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15.
Mutterchen.

Interessant für die Statistik des Kinderlebens müßte sein, festzustellen, wie oft während des Tages und im Durchschnittsverhältnis; zur Anrede »Papa«, die Kinder »Mama« sagen, oder wie wir lieber hören: »Mutterchen«.

An den Vater wenden die Kinder sich mehr in wichtigen Fällen, wenn es sich um Papier und Feder, Anschaffung eines Lehrbuchs, um Schul- und Stundengeld handelt, oder in Kardinalfragen lebensgefährlicher und ausnahmsweise bedeutungsvoller Vergnügungen, wenn sie im Flusse baden, zum Schlittschuhlauf, in die Thierbude gehen wollen – wo dann die Bitte, auch die durchaus furchtlose und vertrauensvolle Bitte, doch meistentheils ein gewisses grundernstes, straffes Zusammennehmen des ganzen Wesens bedingt, das bei der Berufung an die höchste, gleichsam schicksalähnliche Autorität des Vaters natürlich ist. Die Anliegen an die Mutter dagegen umfassen in ihrer Mannichfaltigkeit die ganze kleine Welt der Kindheitsinteressen, kindlicher Stimmungen, kindlicher Wünsche und Gedanken. Fragen und Bitten, Rathbegehr und Beschwerde, Spielangelegenheiten und Zweifel bei der Arbeit, religiöse Bedenken, Nahrungssorgen und Garderobenbedürfnisse, Wissenschafts- und Kunstbestrebungen, Liebesbezeugungen und Unarten wechseln in buntem Durcheinander.

»Mutterchen, dürfen wir noch vor dem Frühstück hinausgehen in den Garten?«

»Mutterchen, kann ich noch einen Zwieback – –?«

»Mutterchen, ein Schnupftuch!«

»Mutterchen, weißt du nicht, wo mein Hut ist?«

»Mutterchen, der Karl neckt mich immer.«

»Mutterchen, wie schreibe ich »Fürst«, mit einem V oder F?«

»Mutterchen, hat unser seliges Schwesterchen im Himmel auch Spielzeug?«

»Mutterchen, ich hungere todt.«

»Schön, mein Jungchen.«

»Mutterchen, ich bin der Papa »zum Spaß«,« wie nöthig erscheint ausdrücklich zu bemerken, damit die Illusion nicht zu groß wird.

»Mutterchen, fädle mir ein.«

»Mutterchen, bist du mir wieder gut? Ach sei mir doch gut!« – wobei Thränen der Reue überreichlich strömen.

»Mutterchen, ist die Bertha nicht hier?«

»Mutterchen, da stehen noch zwei Birnen.«

»Beunruhige dich nicht um die zwei Birnen.«

»Mutterchen, der Karl will gar nicht mit mir spielen.«

»Ja Mutterchen, ich will wol, aber er will immer Kutscher sein, und ich soll immer Pferdchen sein.«

»Mutterchen, welche Farbe soll ich hier nehmen?«

Der talentvolle junge Tintoretto gedachte eigentlich, den Hosen des biedern Landmannes auf seinem Bilderbogen ein poetisch rosenrothes Colorit zu geben, fügt sich jedoch dem mütterlichen unvorgreifenden Dafürhalten, lieber das prosaische, aber naturtreue Ledergelb zu wählen, dessen Saftfülle sich keineswegs auf die ihm zunächst angewiesenen Umrisse beschränkt, sondern nicht unerheblich in die benachbarten Buschpartien überläuft.

»Mutterchen, ich habe mich gestoßen.«

»Mutterchen, ich kann hier übersteigen, ohne mich zu halten.«

»Mutterchen, wer ist älter, die Auguste Rademacher oder die Agathe?«

»Mutterchen, hast du nicht ein Endchen Bindfaden? Ach, Mutterchen, du wirst es schon haben, du willst es blos nicht geben.«

»Mutterchen, sieh mal, wie hoch ich werfen kann.«

»Mutterchen, was soll ich doch machen? Mir wird die Zeit so lang.«

»Mutterchen, noch ein Licht zum Klavierspielen.«

»Mutterchen, erzähle uns ein Märchen.«

»Mutterchen, überhör' mich.«

»Mutterchen, mich schläfert.«

Mutterchen, Mutterchen und kein Ende!

So oft wird das Wort wiederholt, daß es vom vielen Gebrauch bis zur Unkenntlichkeit verschliffen und entstellt, fast nur noch wie »Mo–r–chen« oder »Mu–e–chen« klingt. Ja bis in die schlafende Nachtzeit hinein hören die Anliegen nicht auf:

»Mutterchen, mich durstet.«

»Mutterchen, gieb mir einen Kuß.«

»Mutterchen, mich juckt es so.«

»Mutterchen, Mutterchen, Mutterchen!«

»Nun was tausend hast du schon wieder?«

»Mutterchen, jetzt juckt's mich nicht mehr.«

Alle Achtung und Ehrerbietung! So ein vielbegehrtes »Mutterchen« hat keinen leichten Posten.

*

 


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