Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2. Die Mirabilia Urbis Romae.

Das XII. Jahrhundert begünstigte die ersten Studien römischer Archäologie. Die Senatoren, welche die Republik auf dem Kapitol wieder eingesetzt zu haben wähnten, erinnerten sich auch der monumentalen Pracht des alten Rom, und sie bauten die Wunderstadt ihrer Ahnen in der Vorstellung wieder auf. Trotz aller gewaltsamen Zerstörung der Jahrhunderte war Rom die antikste Stätte des Abendlandes und in den Römern, wenn auch ruinenhaft, noch ein antiker Geist, der dem Volke zum Bewußtsein kam und mit der Kirche in Streit geriet. Zur Zeit der Erneuerung des Senats wurden die Graphia und Mirabilien in der Form festgestellt, in der sie auf uns gekommen sind, und seither immer wieder in Abschriften verbreitet, aber auch von unwissenden Schreibern bis ins Absurdeste entstellt. Beide sind im Wesen dasselbe Produkt, doch verschiedener Rezension; wenn sie auch nicht mit Absicht das kirchliche Rom von sich weisen, so wenden sie sich doch mit entschiedener Liebe der heidnischen Stadt zu. Dies fiel so wenig auf, daß die Mirabilien gerade von päpstlichen Archivisten wie Benedikt, Albinus und Cencius ihren amtlichen Sammelwerken einverleibt wurden. Die Erwähnung des Grabes Innocenz' II. und Anastasius' IV., der Türme der Frangipani und Pierleoni, endlich des Palasts der Senatoren auf dem Kapitol zeigt, daß diese Stadtbeschreibung in der letzten Hälfte des XII. Jahrhunderts abgeschlossen wurde. Obwohl der Graphia ältere Bestandteile, nämlich das kaiserliche Ritualbuch aus der Ottonischen Zeit, angeheftet worden sind, so gehört doch auch ihre Abfassung in dieselbe Zeit, und wir besitzen keinen Codex der Mirabilien überhaupt, der das XII. Säkulum übersteigt.

So blieb zwischen dem Curiosum Urbis oder doch dem Anonymus von Einsiedeln und den Mirabilien eine Lücke von Jahrhunderten, aus der uns kein Mittelglied erhalten ist. Sicherlich entstand die aus jenem Curiosum erweiterte Stadtbeschreibung in ihren Grundlagen nach und nach; Teile davon waren dem Chronisten vom Soracte bekannt, und endlich mochte im XII. Jahrhundert das Ganze zusammengestellt sein. Die fragmentarische Entstehung der Mirabilien läßt sich wenigstens nicht ableugnen, aber die Originalrezension fehlt uns trotzdem. Erst römische und italienische Autoren aus der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts, der Kanonikus Benedikt, Albinus und Cencius, Gottfried von Viterbo, Petrus Mallius, Romuald von Salerno, später Martinus Polonus und Signorili, haben die Mirabilien teils benutzt und ausgezogen, teils in sich aufgenommen und überarbeitet.

Die römische Archäologie, welche heute eine erschreckende Breite erreicht hat, treibt in dieser seltsamen Schrift eines unbekannten Scholasten »von den Wunderbarkeiten der Stadt Rom« ihre schon entwickelten Keime in barbarischer, naiver Form und einem angemessen ruinenhaften Latein. Verstand und Unsinn, richtiges Wissen und verzeihlicher Irrtum, welche darin gemischt sind, werden von der anspruchsvollen Gelehrsamkeit späterer und heutiger Archäologen nicht allzu tief beschämt, welche, wenn man sie zusammenfaßt, aus Rom ein den Geschichtschreiber anwiderndes Labyrinth gemacht haben. Es ist überaus reizend, sich zu denken, wie die Stadt im XII. Jahrhundert ausgesehen hat, wo ihre majestätischen Ruinen noch nicht als Skelette und Illustrationen einer Wissenschaft, künstlich gereinigt, umzirkelt und umgraben, dastanden, sondern in waffenstarrende Türme wilder Konsuln und malerische Wohnungen verwandelt oder der Verwilderung der Natur überlassen waren. Viele Ruinen, die heute verschwunden sind oder den Schmuck ihres Marmors verloren haben, standen im XII. Jahrhundert mitten in den Straßen aufrecht und wurden vom Volke hier legendenhaft, dort richtig benannt. Liest man das Mirabilienbuch, so muß man über deren Menge selbst noch nach dem normannischen Brande erstaunen; denn obwohl die Stadtbeschreibung manche Orte und Monumente noch aufzählt, die im XII. Jahrhundert sich verändert hatten oder untergegangen waren, so wird doch sehr oft wirklich Vorhandenes beschrieben und benannt.

Wir können an mancher Stelle ihre Richtigkeit einer Probe unterwerfen, welche uns die gleichzeitigen Ritualbücher der Kirche darbieten; denn sie haben durchaus dieselben volkstümlichen Namen der Denkmäler. Sie zeichnen einmal den Weg der päpstlichen Prozession durch Rom und bestimmen ihn genau nach Bauwerken und Straßen. Die Päpste zogen damals bei gewissen Festen nicht in goldenen Karossen, sondern barfüßig einher. Die ermüdeten Greise ruhten dann an hergebrachten Stationen, wo ihnen ein Lager ( lectulus) öffentlich bereitstand; oder sie ritten, vom Pomp ihres Hofs umgeben, mit dem Regnum gekrönt, auf einem weißen Maultier ( albus palafredus), welches mit Silber gezäumt und mit Purpur gedeckt war.

Der Ordo des Kanonikus Benedikt aus dem Jahre 1143, in dessen Codex selbst die Mirabilien sich finden, beschreibt in folgender Weise den Weg der Prozession. »Der Papst kommt heraus durch das (lateranische) Feld bei St. Gregorius in Martio, steigt unter dem Bogen der Wasserleitung ( Martia, von welcher St. Gregor so hieß) auf den großen Weg, geht rechts S. Clemente vorbei, biegt links zum Coliseum. Er geht durch den Arcus Aureae (ein nach dem Forum des Nerva fahrender Bogen) vor dem Forum des Trajan (das heißt des Nerva) bis nach St. Basilius (heute delle Annunziatione), steigt über den Berg bei den Militiae des Tiberius ( Torre delle Milizie); steigt ab durch St. Abbacyrus, geht SS. Apostoli vorbei links nach der Via Lata, biegt ab durch die Via Quirinalis, geht nach S. Maria in Aquiro zum Bogen der Pietas, sodann nach dem Marsfeld, vorüber St. Tryphon bei den Posterulae bis zur Hadriansbrücke. Er tritt ein über die Brücke und heraus durch die Porta Collina vor dem Tempel und Kastell des Hadrian; vorbei dem Obelisken des Nero zieht er durch den Porticus neben dem Grabmal des Romulus, dann steigt er zum Vatikan die Basilika des Apostels Petrus empor.«

»Sobald die Messe beendigt ist, wird er dort vor der Basilika gekrönt, wo er zu Pferde steigt; und so gekrönt, kehrt er in Prozession auf diesem »heiligen Weg« zurück: durch den Porticus und über die genannte Brücke tritt er ein unter dem Triumphbogen der Kaiser Theodosius, Valentinian und Gratian und zieht neben dem Palast des Chromatius, wo die Juden die Loblieder singen; weiter durch Parione zwischen dem Circus des Alexander (heute Navona) und dem Theater des Pompejus, abwärts durch den Porticus der Agrippina (am Pantheon), aufwärts durch die Pinea (Region oder Platz della Pigna) neben die Palatina (das alte Lokal ad Pallacenas bei S. Marco), vorbei S. Marco, hierauf durch den Bogen der fleischernen Hand ( Manus Carneae), durch den Clivus Argentarius zwischen der Insel desselben Namens ( Basilica Argentaria) und dem Kapitol; abwärts vor dem Marmertinischen Gefängnis ( privata Mamertini); dann tritt er ein durch den Triumphbogen (des Severus) zwischen dem Templum Fatale (Janusbogen) und dem Tempel der Concordia, weiter zwischen dem Forum des Trajan (Nerva) und dem Forum des Caesar; durch den Bogen der Nervia zwischen dem Tempel derselben Göttin und dem Janustempel; aufwärts vor dem Asyl durch die gepflasterte Straße, wo Simon Magus fiel (alte Via Sacra), neben dem Tempel des Romulus (Basilika des Constantin); er geht sodann durch den Triumphbogen des Titus und Vespasian, der da heißt von den »Sieben Leuchtern«; er steigt ab zur Meta Sudans vor dem Triumphbogen des Constantin, biegt links ein vor dem Amphitheater, und durch den heiligen Weg ( sancta via) neben dem Colosseum kehrt er zum Lateran zurück.«

So hatte sich auch eine neue Via Sacra christlicher Pompzüge durch Rom gebildet, von welcher der letzte Teil vom Colosseum bis zum Lateran Sancta Via hieß, und die päpstlichen Prozessionen bewegten sich mit Absicht durch die alten Triumphbogen des Heidentums. Auf dem Papstwege wechselten christliche Monumente mit heidnischen; aber selbst die Ritualbücher verzeichneten damals mit entschiedener Vorliebe die letzteren. Das Mirabilienbuch zählt sie alle auf; auch der Palast des Präfekten Chromatius in der Region Parione, wo sich die Juden aufstellten, fehlt in ihm nicht. Es schildert diesen römischen, damals noch in Trümmern dauernden Bau bei St. Stephan in Piscina als Templum Olovitreum, das heißt »ganz mit Musiv ausgelegt, ganz aus Glas, Kristall und Gold durch magische Kunst gemacht und mit einer Astronomie des Himmels versehen«, und es weiß, daß Sebastian mit Tiburtius, dem Sohne des Präfekten Chromatius, diesen Wunderpalast zerstört hatte.

Der Ordo Romanus bekundet also die topographische Zuverlässigkeit der Mirabilien; auch sonst zeigt diese Stadtbeschreibung trotz ihrer barbarischen Art die häufige Richtigkeit der Anschauung, welche die gegenwärtige Archäologie bestätigen muß. Der Verfasser schöpfte außer der örtlichen Überlieferung aus mehreren Quellen. Die älteste boten ihm das Curiosum und die Notitia dar, aber er nahm deren Regionen-Einteilung als für seine Zeit unbrauchbar nicht mehr auf. Er begnügte sich mit der etwas veränderten Übersicht der Mauern, Tore, Berge und Brücken. Nur die noch immer wichtigen Rubriken: Paläste, Thermen, Triumphbogen und Theater, sind von ihm ohne Zahlenangaben, mit Vorliebe, aber großer Verwirrung ausgeführt. Dann zählt er dem Pilger zu Nutz und Gefallen die Friedhöfe und die Orte auf, welche durch die Märtyrergeschichte berühmt sind, und diese Angaben schöpfte er aus den kirchlichen Stationsbüchern, dem Pontificale und den Martyrologien. Einem der naiven Abschreiber des Mirabilienbuchs, der sich in den Heiligenkalender vertiefte, schwebten daher selbst die von dem Verfasser der Mirabilien viel benutzten Fasten des Ovid einmal als das Martyrologium des Ovidius vor. Sodann folgen einzelne Abschnitte je nach den verschiedenen Rezensionen in verschiedener Reihenfolge: von dem Pinienapfel, der in Rom stand; vom Kapitol; dem Tempel des Mars in Rom; von den marmornen Pferden; von den Richtern der Kaiser in Rom; von der Säule des Antonin. Endlich wird in der Hauptmasse, mit mancherlei Wiederholungen, die Beschreibung gegeben des Vatikan und der Engelsburg, des Grabmals des Augustus, des Kapitols, der Fora, des Palatin und anderer Hügel und die Geschichte vom ehernen Pferde vor dem Lateran wie vom Bau des Pantheon und der Vision Agrippas angefügt.

Wie die Mirabilien in ihrer Hauptmasse schildern, mögen noch einige Auszüge dartun: »Es ist hier (auf der Seite des Forum) der Tempel der Vesta, wo der Drachen im Innern schlafen soll, wie wir das im Leben St. Silvesters lesen; und dort ist der Tempel der Pallas und das Forum des Caesar und der Tempel des Janus, welcher am Anfang und Ende das Jahr voraussieht, wie Ovid in den Fasten sagt; jetzt aber heißt er Turm des Cencius Frangapane.« – Die Ruinen des Palatin, welcher auch Palantius mons hieß, werden nur kurz bemerkt. »Innerhalb des Palatium ist der Tempel des Julius; in der Fronte des Palatium der Tempel des Sol; auf demselben Palatium der Tempel des Jupiter, welcher Casa maior heißt.« Vom Circus Maximus: »Der Circus des Priscus Tarquinius war von wunderbarer Schönheit und so abgestuft, daß kein Römer den andern am Sehen hinderte; auf dem Gipfel standen Bogen, die ringsum mit Glas und gelbem Golde getäfelt waren; oben waren die Häuser des Palatium, wo im Umkreise die Frauen saßen, das Spiel am 14. Mai zu sehen, wenn es gegeben wurde; in der Mitte standen zwei Agulien (Obelisken); der kleinere hatte 87 Fuß, der größere aber 122. Auf der Spitze des Triumphbogens, der am Eingange ist, stand ein Pferd von vergoldetem Erz, welches einen Anlauf zu nehmen schien, als wollte ein Krieger mit ihm dahinrennen; auf dem andern am Ende befindlichen Bogen ein anderes ehernes und vergoldetes Pferd. Zugleich standen auf der Höhe des Palatium, von wo das Spiel gesehen wurde, die Sitze des Kaisers und der Königin.« – »Vor dem Tempel des Trajan, wo noch heute die Türen desselben dauern, war der Tempel des Zeus.« – »Neben der Schola Graeca war der Tempel des Lentulus; auf der andern Seite, wo jetzt der Turm des Centius de Origo steht, war der Tempel des Bacchus. Im Elephantus war der Tempel der Sibylla und der Tempel des Cicero in Tulliano und der Tempel des Zeus, wo die goldne Laube war, und das Templum Severianum.« – »Im Marsfeld der Tempel des Mars, wo die Konsuln an den Kalenden des Juli erwählt wurden und bis zu den Kalenden des Januar blieben; wenn der zum Konsul Gewählte von Verbrechen rein war, so wurde ihm sein Konsulat bestätigt. In diesem Tempel stellten die römischen Sieger die Schiffschnäbel auf, aus denen Werke zum Schauspiel aller Völker gemacht wurden.« – »Auf der Spitze der Fronte des Pantheon standen zwei Stiere von vergoldetem Erz. Vor dem Palast des Alexander waren zwei Tempel der Flora und des Phoebus. Hinter dem Palast, wo jetzt die Schale steht, war der Tempel der Bellona, wo geschrieben stand:

Roma war ich, die alte, die neue werd' ich genannt sein;
Aus dem Schutte befreit, richt' ich zum Himmel mich auf.«

Die Mirabilien bezeichnen die Denkmäler der Alten oft durch Kirchen, welche in ihren Ruinen erbaut worden waren, aber man sieht, sie beschäftigen sich fast ausschließlich mit jenen, so daß dies Buch geradezu das archäologische Wissen von Rom in jenem Zeitalter enthält, wo Italien den kühnen Anlauf nahm, die Barbarei des Mittelalters, die Priestergewalt und die Fremdherrschaft zugleich von sich abzustreifen. Das Buch der Mirabilien erscheint daher mit innerer Folgerichtigkeit als die archäologische Wiederherstellung der alten Stadt in der Zeit der Aufrichtung der freien Gemeinde. Man mag sich denken, daß dieses Buch damals die Lieblingsschrift der Senatoren war. Sein Verfasser konnte nur ein Römer sein. Er sprach mit Bewußtsein den wesentlich archäologischen Zweck seiner Arbeit in diesen Worten aus: »Diese und andere viele Tempel und Paläste der Kaiser, Konsuln, Senatoren und Präfekten, welche zur Zeit der Heiden in dieser goldenen Stadt gewesen sind, so wie wir in den alten Annalen lasen und mit unsern Augen es gesehen und von den Alten es gehört haben, wie gar schön sie von Gold, Silber und Erz, Elfenbein und Edelsteinen glänzten, haben wir durch die Schrift zum Andenken der Nachkommen, soviel wir konnten, deutlicher zu machen uns bemüht.«

Der Altertumskundige darf noch heute jenem Scholasten dankbar sein. Er kann aus ihm manchen Nutzen ziehen, wenn er durch Kritik das Wahre vom Falschen aussondert. Der Autor war immerhin schon ein Forscher, der den ersten Versuch vor Flavius Blondus machte, das verschüttete Rom wiederzufinden und in seinen geschichtlichen Monumenten darzulegen. Aber die Wirklichkeit der antiken Römerstadt liegt im Mirabilienbuch (und auch in allen andern Büchern der Archäologie) wie von einem trüben Mondlicht umschleiert. Die verwandelnde Zeit deckt alles geschichtlich Entstandene, so groß und herrlich es sein mochte, mit Schutt zu. Die Enkel graben darin mit anspruchsvoller Mühe nach den Zeugnissen der Vergangenheit, um doch kaum halb zu erraten, was einst jedes Kind an Ort und Stelle gewußt hat.


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