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3.
Curriculum vitae.

Unterdessen hatte der Knabe, der dem Wagen des Glückes nachlief, noch manchen heißen Tag und war noch manchen Abend froh, wenn er todtmüde in der Herberge ein Strohlager und ein Stück Brod fand – auch ohne einen Trunk vom Besten, ehe er in jene Landschaft gelangte, die ihm der Alte mit der Geige im roth und weißen Kalbfell als das Land verheißen, »wo man noch zu was kommen könnte«. Endlich stand er vor dem Thore einer Stadt, die so groß und schön sein sollte, war ihm gesagt, wie er noch keine gesehen, wagte sich jedoch hier nicht hinein. Er machte einen weiten Umweg längs der Stadtmauer noch bei mehren anderen Thoren vorüber, bis er an eins kam, wo der Thorschreiber, wie er auch schon unterwegs erfahren, es nicht so streng nahm mit den Papieren. Es war jene große und berühmte Stadt, in der man schon damals nur von der Luft, wo nicht weise, doch witzig und klüger als alle anderen Leute wurde, wiewol die Luft auch damals schon nicht immer die beste gewesen sein soll, ja in der auch damals bereits selbst die Kinder nur vom »Murmelspiel«, Kreiselpeitschen, Reifentreiben und der anregenden Straßenluft mehr lernten als anderwärts die befähigtesten Kinder vom besten Informator. Ein schlagendes Beispiel trug sich zu etwa ein halbes Jahr, nachdem der arme fremde Junge zugewandert in die große berühmte aufgeklärte Haupt- und Residenzstadt. Derjenige, der zunächst davon zu sagen wußte, war ein wohlhabender und wohldenkender Mann. Von jeher wohldenkend und strebsam, doch nicht schon von jeher wohlhabend, gewann er durch Fleiß und Sparsamkeit ein kleines, dann durch glückende Speculationen ein beträchtliches Vermögen. So lange ledig – »er hatte zum Heirathen keine Zeit, oder wollte noch hübscher werden, oder fand nicht, was er suchte« – entschloß er sich jetzt doch noch, und nun hieß es: »ach, das hübsche Mädchen nimmt den häßlichen Mann!« Das hübsche Mädchen war aber nicht allein hübsch, und der häßliche Mann war nicht allein häßlich. Kurz sie wurden ein glückliches Paar, nur der stille innigste Wunsch der Frau wie des Mannes blieb eine Reihe von Jahren unerfüllt. Dann hatten sie auch diese Freude, die Ehe war nicht mehr kinderlos, und ihr Liebling, ein Knabe, versprach bald mit der Anmuth der Mutter die nicht gewöhnlichen Geistesgaben und ein wenig von der Nichtschönheit des Vaters auf das liebenswürdigste in sich zu vereinen. – »Strengen Sie mir das Kind nicht zu früh an. Lassen Sie ihn diesen Sommer noch dreist sich frei herumtummeln, auf meine Verantwortung. Thun Sie ihn zum Herbst in die Schule, ist's über und über Zeit. Das bringt sich reichlich ein. Sie wissen ja: erst Baum, dann Blüthe – erst Körper, dann Geist: mens sana in corpore sano.« Und die Eltern fügten sich gerne dem Rathe des Hausarztes, in dessen Einsicht sie unbedingtes Vertrauen setzten.

Merkwürdig nun, daß der Kleine auch ohne Unterricht anfing, allerlei Kenntnisse zu verrathen, von denen schwer begreiflich, wie er dazu kam. Fragte der Vater: »Wo hast du das denn her, Emil?« so wurde er verlegen wie andere Kinder, wenn sie auf Unarten ertappt: »ach, ich hab' das nur so von den Jungens gehört.« »Von wem denn?« »Ach, das weiß ich nicht mehr.« ... Um so merkwürdiger, als die Schulknaben, mit denen er zuweilen spielte, durchaus nicht der Pedanterie verdächtig schienen, sich auch auf dem Spielplatze nur mit Wiederholung ihrer Lektionen zu beschäftigen.

Der, welcher ihn abzuholen pflegte, wurde einst von dem jungen Lehrer, der öfter einen Scherz machte, schon vor der Thür, aber noch dicht an der Schwelle der Klasse freundlich beim Ohr genommen: »nun Traugott, hast du behalten, wie heißt also die Stadt, wo das Erdbeben von Lissabon war?« Da drehte er den Kopf vorsichtig herum, und sah den heiter Fragenden mit ernster Verwunderung an: »Herr Kandidat – draußen?« Der Herr Kandidat lachte und ließ das Ohr los. Ohne auf die verfängliche Frage selbst einzugehen, hatte Traugott nur seinen bescheidenen Zweifel zu erkennen gegeben über die formelle Berechtigung dieses ungewohnten Ueberschreitens der zarten Grenze zwischen Schule und Leben. – Genug die Sache blieb räthselhaft. –

»Vielleicht vermag ich ein wenig zur Aufklärung beizutragen«, bemerkte mit der ihm eigenen milden Ironie ein Herr, den Emil's Vater zuweilen im Kaffeehause traf, mit dem er sich gerne unterhielt, auf dessen pädagogisches Urtheil er viel gab, und dem er auch diesen eigenthümlichen Fall mitgetheilt. Dabei rückte der kleine Herr aus seiner Stammgastecke so weit vor, daß auch die zweite Schulter zu sehen kam, die tief herabhing und erst recht zeigte, wie viel zu hoch die andere. Ein ausgesprochener Jugendfreund, hatte er doch viel Noth gehabt mit seiner lieben Jugend, bei der sich in Respekt zu setzen ihm leider versagt, so lange er Lehrer gewesen. Da machte er eine Erbschaft – es war nicht so gar viel, doch reichte es aus für einen einzelnen Mann von so einfachen Gewohnheiten, er gab das Schulamt auf und lebte nur seinen Studien. »Beim Rückwege von meinen Spaziergängen ruhe ich in der Regel etwas im Lustgarten,« berichtete der verschiefte kleine Herr mit dem welken verknüllten, intelligenten Gesicht, – so gestern auch. Ganz in der Nähe, nur durch eine niedrige Hecke getrennt von mir, saßen zwei Knaben; noch ein paar, eben so gut, ja fein gekleidet kamen dazu; wie aus ihren Reden zu entnehmen, schien noch Jemand erwartet zu werden: »Da ist er ja auch schon ...« Und es gesellte sich nun noch ein etwas größerer Bursche zu ihnen, der nicht wenig abstach gegen die Uebrigen, auch wahrscheinlich schon älter war, als nur nach seiner Größe zu schließen. Sein Anzug sah aus wie eine Livree, die wol schon ein Anderer vor ihm getragen, dem sie besser paßte. Ich glaube aber nicht, daß es ein Diener ist, dazu hatte er etwas zu Unbeholfenes. Was mir auffiel, waren die lebhaften, ein wenig scheu blickenden Augen. Er gab Jedem der Kleinen die Hand: »Habt ihr eure Bücher mit? ... Ja? ... Das ist recht. Was habt ihr denn auf? Zeigt doch mal her.« Er nahm die Bücher, blätterte darin mit einer gewissen gierigen Hast, bis er die angegebene Seite oder den Paragraphen gefunden, und las erst ein Weilchen still für sich mit gleichem Eifer; – es war, als wollte er das Gelesene bis auf die Buchstaben und das Papier verschlingen, dann sagte er würdevoll: »So so – weiter habt ihr nichts auf?« und begann die Anderen zu überhören der Reihe nach, manchen zwei, dreimal, bis er mit Allen zufrieden: »So, nun könnt ihr eure Sach'. Der Beste von euch ist doch Goldknopf. Ihr habt es alle schon zu Hause gelernt, der behält's vom bloßen Zuhören.« »Nun mußt du aber auch Wort halten.« »Versteht sich, was ich verspreche, halte ich – wo blieben wir denn das letzte Mal stehen? ... Richtig, ich weiß schon, ich muß mich nur ein bischen besinnen, wie es weiter kommt.« Worauf der seltsame Patron die verlangte Fortsetzung von allerlei Wanderabenteuern vortrug, wie aus dem Gil Blas, ja mich wollte bedünken, Lesage hätte profitiren können, nicht im Stil – vielleicht an Natürlichkeit und Wahrheit. Das klang nicht wie aus zweiter Hand. Ich möchte wetten, der Bursche hat das Meiste in persona von der Heerstraße aufgelesen, er fand denn auch ein sehr dankbares Auditorium. Vieles war wirklich recht drollig und nichts unziemlich. Ich konnte um so besser Alles mit anhören, da ich ein Buch bei mir hatte und so that, als las ich. Sollte der so leicht fassende Kleine im dunkelbraunen Habit mit blanken gelben Knöpfen nicht Ihr Söhnchen gewesen sein?«

»Wurden vorher beim Repetiren etwa die Reichskreise durchgenommen?«

»Ja wol.«

»Auch einiges von den Elementen der Bruchrechnung?«

»Ganz recht, nachdem die gelehrte kleine Gesellschaft zu dem gewichtigen philologischen Resultat gelangt: »Die dritte Deklination ist die schwerste, aber es geht auch, wenn man nur erst weiß, wie das Wort im Genitiv hat.«

»Er ist es.« Die Herren stopften die inzwischen ausgerauchten langen weißen Thonpfeifen nicht noch einmal mit holländischem Knaster. Und zu dem auf denselben Nachmittag verabredeten abermaligen Repetitorium fanden sich alle Theilnehmer pünktlich wieder ein – ja noch ein paar Hospitanten. Jetzt war die Reihe an dem Herrn Repetenten, sich auf den Zahn fühlen zu lassen, doch verlor er nicht die Geistesgegenwart, auch kam ihm seine brünette, nicht so leicht, oder doch nicht so leicht erkennbar wechselnde Farbe zu Statten. Er war immer nur auf vieles Bitten der Knaben, die das einstimmig bestätigten, wiedergekommen und hatte nie anders erzählen wollen, als wenn sie zuvor ihre Aufgaben mit ihm wiederholt. Warum er ihnen denn so strenge verboten, zu Hause etwas davon zu sagen? Daß er das gethan, konnte er nicht leugnen, verwickelte sich in Widersprüche und legte endlich ein offenes und reumüthiges Bekenntniß ab: »Ich werde es auch gewiß nicht mehr thun, aber ich bin gar arm, kann mir keine Schulbücher kaufen, noch weniger habe ich Geld und Zeit, selbst in die Schule zu gehen, und möchte doch so gerne lernen.« So war er denn in der That darauf ausgegangen, anderen Kindern, welche die Schule besuchten, das für ihrer Eltern gutes Geld Erlernte umsonst oder für die brodlose Kunst seiner Schwänke abzulisten, während er sich das Ansehen gab, als wüßte er bereits, was er überhörte. Die tiefliegenden grauen Augen des ungleich gewachsenen kleinen Herrn bekamen eine eigene Klarheit, einen scharfen Glanz: » Docendo discimus – du scheinst mir ein Geriebener, bist auf schlimmem oder gutem Wege.« »Goldknopf's« Vater, der wohlhabende und wohldenkende Mann, schrieb sich seinen Namen und seine Wohnung auf, so weit er diese zu bezeichnen vermochte, was noch schwieriger in einer Zeit, wo selbst in den Hauptstraßen jener großen und berühmten Stadt die Häuser keine Nummern hatten. Auch lag die angegebene Gasse in einem ganz andern Stadttheile.

Schon am folgenden Tage wurde indessen ermittelt, daß alle seine Angaben richtig. Und von da an trat eine entscheidende Wendung ein im Geschicke des armen Jungen, dessen Brodherrschaft ihm ein sehr gutes Zeugniß ertheilte. Es waren ein paar alte Schwestern, die ein nicht ganz uneinträgliches Wollen- und Weißwaarengeschäft ihres verstorbenen Vaters fortsetzten, obwohl sie keinen offenen Laden hielten. Noch in späten Jahren, wenn ihr einstmaliger Laufbursche zurückblickte auf jene dunkeln Anfänge und in vertrautem Kreise kein Hehl daraus machte, erinnerte er sich mit Behagen der beiden alten Jungfern: »Die waren es auch, die mich im Lesen und Schreiben unterweisen ließen bei einem Kaufmannslehrling, der ebenfalls bedürftig, nach dem Schluß des Comptoirs noch bis in die Nacht hinein durch Stunden geben ein kleines Taschengeld erwarb. Nur hatte ich in der ersten Zeit meine Noth mit dem Einholen des Frühstückbrodes. Brachte ich weichgebackenes, wurde ich gescholten, brachte ich es hartgebacken, wurde ich wieder gescholten, bis mir ein Licht aufging. Die noch Zähne hatte, schalt immer, wenn die Semmel weich und blaß, die keine Zähne mehr hatte, schalt immer, wenn die Semmel rösch und knusperig. Von nun an nahm ich schlauer Weise stets die Hälfte hartbacken und die Hälfte weichbacken. Nun schalt keine mehr, beide lobten mich, ließen mir einen schönen neuen Rock machen von einem beim Trödler für alt gekauften und schenkten mir ein Paar zinnerne Schuhschnallen, die ich blanker putzte als silberne, doch nicht höher hielt als meinen Talisman. Das war ein kleiner Stein unscheinbaren Ansehens, den mir einst jener alte Spielmann beim Abschied in die Hand gedrückt: »Bewahr' das Steinle, es ist unter Umständen mehr werth als zwei Rosse Vorspann.« Und wie oft hat mir der Talisman Muth eingesprochen: Bist du so weit gekommen mit Ausdauer und unerschütterlichem Vertrauen auf eine höhere Hand, die dich leitet – wirst du doch jetzt nicht verzagen und um so viel näher dem Ziele feige liegen bleiben am Wege! Nur immer wieder die allernächste Strecke weiter! So kam ich wirklich weiter und weiter, brachte es wirklich dahin, daß ich studirte und wählte natürlich das kostbarste Studium, eingedenk abermals der goldenen Regel des weisen alten Wanderers: »Wenn es doch auf Kreide geht, werde ich ein Narr sein und Krätzer trinken?« Ja, ich hatte die Genugthuung, die beiden edeln Menschen, denen ich nächst Gott am meisten verdanke, endlich einladen zu können zu meinem Doctorschmause. Mir zur Linken saß an dem frohen Abend der treueste Studiengenosse, obgleich erheblich jünger wie ich, zu meiner Rechten sein Vater, noch immer der wohlhabende und wohldenkende Mann, dem ich auch meine kleine Schrift zugeeignet, über die Beschaffenheit des Blutes im Fieber: » de cruore febrili.« Ob sie viel Neues für die Wissenschaft von heute oder damals enthielt, sei dahin gestellt, jedenfalls waren die Exemplare für meine Gönner gar fein mit Goldschnitt verziert vom Universitätsbuchbinder.« –

»Im nächsten Jahre galt es vor Allem, das Loch wieder zuzustopfen, das die Promotion in meinen Beutel gerissen, und wiederum lehrend und lernend, lernend und lehrend mich zum Staatsexamen vorzubereiten. Nachdem ich auch das bestanden, wurde ich medicus practicus, dem nur noch – die Praxis fehlte. Wer aber zu wissen verlangt, was ich für Stipendien bezogen, was und bei wem ich gehört, und welche Klinik ich mit bestem Nutzen besucht, der findet das genauer als manches Andere, das sich auf lateinisch nicht so recht sagen ließ, in dem meiner, wie jeder Dissertation beigegebenen Lebenslaufe, in meinem curriculum vitae

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