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16.
Eltern und Kinder.

Ja Vieles, Vieles wurde anders, aber Vieles ist doch auch noch gerade so, wie es war, als die gelbe Stube noch die grüne, die graue die blaue, die Kinderstube die Schlafstube, und als das Haus noch den alten Abputz hatte, der jetzt nur hie und da an schwachen Stellen der neuen Sandfarbe sein altes heiteres Roth durchschimmern läßt, wie Flecken der Altersröthe in diesem und jenem Gesicht, das früher auch ein anderes, etwas gleichmäßigeres Kolorit haben mochte.

Auch heute noch lernen nicht allein die Kinder von den Eltern, die Eltern lernen ebenso von den Kindern. Und wäre es nur, daß sie wieder lernen von und mit den Schulkindern, was sie als Schulkinder auch wol schon gewußt, aber längst wieder vergessen, daß sie von erwachsenen Söhnen und Töchtern lernen, ob man jetzt die Verbeugung tief macht, mit erhobenem Blicke oder mit gesenktem Blick und ehrerbietigem Kopfnicken, ohne sich nur um einen halben Grad aus dem Loth zu bemühen, ob die Hüte hoch oder niedrig, die Aermel unten weit und oben eng, oder oben weit und unten eng getragen werden, welches Buch man gelesen, und welches Stück man gesehen haben muß, von dem nach fünf bis zehn Jahren kein Mensch begreift, wie das mal solch Furore hat machen können, und was sonst etwa maßgebend Neues noch auf manchen anderen Gebieten, wo man gar nicht glauben sollte, daß die Mode selbst da so viel Einfluß übt, als sie in der That oft genug auszuüben scheint – ja wäre es auch nur, daß die Eltern von, an und in ihren kleinen und kleinsten Ebenbildern, deren Seele sie noch unverhüllt aus klaren Kinderaugen anschaut, – sich selbst ein bischen besser kennen lernen, als aus dem eigenen Spiegelbilde.

Auch jetzt noch werden nicht allein die Kinder erzogen, sie erziehen ebenso – durch die erziehende Macht der Liebe. Und ginge es nur nach dieser idealen Macht, deren Triebkraft gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, so dürfte die menschliche Gesellschaft schon längst am Ziele ihrer Vollendung, damit aber auch am Ende angelangt sein. Wenn Alle und Alles schon vollkommen, wonach sollte und könnte der Mensch noch streben? Und ohne Streben kein Leben. Da ist es nun ein wahres Glück, daß die zu erziehenden kleinen und größeren Lieben nicht immer in gleichem Maaße darauf bestrebt sind, erzogen zu werden. So bleibt immer noch ein segensreicher Naturrest von Ungezogenheit übrig, und immer wieder schwindet für die nächste Generation die dringendste Gefahr einer vorzeitig fix und fertig vollkommenen Menschheit.

Auch jetzt noch werden nicht allein die Kinder beobachtet, sie beobachten eben so oft, meistens ohne es selbst zu wissen, um vielleicht erst nach langen Jahren bei ähnlichen Beobachtungen mit reifem Bewußtsein erstaunt inne zu werden, wie scharf sie schon unbewußt beobachteten.

Auch jetzt noch sagt die Mutter immer: »wir durften nie ...« oder: »wir bekamen nie ...« aber niemals sagt sie: »wir bekamen immer ...« oder: »wir durften immer ...« Auch jetzt noch sagt die Mutter immer: »meine Mutter sagte schon immer ...« Und was schon die Mutter der Mutter sagte, gilt auch noch immer mehr, wie die gewichtigsten Aussprüche aller Weisen der Welt. Auch jetzt noch sagt die Mutter im selben Ton und mit derselben Miene, wie ihre Mutter: »Besinne dich doch ...« Und wenn die zur Besinnung Aufgeforderten sich ausbesonnen, sehen sie auch jetzt noch in den allermeisten Fällen das Unpassende ihrer Widerrede fast ebenso gut, vielleicht besser ein, als hätte die Mutter ihnen die Mühe des eigenen Nachsinnens und der Einkehr in sich selbst erspart und sie mit einer Fülle wohlverdienter Scheltworte überschüttet.

»Eßt doch, eßt doch, Kinder« – sagt auch jetzt noch die Mutter – es ist Grütze, schöne Grütze. Grütz' ist dem Bauch nütz', es ist ja Hafergrütze. Wovon werden die Pferde so stark? Vom Hafer – also eßt, eßt! daß ihr auch groß und stark werdet.« Und auch jetzt sagt die Mutter nie: »Kinder, eßt doch! Es ist Braten, frischer Braten – Braten ist noch viel nahrhafter als ausgekochtes Suppenfleisch,« wol aber sagt sie auch jetzt noch dann und wann: »mancher Sack wird zugebunden, ehe er ganz voll« ... oder: »mäßige deinen Eifer« oder: »nun behalt' es nur, was du dir einmal genommen ... ich werde dir wieder auflegen – das ist dann aber auch gleich deine zweite Portion« – und es brauchte gar nicht mal Rehrücken zu sein oder ein Consistorialvogel – nur eine gute Kalbskeule, von der die Großmutter schon immer sagte: »die ist mir wie ein treuer Freund, da schneide ich die ganze Woche von.«

Auch jetzt noch hat der Vater zwei Wörtchen und zwei kleine Redesätze, mit denen er mehr ausrichtet, als Andere mit stundenlangen Reden. Das eine Wörtchen ist »Ja«, wenn auch kein so zartes wie im Liede, und das andere: »Nein«, wenn auch kein so tragisches wie das im Liede. Der eine kleine Satz ist: »ich will es aber« – und dann ist's fertig – und der andere: »ich will es aber nicht«, und dann ist's auch fertig. Nur in sehr seltenen Fällen ist es nicht fertig. Und da heißt es dann noch immer: »ich hab es doch schon so oft gesagt – wie oft soll ich es denn sagen?« Oder: »wer hat schon wieder dies oder das gethan ... oder nicht gethan? Wer hat schon wieder dies oder das genommen und nicht zurückgebracht?« Und dann ist das noch immer so: mit musterhafter Präcision meldet sich ein ganzer Chor wie mit einer Stimme: »ich nicht« – blos derjenige, der es gethan oder nicht gethan, der es genommen ... aber nicht wieder gebracht, ist noch immer nicht so schnell bei der Hand, sich zu melden.

Es ist noch immer so wie damals, als der Großvater sagte:

»Ich habe dir's doch schon so oft gesagt, ich will es nicht – du sollst nicht mit Gelegenheit schreiben. Das Porto bis Berlin ist freilich hoch – früher war es noch höher, und es ist einmal verboten. Oder schreibe wenigstens nicht »durch Güte« ... d. G. schreibe »d. D.« herauf.«

»Wieso d. D?«

»Nun »durch Defraudation«; denn das ist gerade so, als wenn du unser Brod, Mehl und Fleisch unversteuert herein bringst.«

Die gute Großmutter sah so eigen stillvergnügt aus – ein Glück, daß der Herr Steuerrath oder der Herr Steueruntersuchungsrichter nicht da war. Da die Herren nun aber nicht da waren, so nahm die Großmutter kein Blatt vor den Mund: »Der Staat wird nicht gleich zu Grunde gehen, wenn wir auch mal ein Landbrod, einen Schinken oder Schöpsenbraten verzehren, die nicht erst am Steueramt vorfuhren und ihre Visitenkarte abgaben.«

»Das ist so recht nach einer Frau gesprochen.«

»Ich bin ja auch eine Frau.«

– Ja das ist jetzt besser. So etwas kann gegenwärtig gar nicht mehr vorkommen weder beim schlechtesten Wetter in der glücklichsten, noch beim schönsten Wetter in der unglücklichsten Ehe – schon deshalb nicht, weil die Mahl- und Schlachtsteuer abgeschafft, und das Porto noch viel billiger geworden. An jenem Vormittage oder Nachmittage aber kam keines der Kinder zum Großvater: »Vater darf ich wol?« ... und keines kam zur Großmutter: »Mutterchen, wir möchten so gerne« ... denn das war damals auch schon so, wie es noch immer ist, die Kinder wußten sehr genau, oft besser als das beste Wetterglas und ebenso gut wie Vater und Mutter selbst, was für Wetter im Hause.

*

 


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