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11.
Die erste Gesellschaft.

»Wer weiß, kommen sie nicht noch,« sagte die alte Frau Engelrecht, »auf die ist kein Verlaß. Wenn sie zusagen, halten sie nicht Wort, und wenn sie absagen – sehen Sie! ich kenne meine Kinder – da sind sie.« ... Ottilie freute sich schrecklich im eigentlichsten Sinn, sie fühlte den freudigen Schreck bis in die bebenden Kniee – nun mußte ja wieder umgedeckt werden! Aber sie faßte sich, begrüßte die unverhofften Spätlinge auf das herzlichste und ordnete Alles so schnell an – als Max, der noch etwas länger mit dem jungen Engelrecht gesprochen, hinzukam, um zu helfen, blieb ihm nur noch übrig, seiner gewandten kleinen Frau für die bewiesene Geistesgegenwart seine höchste Anerkennung auszudrücken. Es war schon Alles geschehen. Er gab ihr einen Kuß, der im Drange der Geschäfte gleichsam nur cursorisch behandelt wurde, es war aber doch – ein Kuß. – Die Flügelthüren gingen auf: »nun werden wir sehr bitten.«

Sie hatten in der ausgeräumten Schlafstube decken lassen und die Tafel mit allen ihren hübschen neuen Sachen auf's beste herausgeputzt. Das feine Tischzeug zog sogleich die Kennerblicke der Frauen auf sich und wurde nach Verdienst gewürdigt. Nur waren die noch gar nicht gebrauchten Damast-Servietten so spröde, steif und glatt, sie rutschten einem beständig vom Schooß. Bernhard, der es für eine unabweisbare Pflicht der Galanterie hielt, die Servietten den Damen wieder aufzuheben, kam fast gar nicht mehr unter dem Tisch hervor. Frau Paustian, in großer Toilette, die dicke Erbskette zweimal um den Hals, hatte eine eigene Art Messer, Gabel und Löffel zu balanciren zwischen Mittel- und Zeigefinger ihrer reich mit Ringen besteckten und noch immer hübschen, nur etwas zu fetten Hand. »Sie schätzt das Silber,« bemerkte Eugen, ihr ehrerbietiger Neffe. »Warum sie sich blos nicht zum gerichtlichen Taxator vereidigen läßt!« Die Frau Oberstin, deren Anwesenheit nicht wenig dazu beitrug, dem Abend einen seltenen Glanz zu geben, lächelte, als ihr präsentirt wurde. Das Mädchen reichte falsch herum – rechts statt links. Der gute alte Herr Rademacher würde nichts gesagt haben, und wenn er sich den Arm in der unbequemen Stellung ausgerenkt hätte. Dann kam die Stadträthin Alborn, die machte aber keine Umstände und schickte die Christiane ruhig auf die andere Seite herum. Da fiel es auch der jungen Frau auf: »Nein, man muß ihnen doch Alles bis auf's kleinste sagen, wenn sie nicht lauter Dummheiten machen sollen! Am Ende ist's kein großes Unglück! Max scheint es nicht bemerkt zu haben, ihm würde es noch viel unangenehmer gewesen sein.« – Herr Paustian legte sich auf mit einem Gesicht, etwa wie ein humaner Professor beim Examen, der durchaus geneigt, jede statthafte Milde und Nachsicht walten zu lassen – immer bleibt eine Prüfung – und mehr oder weniger gut Essen keine leicht zu nehmende Sache für ernste Männer. Als er das Stück klein schnitt, zogen ein paar gravitätische Falten seinen Mund zusammen, die Augen schlossen sich, der sorgfältig, nicht zu stark mit Sauce bewälzte Bissen wurde von der Zunge in Empfang genommen, er kaute ein paar Mal zu und – nickte nicht unbeifällig. Nun athmete die junge Frau freier, ihr Blick schweifte nach dem andern Ende der Tafel – doch noch immer nicht ganz sorglos, sie beobachtete, ob auch die Beisätze folgten. Alles ging seinen richtigen Gang. Jetzt nahm sie auch Theil an der Unterhaltung. Das angeregte Gespräch drehte sich nicht um die gewöhnlichen Kleinstädtereien, auch nicht um unsere allgemeinen, mehr und mehr in Bewegung gerathenden »inneren Zustände«. Ernste auswärtige Nachrichten schienen eingetroffen. Max hielt mit seinem Vater und Schwager zusammen die »Staatszeitung«, hatte aber das neueste Blatt noch nicht – als der Jüngste bekam er es zuletzt, den zweiten, manchmal erst den dritten Tag. Die junge Frau würde heute auch wol weder Zeit noch Lust gehabt haben, es zu lesen. Der Stadtrath setzte ihr nun in aller Kürze das Wesentliche der Situation aus einander. Ihr Blick hing an seinen Lippen, fort und fort nickte sie – es war kein tiefes, aber ein ungemein behendes und intensives Nicken: »ah so ... gewiß – ja wol ... ich verstehe – richtig« ... sagte sie und dachte: »wenn sie doch nur nicht fiele!«

– Wer? Die französische Regierung, die Monarchie ... oder nur die Dynastie ... oder ... die Citronenspeise? ...

Ich fürchte – die Speise.

Es war in der Mitte oder ersten Hälfte des Februar.

Und wieder verschwand Ottilie und kam wieder sehr geschäftig zurück und bedauerte wieder ihre Nachbarn, einen so schlechten Platz zu haben und lächelte wieder mit einem besondern Niederschlagen der Augen, sie zupfte und zupfte, bis es der alte Herr Wiedemann gewahr wurde und elastisch genug für einen so stattlichen schweren Herrn emporschnellte mit sammt seinen vier Stuhlbeinen. Er saß schon wieder auf ihrem Kleide. Ja Alles vom Tisch aus zu lenken nur mit Blick und Wink, ist auch eine Kunst, die erst gelernt sein will. –

Die alte Frau Rademacher erhob drohend den Finger, als noch andere Gläser aufgestellt wurden, hohe spitze Gläser, und im Hintergrunde ein Kübel zum Vorschein kam, in dem eine Flasche schräg lag, nur ihr silberblanker Kopf sah hervor. Als aber der Pfropfen so lustig knallte, bis an die Decke sprang und dickaufgequollen, mit sehr achtbarem Stempel, auf den Tisch fiel, als Max beim Einschenken immer so in einer gewissen kühnen Art nach den Gläsern zielte, immer den schaumsprudelnden dünnen Hals der dickleibigen Flasche so hurtig zurückzog, ehe der blaßröthliche Wein, der in weißem Gischt aufbrauste und perlte, überlief – immer so weiter eilte von Einem zum Andern rund um den Tisch, die Serviette über dem Arm, gleichsam das Symbol dieser heitern Stunden, deren größte Freude für den jungen Hausherrn, seine Gäste recht aufmerksam zu bedienen – als er dann zuletzt sich selbst eingeschenkt und in einer ganz netten kleinen Rede diesem liebenswürdigen Gefühl Ausdruck gegeben, als ferner zur Sprache kam, der Champagner sei ein Geschenk der Eltern der jungen Frau mit der besonderen Bestimmung »zur ersten Gesellschaft« – da erschien der Luxus in einem mildern Lichte selbst den strengsten Vertretern der alten Sitteneinfalt, die beiläufig gestehen mußten, selten – so guten Champagner getrunken zu haben.

»Und wer übernimmt die Erwiderung? ... Ich nicht.« Der junge Herr Hans Engelrecht hielt die Hand an den Mund und neigte sich zu seiner Nachbarin hin. »Wenn doch Herr Perwitt wieder spräche! Es geht mal nichts d'rüber – und nie ohne ein klassisches Citat ... »Nach Freiheit strebt der Mann ... änne – änne – änne ... das Weib nach ... änne – änne – änne – Sitte.« ... »Ehret die Frauen ... änne – änne ... sie flechten ... änne – änne ... und weben ... änne – änne – änne« ... ich sage Ihnen, er hat uns neulich mit Aechzen und Stöhnen und ... änne – änne – änne! himmlische Rosen geflochten und gewoben – alle Parlamentsredner und Leineweber der Welt konnten von ihm lernen. Wahrhaftig, er bereitet sich vor – er »maikäfert«, er maikäfert! Sehen Sie nicht, wie die Ideen, die Gleichnisse, die werdenden Perioden schon ... änne – änne – änne ... dicht unter seiner Stirnhaut herumkrabbeln? Er sitzt ganz versunken, in sich zusammengeklappt wie ein zugemachtes Taschenmesser mit sechs Klingen, Pfropfenzieher, Pfeifenräumer und Federspalter. Und vom Stadtrath haben wir auch was zu hoffen.«

»Woher wissen Sie das? Hat er 's aufgeschrieben und sich von Ihnen überhören lassen?«

»Das nicht – aber ich sehe es.«

»Wie machen Sie das denn? So wie wir und er placirt? ... Ein Spiegel ist auch nicht gegenüber.«

»Wer gute Augen hat, guckt durch ein Eichenbrett, wenn ein Loch d'rin ist. Ich sehe es nicht ihm, ich sehe es ihr an. Er spricht sonst gut, hat hübsche Gedanken, er bleibt ja auch nie stecken, aber er stockt zuweilen – er findet den Faden stets wieder, blos es dauert mitunter lange, zu lange namentlich für sie – sie sitzt dann wie auf Kohlen.«

»Das kann ich mir denken, es ist ja eine vortreffliche liebe Frau, nur 'n bischen stolz und reizbar.«

»Ein bischen sehr. Ihr Onkel hielt seiner Zeit jedem der Kinder eine besondere Equipage: das merkt man ihr noch heute an. Ihr Vater verkaufte zwar außer Holz und Getreide en gros – Rosinen, Mandeln, Kapern, Syrup und Heringe auch en détail. Dennoch blieb es eine Mesalliance der einzigen Tochter von Mylord und Mylady Heringston, aus der reichen Handels- und Hansestadt Danzig in unsere »Beamtenkolonie« zu heirathen ... Aber halt! passen wir auf – jetzt entfaltet er die Schwingen, den Augenblick wird er ausburren ... änne – änne – änne – der Maikäfer.«

»Glauben Sie 's ihm nicht, liebe Gertrud!« rief Herrn Engelrecht's eigene junge Frau über den Tisch – er hat schon immer einen gottlosen Mund, wenn er aber so die Hand vorhält, ist gewiß kein Wort wahr.«

»So? das wird sich zeigen.«

Und richtig, Herr Perwitt ergriff das Messer, um an's Glas zuschlagen – da kam ihm eine andere, kleinere, feinere Hand noch rasch zuvor und ließ das Glas anklingen – Ottilie stand auf – und wem galt ihr Hoch? Auch allen ihren lieben Gästen. Und es waren Verse – ganz nette Verse noch dazu! Schade, daß sie Niemand aufgeschrieben. Wie sie das nur zu Wege gebracht neben all den anderen großen Gedanken und Geschäften des Tages? ... Und als dann, um wieder anzustoßen, wieder Alle, Herren und Damen auf der Wanderschaft, die Gläser hoch in der Hand, in heiterem Gedränge rings um die Tafel sich bunt durcheinander drehten und schoben, sich begegneten, auswichen und wieder begegneten, gab Max sein begründetes Staunen über die vielseitigen Leitungen seiner jungen Gattin wol am entschiedensten Justus gegenüber zu erkennen ... »Ist es nicht 'ne Mordfrau?« »Das ist sie, aber die Anklage auf vorbedachte Tödtung dürfte doch schwer zu motiviren sein – es wäre denn Gesundheitsmord durch überreiche Bewirthung.«

Es war nur eine Stimme, sie machten allerliebste Wirthe. Herr Hans Engelrecht aber runzelte die Stirn: »Sie haben uns total geschlagen. Liebster Wiedemann, sei du froh, daß ihr uns einen Korb gegeben. Wir lasen »Nathan der Weise« mit vertheilten Rollen, ein klassisches und ganz neues Vergnügen. Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen, nach diesem geistigen Genuß erquickte uns meine Gattin mit einem englischen Rostbraten, den alle deutschen Keulenschläge nicht mürbe zu prügeln vermochten, unsere Gäste mußten mit Sauce, Kartoffeln und dem guten Willen vorlieb nehmen – ich sage dir, nicht zur Seele zu bringen!« »Das ist aber gar nicht wahr!« »Und wäre es wahr, dürfte er doch nicht so reden.« »Sie wollen sich wol schon als mürrischer, Alles bekrittelnder alter Ehemann aufspielen? Das ist denn doch zu früh.« Ehe der Sturm der Entrüstung sich gelegt über den »ganz abscheulichen, aber furchtbar komischen Menschen«, erregte bereits etwas Anderes noch viel größere Heiterkeit. Der alte Herr Engelrecht lachte besonders herzlich über den guten Witz, – bei dem ihm etwas wieder noch viel Besseres einfiel. Es war nur nicht mehr leicht, auch das Allerbeste an den Mann zu bringen in dem immer lustigeren und lauteren Durcheinanderreden, Schreien und Lachen. »Der Major läßt keinen Andern zum Wort,« brummte der alte Herr Rademacher. »Der alte Rademacher ist heute wie des Teufels,« fluchte der Onkel Major, »er reißt die Unterhaltung ganz an sich.«

»Als ich im Frühjahr«, begann Vater Engelrecht zum dritten Mal – keine Möglichkeit! »Als ich ... als ich im Frühjahr ... als ich im Frühjahr Achtzehnhundertvierundzwanzig ... mit der ordinären Post ...« endlich drang der beharrliche Postreisende durch – und abermals schallender Jubel! Sogar die Christiane mit einem hohen Stoß Teller auf dem Arm lachte, daß sie sich nur so schüttelte und bald die Teller hinwarf. Die junge Hausfrau, die ihre Augen überall hatte, nahm sich auch gleich vor, ihr bei Gelegenheit zu sagen, daß sich das nicht paßt für das Mädchen, immer mit zu lachen. Am meisten lachte doch der glückliche Erzähler selbst und seine liebe Frau, die diese Geschichte schon hundert mal gehört hatte – eine so gute Geschichte war es und eine so gute Frau.

Nur unser alter Hausfreund war still, auffallend still. »Der Alte wird ganz stumpf, es wäre am Ende auch kein Wunder bei seinen hohen Jahren.« Die junge Frau Wiedemann bestritt das mit Eifer und wettete, sie wollte dem greisen Herrn, ehe wir aufständen, noch einen seiner guten alten Einfälle entlocken. »Geben Sie gar nichts mehr zum besten? Haben Sie sich schon ganz erschöpft? ... So müssen Sie sich's gefallen lassen, daß wir uns immer wieder daran erfreuen, was Sie früher Hübsches gesagt. Erinnern Sie sich wol, womit Sie auf Gertrud's Hochzeit den Vogel abschossen?«

– Ja auch Gertrud Rademacher war nun verheirathet, und doch noch immer Gertrud Rademacher, und es hatte sich das auch wieder »wunderbar, höchst wunderbar gemacht« mit ihrem Vetter. Wäre es nur früher geschehen, es hätte gewiß ein Kapitelchen mehr für die Liebesgeschichten gegeben.

Der Alte sann und sann vergeblich: »Keine Ahnung! Es wird wol nicht so schlimm gewesen sein ... Max, von dem können Sie mir noch ein Glas geben ...« Der war ein feiner Rothwein, auch aus der Weihnachtskiste, den die älteren Herren dem Schaumwein vorzogen.

»Wir hatten,« fuhr Frau Wiedemann fort, »ein interessantes Gespräch, was eigentlich Glück ist? Niemand traf den Nagel auf den Kopf. Auch ich – damals noch unverheirathet – wollte meine Weisheit zu Markte tragen, da fielen Sie mir in's Wort und wiesen uns auf die rechte Spur, wie andere Wegweiser auch – ohne selbst mitzugehen. »Wollen Sie wissen, was Glück ist? Ich werde es Ihnen zeigen – da sitzt es!« und Sie zeigten mit zitterndem Finger, doch ganz sicher auf das Brautpaar hin.« »Ach wie nett!« »Was ist da so nett?« riefen der junge Engelrecht und der junge Wiedemann, wie aus einem Munde, kehrten sich um und sahen nach unserm alten Hausfreunde hin, der neben ihren jungen Frauen saß. »Das geht die Herren nichts an, wir sind hier auch ohne euch ganz vergnügt.«

Nun die Herren schienen sich mit den in ihrer Nähe sitzenden hübschen jungen Mädchen ebenfalls nicht schlecht zu unterhalten. Ja es war das Bonmot der nächsten Woche, der alte Herr hätte unter den jungen Damen gesessen wie der Todtenkopf unter Rosen und Lilien bei den Gastmählern der alten Aegypter, um durch den Anblick des Todes desto mehr zum Genuß des Lebens aufzufordern. »Sehr gut! ...« Es wurde viel darüber gelacht, und wo der junge Herr Wiedemann und Herr Hans Engelrecht hinkamen, stets machten sie den gleichen Witz mit gleichem Erfolg, während Niemand recht darauf achtete, als es der Alte selbst sagte, von dem sie es doch nur aufgeschnappt. Ein mehr oder weniger guter Einfall allein thut's noch nicht – man muß ihn auch richtig anzubringen wissen und gut schreien können.

»Jetzt entsinne ich mich,« sagte unser Philosoph. »Meine poetische Auffassung stieß auf heftigen Widerspruch, ich rede wie der Blinde von der Farbe, und ein erfahrener Ehemann, der bereits die Flitterwochen hinter sich hatte, belehrte mich, es sei mit dem Heirathen wie mit dem Tode – nur umgekehrt. Wer möchte nicht todt sein, und in den Himmel kommen, wenn nur das fatale Sterben nicht wäre, und Hochzeit machen mit der Geliebten seines Herzens möchte so Mancher auch recht gerne, der noch in den Jahren und in der Lage ist, käme nur nicht der hinkende Bote nach – in der Ehe.« »Das war aber gar nicht nett.« »Wirklich nicht? desto besser! – oder desto schlimmer.«

»Wieso schlimmer?«

»Wenn es gar nicht nett, wird es doch auch wol nicht richtig sein, und wenn es unrichtig, kann ich es nicht brauchen für meinen Haus- und Familienspiegel.«

»Ach, das ist ja ganz was Neues! Werden Sie uns endlich einmal wieder mit etwas beschenken?«

»Ich sammele so in meiner Art, aber es ist schwierig – schon mit den liebenswürdigen Zügen: sie sind ja da in Hülle und Fülle – wer zweifelt daran? Nur Einer zieht das Gardinchen vor, ein Anderer läßt den Vorhang herunter, dieser hat hübsche Fenstervorsätze – von innen sieht man hindurch, aber von außen nicht hinein – Mancher hat gar Jalousien, und wo die Liebenswürdigkeiten und Tugenden zu offenherzig sich präsentiren, da sind sie nicht immer am anziehendsten. Und wieder, was man sich selbst aussinnt, ist meistens nicht weit her – damit ist nicht viel zu machen, zumal bei der gegenwärtigen Geschmacksrichtung. Alle Welt verlangt Naturtreue – mir nicht zuwider! Ein einziges kleines Blättchen, frisch aus der Natur gepflückt, ist mir auch lieber als alle Unnatur, die sich die Geistreichheit selbst aus dem Daumen saugt. Geht man aber und klopft bei seinen besten Freunden und Freundinnen an und sagt: »Kinder, nun sitzt mal hübsch still, daß ich mir das Nöthige aufschreibe, sonst treffe ich euch ja nicht, und Niemand erkennt euch in meiner Schmiererei – gehorsamer Diener! da sind sie Alle nicht zu Hause, weder das süßeste Bräutchen, noch der verliebteste Bräutigam, weder die allerfrömmste liebe Heilige und Tante, noch der muthwilligste Backfisch oder das zärtlichste Ehepärchen. Und käme man nun erst mit der Hauskollekte – Schattenstriche sammeln! Trifft's einer auf gut Glück, so heißt's: wo hat der das her? das sind unsere Worte, das haben wir selbst gesagt, das habe ich ja geschrieben – man wird sich in Acht nehmen müssen in den eigenen vier Wänden, unter Couvert und Siegel. Verfehlt er's nach den sorgfältigsten Modellstudien, so heißt es: natürlich! wer Menschen schildern will, muß mit Menschen leben und nicht allein hocken wie die alte Unke im Dümpel. Nun da halte ich mich denn an den alten Fabelspruch: »und willst du dich in alle Leute schicken, sie laden dir den Esel auf den Rücken ...« Und dann fällt mir immer ein jenes abgelegene rauhe Hochthal, in das sich einst ein Herr von Stande auf der Jagd verirrt. Froh, nur ein Obdach gefunden zu haben, machte er sich darauf gefaßt, mit dem Geringsten vorlieb nehmen zu müssen: um so größer sein Staunen, als ihm ein Nachtlager und Nachtessen bereitet, ein Abend- und Frühtrunk vorgesetzt ward, im ersten Gasthof hätte er's nicht besser haben können. »Um's Himmelswillen, wo in aller Welt kommt das Alles her ... in dieser Einöde ... wie ist das nur menschenmöglich? Ich bin doch nicht in einem verzauberten Schloß?« Die Wirthin kicherte verlegen in sich hinein, der Wirth kratzte sich im Kopf, schob seine Zipfelmütze von einem Ohr zum andern und rückte endlich mit der Sprache heraus. »Je nun, Herre, m'r sind nur arme Hirte', aber der Mensch thut, was er vermag ... ä bissel muß m'r selber ha'n, ä bissel betteln und ä bissel stehlen.« »Ja Sie denken wol, ich erfinde das? durchaus nicht! Ich habe es von Einem, der dort gewesen – aus dem Munde des seligen Großvaters unseres ...«

Da sah die Stadträthin Frau Engelrecht an, Frau Engelrecht sah Frau Rademacher und Frau Rademacher sah die Schwiegermutter der jungen Frau mit ganz demselben fragenden Blicke an, worauf die Mutter ebenso Ottilie ansah, Ottilie wieder sah freundlich ringsum und schien noch erst die ganze Gesellschaft zu befragen mit einer Verbeugung, die freilich schon ein halbes Aufstehen war. Schleunigst wurden einige Neigen ausgetrunken – die junge Frau vom Hause erhob sich – und ruck! allgemeiner Aufstand ... Die Damen hielten es an der Zeit. Auch mochte namentlich der Frau Stadträthin nicht so besonders viel daran gelegen sein, daß auf die wunderbaren Jugendschicksale des seligen Großvaters noch näher eingegangen wurde.

*

 


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