Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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3. Die Stadtbeschreibungen. Der Anonymus von Einsiedeln. Tätigkeit der Sage und Legende in Rom. Die klingenden Statuen auf dem Kapitol. Die Sage vom Bau des Pantheon. Die Graphia der goldenen Stadt Rom. Die Memoria Iulii Caesaris.

Mehr Aufmerksamkeit als alle jene Schriften erweckt eine literarische Gattung, welche ursprünglich das lokale Erzeugnis Roms war und es blieb, obwohl auch das Ausland sich an ihr beteiligte. Wir meinen die Notizbücher über die Monumente, die heiligen Stätten und die große Vergangenheit der Stadt. Wenn die Pilger in die ewige Roma kamen, dienten ihnen ihre Landsleute in den Fremdenscholen als Führer durch diese rätselhafte Wunderwelt, wo auch manche Schöpfung des Christentums bereits zur Antiquität geworden war. Aber sie fanden auch Notizbücher als kurze Wegweiser vor. Einige Pilger, Franken oder Deutsche, bei denen seit Alcuin das Studium des römischen Altertums erwacht war, fingen an, Rom mit dem Auge des Antiquars und Historikers zu betrachten; sie machten Aufzeichnungen von den Sehenswürdigkeiten der Stadt, welche sie dann in ihre nordische Heimat hinübernahmen. Solche Beschreibungen waren die Vorläufer der heutigen Guiden von Rom, und wie hier Fremde aller Nationen mit diesen dicken Büchern umhergehen, so sah man im Mittelalter Pilger mit jenen dürftigen Notizen auf einigen Blättern von Pergament die Stadt durchwandern.

Ihr doppelter Charakter gab diesen Schriften das Gepräge, denn sowohl das antike als das christliche Rom mußte in ihnen behandelt werden. Für jenes boten die Grundlage dar die Notitia und das Curiosum, für dieses die Verzeichnisse der Stationen, der Zömeterien und Basiliken, welche man zum Gebrauch der Pilger entwarf. Man fügte dazu Legenden von Heiligen oder von Kirchen, Sagen, die das heidnische Rom mit dem Christentum in Beziehung brachten, und sogar Notizen über den Hof des Papsts und des Kaisers. So entstanden nach und nach die Graphien und Mirabilien der Stadt Rom.

Die Literatur der Stadtbeschreibung, welche heute zu dem Umfange einer Bibliothek angewachsen ist, haben wir mit den offiziellen Regionenlisten beginnen sehen und diese für das V. Jahrhundert benutzt. Während voller vier Jahrhunderte begegneten wir sodann keiner Schrift dieser Natur, und erst im Zeitalter Karls des Großen begannen mit dem Aufschwunge Roms und der klassischen Wissenschaft neue Verzeichnisse solcher Art. Man verfaßte Angaben über die römischen Kirchhöfe und Kirchen; man sammelte ferner Inschriften, deren Sylloge mit dem Namen des Anonymus von Einsiedeln bezeichnet worden ist. Mabillon fand sie in diesem Kloster und gab sie zuerst heraus. Die Abfassung dieser berühmten Schrift fällt ins Ende des VIII. oder in den Anfang des IX. Jahrhunderts, ehe die Leostadt erbaut worden war. Auf ein paar Blättern vermerkte der Schreiber in zwei Spalten die Namen der Monumente, ohne diese zu beschreiben, wie sie rechts und links an den Wegen der Stadt bis zu den Toren sichtbar waren; bei dieser Arbeit diente ihm offenbar ein Stadtplan. Er fügte Inschriften hinzu, die er von Denkmälern und Kirchen abschrieb. Damit beginnt die Wissenschaft der Epigraphik, und diese erste kleine Sammlung antiker Inschriften, das Werk eines gebildeten nordischen Wanderers, blieb bis zum Anfange des XV. Jahrhunderts die einzige, von der wir Kunde haben. Die alten Regionare beschäftigen sich nur mit dem heidnischen Rom, aber der Anonymus verzeichnete antike und christliche Gebäude, und so stellt er das Wesen der Stadt zu Karls des Größen Zeit in einem topographischen Umriß dar. Als ein Gelehrter gibt er den Monumenten noch die Begriffe der Notitia; er verschmäht es sogar, Colisaeus statt Amphitheatrum zu sagen, aber er bezeichnete doch einige Ruinen mit dem volkstümlichen »Palatium«, obwohl sie keine Paläste waren. So nennt er in den Inschriften den Titusbogen » VII. Lucernarum«, wie ihn das Volk von dem Abbilde des siebenarmigen Leuchters benannte. Er bemerkte noch die meisten Thermen, deren Reste damals noch groß waren; das Forum Romanum und Traiani führen bei ihm noch ihren Namen, aber er schweigt von den übrigen; er sah noch den Circus Flaminius und Maximus und das Theater des Pompejus; er verzeichnete noch am Kapitol die Inschrift der Reiterstatue Constantins und bemerkte selbst den Umbilicus Romae. Er ging noch durch die Säulenhallen der Via Lata; er sah die Wasserleitung der Virgo und des Claudius, das Nymphaeum Alexanders, das Septizonium mit seinem unverdorbenen Namen; er schrieb die antiken Namen von Toren und Wegen auf und entnahm einem alten offiziellen Verzeichnis die Zahl aller Türme, Zinnen, Ausgangspforten und Schießscharten der wiederhergestellten Mauern Aurelians. Keine Spur von Fabeln ist bei ihm zu bemerken, vielmehr zeigt uns dies trockene Register einen kundigen Scholasten, welchem die Notitia sehr wohl bekannt war. Außer ihr lagen ihm offizielle Angaben zugrunde, welche wahrscheinlich der Papst Hadrian oder Leo III. hatte aufsetzen lassen. Man entwarf vielleicht schon Stadtpläne oder topographische Karten, auf denen die Hauptstraßen und die wesentlichen Bauwerke bezeichnet sein mochten; wenigstens läßt sich ohne solche Arbeiten nicht gut begreifen, wie jene kostbaren Tische mit den Abbildern Roms und Konstantinopels gefertigt werden konnten, welche Karl der Große wahrscheinlich vom Papst und von der Kaiserin Irene zum Geschenk erhalten hatte. Ohne solche amtliche Urkunden konnte man überhaupt Rom weder kennenlernen noch beschreiben.

Die Sage, welche sich an Denkmäler zu heften beginnt, sobald sie veröden, hatte die Wunder der Stadt schon längst mit ihren Gespinsten umwoben und viele Geschichten und Namen beim Volk in Gebrauch gebracht. Je weiter sich die Römer vom Altertum entfernten, desto geschäftiger war sie, die heidnischen Monumente zu verschleiern, während die Legende mit den christlichen Kirchen das gleiche tat. Denn beide Musen des Volks sind Zwillingsschwestern, und die Doppelnatur der Stadt brachte oft ihre wunderlichste Vermischung hervor. Um das Jahr 1000 mußten sich schon viele römische Lokalsagen festgestellt haben, wir scheuten uns deshalb nicht, die Sage von den marmornen Pferden und vom Caballus Marc Aurels als dieser Epoche angehörig zu betrachten. Eine andere Fabel mag zeigen, daß im X. Jahrhundert und wohl schon früher sich manche Sage gebildet hatte, die wir in den späteren Mirabilien finden. Der Anonymus von Salerno, welcher um 980 schrieb, erzählt, daß die alten Römer siebzig eherne Statuen zu Ehren aller Völker auf dem Kapitol errichtet hatten. Eine jede trug auf ihrer Brust den Namen desjenigen Volks, welches sie vorstellte, eine jede war mit einem Glöckchen am Halse versehen, und Tag und Nacht hielten die Priester daselbst der Reihe nach Wache. Wenn nun eine Provinz des Reiches rebellierte, so bewegte sich die Statue derselben, das Glöckchen läutete, die Priester aber machten dem Kaiser davon Anzeige. Der Chronist erzählt jedoch, daß diese Statuen vor Zeiten nach Konstantinopel gebracht worden seien, daß Alexander, der Sohn des Kaisers Basilius und Bruder Leos des Weisen, ihnen seidene Kleider angezogen habe, um sie zu verehren, worauf ihm St. Petrus nachts erschien und zornig zurief: »Ich bin der Fürst der Römer!« Am Morgen darauf sei der Kaiser selbst gestorben.

Die Verbindung einer Lokalsage Roms mit der byzantinischen Zeitgeschichte ist merkwürdig; aber diese Fabel erscheint von Byzanz abgelöst in einer römischen Stadtbeschreibung wieder und gibt eine Erklärung vom Bau des Pantheon. Sie erzählt folgendes: Zur Zeit, als Agrippa, Präfekt des Römischen Reichs, Schwaben, Sachsen und andere westliche Völker unterwarf, läutete bei seiner Rückkehr das Glöckchen der Statue Persiens, die im Tempel des Jupiter und der Moneta auf dem Kapitole stand. Die Senatoren übertrugen hierauf Agrippa den persischen Krieg, er aber erbat sich eine Frist von drei Tagen. Als er in der letzten Nacht eingeschlafen war, erschien ihm eine Frau und sprach: »Agrippa, was gibt's, du bist in großen Sorgen.« Er antwortete: »Ja, Herrin!« Sie sagte: »Sei getrost! Versprich, mir einen Tempel zu bauen, wie ich ihn dir bezeichnen werde, und ich will dir verkündigen, ob du siegen wirst.« Sie zeigte ihm in einer Vision die Gestalt des Tempels, und er fragte sie: »Herrin, wer bist du?« Sie antwortete: »Ich bin Kybele, die Mutter der Götter; opfere dem Meergott Neptun, und er wird dir helfen. Diesen Tempel laß ihm und mir zu Ehren weihen, weil wir mit dir sein werden und du siegen wirst.« Agrippa erzählte alles dem Senat, und mit einer großen Flotte und fünf Legionen zog er aus, besiegte alle Perser und brachte sie unter den Tribut der Römer zurück. Als er hierauf heimgekehrt war, erbaute er den Tempel, ließ ihn der Göttermutter, dem Neptun und allen Dämonen weihen und legte ihm den Namen Pantheon bei. Zu Ehren dieser Kybele machte er eine vergoldete Statue, die er auf dem Gipfel des Tempels über der Öffnung aufstellte, und er bekleidete denselben mit einem wunderbaren Dach von vergoldetem Erz. An der Spitze des Tempels aber standen zwei Stiere von gleichem Metall.

Dies ist die Erzählung des merkwürdigen Buchs » Graphia aureae urbis Romae«, welches in der Reihe dieser Literatur für uns auf die Notizen von Einsiedeln folgt. Im Zeitalter der Ottonen, vielleicht schon Alberichs, wird eine neue Stadtbeschreibung entstanden sein, die sieh, entsprechend der Verweltlichung Roms, nur mit den heidnischen Monumenten beschäftigte, während es zum Gebrauch der Pilger Notizbücher über die Stationen und die Kirchhöfe gab. Ein Scholast, der die Alten kannte, verzeichnete die städtischen Denkmäler und fügte ihnen volkstümliche Sagen bei. Die Regioneneinteilung der Notitia benutzte er nicht mehr. Wenn der Anonymus von Einsiedeln die alten Namen beibehielt, gab jener Scholast ihnen hie und da die volkstümlichen. Die Begriffe Palatium, Templum, Theatrum, Circus verloren bei ihm die strenge Unterscheidung, denn das Volk nannte damals alle großen Tempelruinen und Fora »Palatium«, die Thermen und Circus aber in der Regel »Theatrum«. Eine solche Stadtbeschreibung nun, welche die alte Notitia und das Curiosum ersetzte oder erweiterte, war vielleicht schon vor dem X. Jahrhundert verfaßt. Benedikt vom Soracte kannte sie bestimmt, denn er entnahm die Zählung der Türme und Kastelle Roms aus einer Stadtbeschreibung, welche die erste Gestalt der Graphia gewesen sein muß. Unter diesem Titel war aber eine Stadtbeschreibung im XIII. Jahrhundert berühmt und von dem Mailänder Galvaneus Flamma als ein »sehr authentisches« Buch angeführt. Lange in der Bibliothek Laurentiana als ein Codex des XIII. oder XIV. Säkulum bekannt, doch nicht benutzt, wurde sie erst im Jahre 1850 im Druck herausgegeben. Sie erfuhr verschiedene Bearbeitungen, bis sie die Form annahm, wie sie die Florentiner Handschrift zeigt. Die beiden äußersten kenntlichen Zeitgrenzen ihrer Abfassung sind die Epoche der Ottonen und die Mitte des XII. Säkulum, denn es wird das Grabmal des Papsts Anastasius IV. erwähnt, der im Jahre 1154 starb. Auf die Zeit Ottos II. oder III. lassen sich jene ihr angehängten Paragraphen über das Hofzeremoniell und die Ernennung des Patricius, Judex und römischen Bürgers zurückführen, und der Titel entspricht der Umschrift »Aurea Roma« auf kaiserlichen Siegeln schon in Ottos III. Zeit.

Es liegt in der Natur solcher Bücher, daß sie zu Zusätzen einladen, daher enthält die Graphia Teile aus verschiedener Zeit. Sie beginnt mit der Sage, daß Noah nicht weit von Rom eine Stadt seines Namens gründete, daß sein Sohn Janus, Japhet und Camese auf dem Palatin die Stadt Janiculum, in Trastevere aber den Palast Janiculum bauten. Janus wohnte auf dem Palatin und baute darauf mit Nemroth oder Saturn, welchen sein Sohn Jupiter entmannt hatte, die Stadt Saturnia auf dem Kapitol. Dann gründete der König Italus mit den Syrakusern am Fluß Albula oder Tibris die Stadt gleichen Namens, andere Könige Hemiles, Tiberis, Evander, Coriba, Glaucus, Aeneas, Aventinus bauten andere Städte, bis endlich 433 Jahre nach Trojas Fall Romulus am 17. April sie alle ummauerte und Rom nannte, und nicht nur alle Italier, sondern fast alle Edelleute aus der ganzen Welt mit Weib und Kind sie zu bewohnen kamen. Die Verbindung des alttestamentlichen Noah mit der Gründung Roms ist ein Beweis für die Kombinationsfähigkeit der Sage, aber wir würden vergebens die Zeit ihrer Entstehung festzustellen suchen. Später, im XIII. und XIV. Jahrhundert, wurden die Fabeln von der Urgeschichte Roms in vielen Büchern ausgesponnen, und es entstanden der Liber Imperialis, das Romuleon, die Fiorità d'Italia, die Historia Troiana et Romana. Diese Sagen blühten besonders auf, als die Gemeindefreiheit Italiens begann und sich jede Stadt mit einer uralten Genealogie zu schmücken begehrte.

Unter den Sagen der Graphia ist sicherlich eine der frühesten die von der Bestattung des Julius Caesar. Das Volk erzählte sich, daß seine Asche in der goldenen Kugel auf der Spitze des vatikanischen Obelisken beigesetzt sei; dieser von keinem Plünderer erreichte Globus sei mit köstlichen Edelsteinen besetzt und trage die schöne Inschrift:

Caesar, du warst so groß wie die Welt einst;
Aber nun birgt dich ein winziges Grab.

Man habe Caesar in jener Höhe bestattet, damit selbst noch dem Toten die Welt untertan bleibe, wie sie es dem Lebenden gewesen war. Der Obelisk wurde deshalb Memoria oder Sepulcrum Caesaris genannt, wie man auch das Grabmal Hadrians Memoria nannte, und dieser Ausdruck ist für Rom bezeichnend, wo ja alles Memorie oder Erinnerung war. Der Obelisk findet sich so in einer Bulle Leos IX. vom Jahre 1053 bemerkt, wo er zugleich Agulia genannt wird, denn so nennt die italienische Sprache noch heute die Obelisken. Aus Agulia aber konnte schon längst Julia im Munde des Volks geworden sein und dieser Name dann die Veranlassung zu jener Sage vom großen Julius Caesar werden, so daß hier aus einem Wort eine Mythe entstand, um so mehr, als man auf dem Postament des Obelisken die Inschrift Divo Caesari las.

Unter den Lokalsagen, welche die Graphia oder die Mirabilien bringen, gibt es kaum eine, selbst nicht jene von der Sibylla und Oktavian, die nicht schon vor dem Jahr 1000 entstanden sein konnte, aber wir ziehen es vor, solche Sagen da einzuflechten, wo uns die passendste Gelegenheit dazu geboten wird.


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