Er verzweifelt daher an jeder Schilderung des bürgerlichen Lebens in Rom zu jener Zeit, und weil dasselbe noch immer vorzugsweise von kirchlichen Leidenschaften bewegt wurde, so wollen wir einen Blick auf diese werfen.

Rom fuhr fort, Reliquien über das Abendland auszustreuen, wie zur Zeit des Aistulf und Desiderius. Eine neue Leidenschaft, die seltsame Begier nach dem Besitze der Leichen von Heiligen, hatte sich der Christenheit bemächtigt; sie steigerte sich, genährt durch die Habsucht und Herrschsucht der Priester, in der immer finsterer werdenden Welt bis zur völligen Raserei. Wir blicken heute mit Schrecken auf jene Zeit, wo ein Totengerippe am Altar der Menschheit stand, ihre Klagen, ihre Wünsche, ihre schauerlichen Entzückungen zu empfangen. Die Römer, welche die Bedürfnisse des Auslandes immer mit praktischem Verstande auszubeuten wußten, trieben damals einen förmlichen Handel mit Leichen, Reliquien und Heiligenbildern; dies und etwa noch der Verkauf alter Handschriften war alles, worauf sich ihre Industrie beschränkte. Die zahllosen Pilger wollten die heilige Stadt nicht verlassen, ohne ein geweihtes Andenken mit sich zu nehmen. Sie kauften Reliquien aus den Katakomben, wie hier die Besucher heute Juwelen, Gemälde und Bildwerke kaufen. Doch nur Fürsten oder Bischöfe waren imstande, ganze Leichname zu erstehen. Die Wächter der Kirchhöfe durchwachsen angstvolle Nächte, als gälte es, Hyänen abzuwehren, während Diebe umherschlichen und tausend Betrügereien anwendeten, zu ihrem Zwecke zu gelangen. Sie selbst waren oft betrogene Betrüger, denn Tote wurden von den lachenden Priestern gefälscht und mit beliebigen Aufschriften versehen.

Im Jahre 827 stahlen Franken die Reste der Heiligen Marcellinus und Petrus, die nach Soissons entführt wurden; im Jahre 849 raubte ein Presbyter von Reims eine Leiche, die er für die Mutter Constantins ausgab. Der Besitz solcher heiligen Reste galt als etwas so Unschätzbares, daß die Schande des Diebstahls durch ihn getilgt wurde. Auch sorgte man dafür, daß die Leichname unterwegs Wunder taten, denn sie selbst erklärten dadurch die Zustimmung zu ihrer gewaltsamen Übersiedlung und steigerten ihren Wert. Die Gebräuche der alten Römer, welche Götterbilder aus fremden Städten mit sich geführt hatten, sie in ihren Tempeln aufzustellen, schienen in dieser Form erneuert zu sein. Oft gaben die Päpste ihre Einwilligung zur Fortführung römischer Heiliger nach dem Auslande; denn es fehlte nie an stürmischen Bitten von Städten, Kirchen und Fürsten um die Gewähr solcher Gunst. Wenn man diese Toten auf geschmückten Wagen aus der Stadt führte, begleiteten sie römische Priester und Laien im feierlichen Zuge mit Fackeln in den Händen und mit frommen Gesängen eine Strecke lang. In allen Orten strömte das Volk dem Leichenwagen entgegen, Wunder, namentlich Heilungen erflehend; am Ziel angelangt, in einer Stadt Deutschlands, Frankreichs oder Englands, wurden diese Toten mit tagelangen Festen gefeiert. Solche schauerlichen Triumphzüge gingen damals oft aus Rom in die Provinzen des Abendlandes, und indem sie Städte und Völker durchzogen, verbreiteten sie dort einen düsteren Moderglauben und einen Geist abergläubischer Leidenschaft, von dem wir heute kaum eine Ahnung haben.

Zwei Translationen berühmter Apostel erregten gerade in dieser Zeit ein allgemeines Aufsehen und steigerten die Begier nach ähnlichem Besitz. Venetianische Kaufleute hatten im Jahre 828 unter vielen Abenteuern den Leichnam des Apostels Marcus von Alexandria nach ihrer Stadt gebracht, deren Patron er nun wurde. Im Jahre 840 kam ein anderer Apostel nach Benevent, Bartholomäus, der lange zuvor von Indien in seinem Marmorsarge nach der Insel Lipari geschwommen war. Die Sarazenen hatten in jenem Jahre Lipari geplündert und dort die Gebeine des Heiligen aus dem Grabe geworfen. Ein Eremit sammelte sie und brachte sie nach Benevent, dessen Fürst Sicard sie unter unbeschreiblichem Jubel in der Kathedrale bestatten ließ. Die Süditaliener, schon damals in den finstersten Aberglauben versunken, bedienten sich toter Heiliger auch zu politischen Demonstrationen. Im Jahre 871 zogen die Capuaner, den Leichnam ihres heiligen Germanus auf den Schultern mit sich schleppend, in das Lager Ludwigs II., ihn zur Milde zu stimmen. Die Begierde nach heiligen Gebeinen war kaum anderswo gleich fanatisch als am Hof der letzten Langobardenherrscher in Italien. Wie im XV. oder XVI. Jahrhundert Päpste oder Fürsten Antiquitäten und Handschriften mit Leidenschaft sammelten, so schickte Sicard seine Agenten nach allen Inseln und Küsten, ihm Knochen und Schädel, ganze Leichname und sonstige Reliquien zu bringen, damit er sie in der Kirche zu Benevent niederlege. Er verwandelte diesen Tempel in ein Museum heiliger Fossile. Man mag sich vorstellen, wie gut er bedient wurde. Seine Kriege benutzte er, Leichen abzupressen, wie sonst siegreiche Könige Tribute von den Besiegten nehmen; er zwang die Amalfitaner, ihm die Mumie der Trifomena herauszugeben, und so hatte schon sein Vater Sico die Neapolitaner genötigt, ihm die Leiche des heiligen Januarius abzutreten, die er dann im Triumph nach Benevent unter unbeschreiblichem Jubel der Menschen entführte.

Mit diesem Kultus der Toten hing die große Bewegung der Pilgerschaften zusammen, welche damals wie in den folgenden Jahrhunderten das Abendland durchzogen. Es ist ein Naturgesetz der Menschheit, daß sie sich bewege; Kriege und Geschäfte, Handel und Reisen haben von jeher das Leben der Gesellschaft in Fluß erhalten; aber in jener Zeit bestand die friedliche Bewegung der Menschheit im allgemeinen in der Pilgerung, welche dann in den Kreuzzügen, der größten Pilgerfahrt der Weltgeschichte, ihren Gipfel erreichte. Alle Geschlechter, Alter und Klassen nahmen daran teil; der Kaiser und Fürst, der Bischof pilgerte wie der Bettler; das Kind, der Jüngling, die edle Matrone, der Greis gingen barfuß am Pilgerstabe. Dies breitete ein romantisches Wesen, die Sehnsucht nach dem Fremden und Abenteuerlichen über die Menschheit aus. Im Abendlande hat Rom diese Wanderzüge zu allererst hervorgerufen und in seine Mauern gezogen. Sie hörten nicht auf, sich dorthin zu richten, auch nachdem durch so viele heilige Gräber in den Provinzen des Reichs für das nähere Bedürfnis gesorgt war. Seit fast zwei Jahrhunderten hatte sich der Wahn befestigt, daß eine Wallfahrt nach Rom in den unfehlbaren Besitz der Schlüssel zum Paradiese setze. Die Bischöfe unterstützten ihn, indem sie zu dieser Pilgerung ermahnten. Der kindliche Glaube jener Zeit, wo die Wege zur Versöhnung noch nicht in der inneren Menschenbrust entdeckt, sondern draußen auf der Reise zu einem fernen, verkörperten Symbol des Heils gesucht wurden, konnte den tugendhaften Wanderer beseligen, der durch die Unbilden der Elemente, die Unsicherheit feindlicher Straßen, die geflissentliche Entbehrung langer, mühseliger Wallfahrt wie durch ein Purgatorium hindurchschritt, ehe er das Gnadenziel erreichte. Jeglicher verschuldete oder schuldlose Schmerz, jede Form irdischer Qual, selbst jedes Verbrechen konnte sich hoffend nach Rom wenden, dort an den heiligen Stätten oder zu den Füßen des Papsts Erlösung zu empfangen. Die unermeßliche Bedeutung, welche der Glaube der Menschheit dieser einzigen Stadt gab, hat sich nie wiederholt und wird sich nie mehr wiederholen können. Daß es in Zeiten wildester Barbarei ein solches Heiligtum des Friedens und der Versöhnung gab, mußte für die damalige Menschheit wahrhaft beglückend sein. Unzählige Pilgerscharen zogen nach Rom, Völkerwanderungen, welche unablässig über die Alpen stiegen oder zu Schiffe kamen, alle nach Rom, von moralischen Trieben fortgezogen. Aber die schmerzvolle oder schüchterne Tugend des Pilgers wurde nur zu oft verdammt, neben dem frechen Laster und dem schlauen Betruge einherzugehen und auf dem Wege zum Heil durch ansteckende Berührung selbst unselig zu werden. Die entsittlichende Gemeinschaft mit Menschen, die von allen Banden der Familie losgelöst waren, die Abenteuer und Verlockungen, welche die Reise bot, die Künste der Verführung in den üppigen Städten des Südens brachten zahllose Jungfrauen um ihre Ehre, und viele, die als keusche Mädchen, Witwen und Nonnen ihr Vaterland verlassen hatten, um ihre Gelübde am Grabe St. Peters zu befestigen, kehrten als Gefallene heim oder setzten ihr zuchtloses Leben in Italien fort.

Täglich strömten Pilger durch die Tore Roms. Wenn diese dem Betrachter den Anblick wirklich frommer Menschen darboten, erschreckten ihn jene durch ihr bettelhaftes und verwildertes Aussehen. Viele unter ihnen waren mit den schändlichsten Verbrechen gebrandmarkt. Wenn die Grundsätze unserer Gesellschaft es gebieten, den Verbrecher den Blicken der Menschheit zu entziehen und die Rechtschaffenheit vor seiner Berührung zu bewahren, indem er seiner einsamen Strafe oder Besserung überlassen bleibt, so geschah im Mittelalter das Gegenteil. Der Schuldige wurde in die Welt geschickt, versehen mit einem Schein seines Bischofs, welcher ihn als Mörder oder Blutschänder offen bekannte, ihm seine Reise, ihre Art und Dauer vorschrieb und ihn zugleich mit einer Legitimation versah. Er reiste auf sein durch bischöfliches Zeugnis verbrieftes Verbrechen wie auf eine wirkliche Paßkarte der Behörde, und er zeigte sie auf seiner Pilgerfahrt allen Äbten und Bischöfen der Orte vor, durch welche er kam. Diesem Verdammungs- und Empfehlungsbrief verdankte der Sünder gastliche Aufnahme und konnte so sorglos von Station zu Station bis zu dem Heiligtum pilgern, das ihm als Ziel vorgeschrieben war. Der Strafcodex des Mittelalters zeigt einen grellen Widerspruch von brutaler Barbarei und angelischer Milde. Die herrlichen Grundsätze des Christentums, den Gefallenen zu schonen, dem Sünder liebevoll die Wege zur Versöhnung zu öffnen, kamen mit der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft in Widerstreit. Dieselbe Zeit, welche durch Beschluß heiliger Synoden Majestätsverbrecher blendete oder auf einem räudigen Esel durch die Stadt führte, gab dem Vater- und Muttermörder einen Pilgerpaß in die Hand und verwehrte den Furien, ihm wie dem Orest zu folgen. Rom, das große refugium peccatorum, nahm alle Verbrechen in sich auf, die irgend Namen und Gestalt haben. Die Geschichte der Pilgerungen wäre zugleich die Kriminalgeschichte jener Zeit. Oft trafen schreckliche Gestalten ein: Menschen, welche wie Büßer Indiens Ketten trugen, andere, halb nackt, einen schweren Eisenring um den Hals oder den Arm von einem Eisenband umschmiedet. Dies waren Mörder ihrer Eltern, ihrer Brüder oder Kinder, denen ein Bischof die Pilgerschaft nach Rom in solcher Form auferlegt hatte. Sie warfen sich mit Geschrei an den Gräbern nieder, geißelten sich, beteten, gerieten in Ekstase, und es gelang ihrer Geschicklichkeit bisweilen, die Eisenringe an einer Märtyrergruft zu sprengen. Weil die Abbüßung eines Verbrechens zugleich einen Freibrief der Verpflegung bot, so hüllten sich nicht selten Gauner in die Maske der scheußlichsten Untat, nur um Gelegenheit zu Reiseabenteuern und betrügerischem Gewinn zu haben. Sie zogen mit falschen Pässen durch die Länder, das unsinnige Mitleiden der Menschen zu erregen und in Abteien oder Pilgerherbergen sich zu nähren. Viele stellten sich besessen, liefen mit wunderlichen Gebärden durch die Städte, warfen sich vor den Heiligenbildern der Klöster nieder, und indem sie durch deren Anblick oder Berührung plötzlich zu Sinnen und Sprache kamen, erlangten sie von den beglückten Mönchen nicht kleine Geschenke, womit sie dann lachend abzogen, um ihre Künste anderswo fortzusetzen.

Die Verehrung der Reliquien hat keinen furchtbareren Ankläger als die Unmoral und die Lüge, welche während des Mittelalters ihre Folgen waren.

Gregor IV. wird die Einsetzung des Festes Allerheiligen, dessen Feier an das Pantheon geknöpft ist, für das ganze Abendland auf den ersten November zugeschrieben. Die Hinüberführung der Leiche des Apostels Marcus nach Venedig konnte ihn veranlassen, die Basilika dieses Namens unter dem Kapitol neu zu bauen, zumal er selbst dort Kardinal gewesen war. Diese alte Kirche war ursprünglich dem Papst Marcus und nicht dem Evangelisten geweiht. Die Gestalt, welche ihr Gregor gab, ist verändert worden, nur die Mosaiken in der Tribune sind erhalten: Christus segnend, links neben ihm der Papst Marcus, St. Agapitus und St. Agnes; rechts St. Filicissimus, der Evangelist Marcus und Gregor IV., der die Kirche darbringt. Ihr Stil ist jenem der Musive des Paschalis gleich mit einigen Abweichungen. Die Palmen fehlen; die Figuren haben, höchst widersinnig, Fußgestelle mit Namensinschriften; der Vogel Phönix steht unter dem Postament der Gestalt Christi.

Ein großes Verdienst um Rom erwarb sich Gregor IV. durch die Wiederherstellung der Trajana oder der Sabatinischen Wasserleitung, welche schon von Hadrian I. erneuert, aber dann wieder verfallen war. Auch dem Landbau der Campagna widmete er seine Aufmerksamkeit. Die Aufstände zur Zeit Leos III. hatten den Ruin mehrerer Domänen herbeigeführt, darunter wohl auch Galerias auf der Portuensischen Straße, der Stiftung Hadrians. Gregor stellte diese Kolonie wieder her. Dem Gründer Neu-Ostias mußte es daran liegen, jene Landschaft am Tiber zu bevölkern; darum errichtete er dort eine Kolonie Draco, wo er sich ein schönes, mit Portiken geschmücktes Landhaus bauen ließ. Dies ist die erste Erwähnung einer päpstlichen Villa überhaupt.

Gregor IV. starb nach der Annahme der Kirchenschriftsteller am 25. Januar 844.


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