Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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3. Zustand der Wissenschaften zur Zeit Hadrians. Unwissenheit der Römer. Kultur der Langobarden. Adalberga. Paul Diaconus. Schulen in Rom. Die geistliche Musik. Verschwinden der Poesie. Die epigrammatische Dichtung. Ruin der lateinischen Sprache. Erste Anfänge der neurömischen Sprache.

Rom scheint in jenem Zeitalter alle Kräfte in der kirchlichen Kunst erschöpft und wenige mehr für wissenschaftliche Studien gehabt zu haben. Tiefe Finsternis bedeckt wenigstens die literarischen Schulen jener Zeit. Das Wissen der römischen Geistlichen wurde freilich schon lange durch die Kenntnisse des Auslandes beschämt, und Mönche Irlands und Englands konnten Rom meistern, aus dem doch vor nicht zu langer Zeit ihre Klöster hervorgegangen waren. Nach Gregor dem Großen gab es hier niemand, der es hätte wagen dürfen, mit einem Beda oder Alcuin, mit Aldhelm und Theodulf von Orléans, mit einem Isidor und Paul Diaconus ein gelehrtes Gespräch zu führen. Kein Papst strebte mehr, durch Verfassen theologischer Werke sich dem Ruhm eines Gregor oder Leo zu nähern, und es wurde schon als eine Tat angesehen, daß Zacharias die Dialoge Gregors in das Griechische übertrug.

Die Mönche in den römischen Klöstern wetteiferten nicht mit den Kenntnissen ihrer Ordensbrüder in der Abtei Bobbio oder in Monte Cassino. Die Langobarden, von den Päpsten als Auswurf des Menschengeschlechts mißhandelt, rächten sich an den Römern durch ihre Bildung in den freien Wissenschaften. Pavia glänzte bis zum Falle ihres Reichs durch gelehrte Studien; der Grammatiker Felix vererbte dort sein Wissen auf den gefeierten Flavian, und dieser bildete ein Talent seiner Zeit, seinen langobardischen Schüler Paulus Diaconus, der sich als Poet und Geschichtschreiber hohen Ruhm erwarb. Der Untergang der Langobarden ist durch Warnefrieds naive Feder nicht beschrieben, aber durch seinen Geist verschönert worden, und den Fall des unglücklichen Desiderius milderte das Genie einer seiner Töchter. Dies war Adalberga, die Gemahlin des Arichis von Benevent, eine Fürstin von großem Verstande und aufrichtiger Liebe zu den Wissenschaften. Sie ist die zweite der Frauen Italiens, die im Mittelalter durch ihren Einfluß auf die Kultur geglänzt haben, und um so rühmenswerter, weil gleichbegabte Frauen erst in weit späteren Epochen aufgetreten sind. Denn die ersten vier Jahrhunderte nach dem Sturze des Römischen Reichs sind nur durch zwei germanische Fürstinnen ausgezeichnet, durch Theoderichs Tochter Amalasuntha und durch Adalberga. Überhaupt wird die Barbarei jener Epoche schon aus diesem Mangel an hervorragenden Frauen klar erkannt.

Paul Diaconus, ehemals Sekretär des Königs Desiderius, genoß in Benevent oder in Monte Cassino die Freundschaft des Arichis; er schrieb auf Adalbergas Antrieb die Historia Miscella, eine Vermehrung und Fortsetzung des Eutrop. An dem reichen Hof in Benevent und Salerno wurden Rhetorik und Geschichtschreibung mitten im Tumult der Umwälzung Italiens gepflegt, die langobardische Fürstin aber war im Besitz sowohl der »goldenen Sentenzen der Philosophen als der Perlen der Poeten« und die Geschichte der Völker ihr nicht minder bekannt als die der Heiligen.

In Benevent, Mailand und Pavia lehrte man Grammatik, Dialektik und Jurisprudenz, und auch in Rom muß es noch wissenschaftliche Anstalten gegeben haben. Denn Karl der Große nahm im Jahre 787 Grammatiker und Arithmetiker von hier mit sich nach dem Frankenlande. Rom wurde noch immer als die Mutter der sieben humanen Künste betrachtet, wenn sich auch kein Genie mehr in ihnen erhob. Nur die geistliche Musik blühte in der von Gregor errichteten Schule des Lateran; die Karolinger holten sich von dort Meister des Gesanges und Orgelspiels oder ließen fränkische Mönche im Lateran unterweisen. Hadrian überließ dem Könige Karl zwei berühmte Sänger, Theodor und Benedikt; der König stellte den einen in Metz, den andern in Soissons als Lehrer des römischen Kirchengesanges an. Doch diese Männer klagten, daß sie den Kehlen der barbarisch krächzenden Franken niemals einen Triller zu entlocken vermochten.

Die Musik erfreute sich also in Rom des Schutzes der heiligen Caecilia, aber die Muse der Poesie war verstummt. Die Kenntnis der profanen Poeten und Redner, die erst im XI. Jahrhundert hie und da wieder auflebte, hatte sich seit dem Sturze des Gotenreichs verloren. Freilich gab es auch nach dem V. Jahrhundert noch einige Mythographen, welche die Fabeln der Alten erklärten und kurz zusammenstellten, doch ist es fraglich, ob sie in Rom geschrieben haben. Nach Arator trat dort kein namhafter Dichter mehr auf, Homer, Virgil und Horaz waren bekannter am Hof der Franken als in Rom, und während dort Angilbert, »der Homer« Karls, und Alcuin Dichtungen verfaßten, in denen sie die glanzvolle Klarheit des Virgil nicht immer ganz unglücklich nachahmten, sind die einzigen Spuren, daß in Rom noch Dichtkunst und Metrik der Alten geübt wurden, in den Grabschriften zu suchen. Die Musen führten in dieser Stadt der Toten nur noch ein unterirdisches Leben und hefteten, selbst untergehend, ihre Seufzer an Gräber. Gleichsam eine eigene Gattung der Poesie hatte sich aus diesem Gebrauch christlicher Grabschriften gebildet, doch ihre Blüte schon nach der Mitte des IV. Jahrhunderts erreicht, wo das Talent des Papsts Damasus, eines Portugiesen, die Katakomben Roms mit eleganten Versen in heroischem Metrum zierte, die wir noch heute mit Teilnahme hie und da an Ort und Stelle lesen. Die schwermütigste aller Dichtungsarten war zugleich die einzige, die in Rom niemals ausstarb; die Klöster, Kirchen und Zömeterien der Stadt liefern eine große Sammlung von poetischen Beiträgen der Totenmuse aller Epochen bis gegen das Ende des XV. Jahrhunderts, mit dem VI. wurden sie in Sprache und Metrum freilich barbarisch genug. Im VIII. Jahrhundert wurden die metrischen Inschriften in Rom immer seltener. Römische Mönche oder Priester waren die Dichter solcher Epigramme, doch nicht immer. Als der Angelnkönig Kadwalla gestorben war, wollte man ihm ein glänzendes Epigramm verfassen, aber es scheint, daß kein römischer Dichter gefunden wurde, dessen Talent dieser Aufgabe gewachsen war. Man übertrug sie dem gerade in Rom anwesenden Bischof Benedictus Crispus von Mailand, und dieser verfaßte die überladene Grabschrift, welche wir schon kennen. Selbst das gleichlange Epigramm auf den Papst Hadrian, eins der besten in jener Zeit, war nicht von einem Römer gemacht, denn diese Verse von mäßiger Eleganz des Ausdrucks und von mehr Wärme des Gefühls wurden im Auftrage Karls von Alcuin verfaßt und von einem Kalligraphen der Schule zu Tours in Marmor eingegraben.

Karl selbst, dessen Schüler in allem Wissen, in der Grammatik aber, wozu auch die Metrik und Poesie gehörte, durch Petrus von Pisa unterrichtet, liebte es, an seine Freunde bisweilen Episteln in Versen zu schreiben oder schreiben zu lassen; er schickte solche auch an Hadrian, und der Papst vergaß nicht, sie als wohlwollender Kritiker zu loben. »Ich habe«, so schrieb er ihm einmal, »die vortrefflichen und zierlichen, die honigtriefenden Verse Eures erlauchten königlichen und Gott geweihten Genies empfangen, jeden einzelnen gelesen und mit Wonne ihren kräftigen Ausdruck in mich aufgenommen.« Er selbst, durch Talent wie Bildung der bedeutendste Mann Roms, ließ diese Artigkeiten bisweilen in Versen erwidern, von denen wir noch einige lesen. Sie sind in Akrostichen gekünstelt, und ihr barbarischer Stil gibt Zeugnis davon, wie tief die damalige römische Schule unter jener fränkischen des Alcuin stand.

Im allgemeinen läßt sich die tiefe Verderbnis der lateinischen Sprache im VIII. Jahrhundert bemerken. Die Briefe der Päpste an die Karolinger, die wir so oft als Urkunden zu Rate gezogen haben, liefern dafür ein großes Material. Aus der Kanzlei des Lateran hervorgegangen, von den Beamten des Scrinium oder Archivs redigiert, nehmen sie die beste Latinität in Anspruch, deren Rom damals fähig war. Aber es ist ein tiefer Abstand von der prunkenden Beredsamkeit der Reskripte Cassiodors zu dem Stile dieser päpstlichen Briefe, worin weder Logik noch Grammatik mehr sichtbar sind, und vor allem zeichnen sich die Schreiben Stephans III. durch Phrasenschwall aus. Die Unfähigkeit, den Gedanken klar zu entwickeln, kommt in allem der Barbarei der Sprache gleich. Wenn nun hier, im Liber Pontificalis und im Liber Diurnus mit Recht das beste damalige Latein der Römer gesucht werden darf, so kann man sich leicht vorstellen, wie die Sprache des gewöhnlichen Lebens beschaffen war. Wir schließen auf ihren Zustand mit einigem Grunde aus den Dokumenten jener Periode, mögen sie Schenkungsurkunden, gerichtliche Akten, Grabschriften oder andere Inschriften sein; wir sehen überall, wie aus dem abgetragenen Gewande des alten Latein die noch unbeholfene Geburt der neurömischen Sprache hervorsieht. Es hat sich indes kein einziges Fragment der damaligen Volkssprache Roms erhalten. Während Deutsche und Franzosen in dem berühmten Schwur Ludwigs und Karls des Kahlen eine unschätzbare Urkunde der Lingua Romana und der deutschen Sprache vom Jahre 842 besitzen, gibt es keine der lingua volgare Roms jener und selbst späterer Zeit. Man ist durchaus berechtigt zu erklären, daß eine solche vorhanden, und daß sie von dem offiziellen Latein der Notare verschieden war. Nur dürfte sich diese Ansicht etwas beschränken lassen, denn nirgends in der Welt mußte sich die Lingua Latina länger im Volk behaupten als in der Stadt Rom, ihrem Vaterlande, wo überdies keine feindlichen Invasionen und keine massenhaften Einwanderungen von Germanen stattgefunden hatten. Es findet sich auch keine Andeutung, daß die Römer jener Zeit Predigten der Priester und Verhandlungen der Notare aus dem Latein ins Vulgär sich übersetzen ließen, wie es in Gallien geschah. Freilich mußte das bereits gründlich genug verfallene Latein der Notare im Munde des Volkes noch verdorbener sein. Ein Römer aus der Zeit des Tacitus würde die Sprache seines Volks so wenig verstanden haben als heute Karl der Große die deutsche Sprache oder als wir die Mundart unserer Vorfahren zu seiner, ja nur zur Zeit der Hohenstaufen, ohne vorausgegangenes Studium verstehen würden. Die Sprache der Römer war nach Naturgesetzen unter den Einflüssen der Zeit verwandelt worden. Viele Ursachen hatten dies seit dem ersten Jahrhundert der Kaiserzeit bewirkt: der Verfall der ländlichen und städtischen Bevölkerung, ihre fortgesetzte Mischung mit den massenhaft freigelassenen Sklaven und Fremdlingen so vieler Nationen, endlich auch das Sinken der Literatur und der Schulen überhaupt. Es ist daher irrig, die Verderbnis des alten Latein durchaus nur auf Rechnung der Invasion der Goten und Langobarden zu setzen, statt sie aus natürlichen Prozessen des Lebens zu erklären. Der stolze Bau der lateinischen Sprache zertrümmerte ganz so in sich selbst wie Rom und andere Städte mit ihren Tempeln, Theatern und Palästen; wenn man jene Urkunden des VIII. Jahrhunderts liest, so hat man bereits die Ruinen der Sprache des Cicero und Virgil vor sich, und man sieht in dieselben das christlich romanische Idiom sich umgestaltend einleben. Die offizielle und literarische Sprache des VIII. Säkulum, welche uns allein zugänglich ist, erscheint als das völlige Abbild der Stadt Rom und der Widersprüche ihrer Architektur und ihrer Lebensformen überhaupt, da überall die majestätische Larve des Altertums noch über den neuen Bildungen emporragte. Die grammatische Unfähigkeit entsprang aus diesem Widerspruch des Toten und Lebendigen; die logischen Sprachgesetze der alten Römer waren zersprengt, und das alte Latein, die Sprache der Helden und der Staatsmänner, hörte mit dem Falle der heidnischen Religion und Staatsgesellschaft allmählich auf, als ein lebendiger Strom zu fließen. Er erstarrte, zerbröckelte, verwandelte sich langsam und schuf sich neue Gesetze – eins der merkwürdigsten Phänomene in der Geschichte der menschlichen Kultur. Der Übergang in das Neuvulgäre wurde durch Verstümmelung der Ausgänge, durch Abwerfen der Endkonsonanten, die der Zunge und dem Ohr bereits schwer fielen, durch Vermischen der Vokale, Vertauschen der Mitlauter, durch Annahme des Artikels allmählich bewirkt, so daß die Unfähigkeit, Casus oder Geschlechtsform zu behaupten, schon im VIII. Jahrhundert in der Literatursprache selbst italienisch klingende Formen erzeugte, die dann im X. und XI. Säkulum die völlige Oberhand gewannen.


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