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15.
Die Akustik des Hauses.

Die Mutter sitzt am Fenster, die Arme über einander geschlagen, und sieht auf die Straße. Ein Wagen fuhr schon lange nicht vorbei, und die Vorübergehenden – auch nicht sehr zahlreich – scheinen ihre Aufmerksamkeit weniger in Anspruch zu nehmen, als die doch nicht neue Bemerkung, daß in der Mitte der Straße keine Mittelsteine mehr sind und keine Prellpfähle mehr vor dem Hause stehen. Zwischen den niedrigen Pfählen hingen einst Ketten, auf denen sich die Mutter als Kind geschaukelt ... Und wie Vieles ist anders geworden! Wie Vieles liegt dazwischen ... Es ist wie ein Traum. Manches liebe Auge leuchtet uns nicht mehr, manche liebe Hand, die wir in Ehrfurcht geküßt, mit herzlicher Freundschaft gedrückt, ist erkaltet, mancher jugendschnelle Fuß springt nicht mehr die Straße entlang, die Treppenstufen hinauf – ruht aus für immer! ... Da erglänzt der Mutter etwas müder Blick wieder hell, und rasch nimmt sie die Arbeit auf, die nicht gewohnt, müßig in ihrem Schooß zu ruhen. Es ist, als glitte auch eine liebe Hand nicht unsanft über ihre Stirn, und eine kräftige Stimme sagte bestimmt, doch nicht unfreundlich: »Woran denkst du? oder: sitz' nicht so in Gedanken.« Des Vaters Hand und Stimme kann das aber nicht sein – er ist gar nicht da – er klopft eben in seiner Stube die Pfeife aus.

Eine schlanke junge Gestalt geht durch das Zimmer, langsamer und langsamer, bleibt stehen, wendet das Köpfchen hin und her. Ein anmuthiges Gesichtchen von weichem Oval, zarten noch nicht ganz entwickelten Zügen betrachtet, mit allem Ernst, den gewissenhafte Beobachtungen erfordern, und dem Anscheine nach nicht durchaus mißfällig, das Bild, das sich im Spiegel zeigt. Ist doch das magische Glas durchaus nicht nur ein Symbol der Eitelkeit ... Da klopft der Vater die Pfeife aus, und diese lehrreichen Studien der Selbsterkenntniß nehmen ein schnelles Ende. –

In der halb offenen Hausthür flüstert es und flüstert es, aus dem Flüstern wird ein vernehmliches Gespräch, die immer weniger verhaltene Heiterkeit ist nahe daran, ungezwungenes Lachen zu werden – da klopft der Vater und Herr des Hauses die Pfeife aus, und wie abgeschnitten ist die muntere Unterhaltung. Die Thürklinke fällt zu, und gleich beginnt wieder das Klopfen, Töpferücken, Mörsern, der rauhe Ton des Reibeisens, und was sich sonst aus der Küche vernehmen ließ, ehe die Flore »der Dor'chen von Rademachers« aufmachen ging.

Die alten Dachsparren haben hie und da, mehr oder weniger beisammen, gruppenweise kleine runde Löcher, gleichsam wie von einem Schuß mit Schrotkörnern eingesprengt. Aus einem diesen Löchelchen, gerade wo unter dem Sparren das alte Kindertheater steht neben einer zerbrochenen Garnwinde, einer unbrauchbaren Lampe und anderen zurückgesetzten Sachen, rieselt ein krümeliger gelber Staub, feiner wie feinste Säge- und Bohrspäne, und es nagt und tickt gar unheimlich in den Balken ... Da klopft der Vater und Hausherr die Pfeife aus, und sofort hört es auf, Hexenmehl zu streuen – die Todtenuhr schweigt. Sterben müssen wir alle, auch der Holzwurm, wenn seine Stunde geschlagen. So sehr pressirt es nicht mit seiner Arbeit und seiner düstern Mahnung – er wird doch lieber noch ein Weilchen pausiren.

Die dunkle Kellertreppe ist steiler und hat mehr Stufen, wenn man hinunter, als wenn man heraufsteigt, will uns Menschenkinder bedünken. Der Kellerwurm ist entgegengesetzter Meinung, der krabbelt und krabbelt – das will gar kein Ende nehmen, immer wieder noch eine Stufe und noch eine, und noch eine – endlich! Jetzt hat er die letzte, jetzt ist er oben – da fällt er plötzlich um und um. Hat der Kellerwurm sich zu sehr anstrengen müssen, war der arme Kellerwurm von Hause aus schwächlicher Constitution, ist es ein Herz-, Hirn-, oder Nervenschlag? Aber todt ist der Kellerwurm einmal, da hilft kein Beten. Der Kellerwurm liegt auf dem Rücken, streckt alle sechs, acht oder wie viel Füße er hat, bocksteif in die Höhe, rückt und rührt sich nicht. Der Kellerwurm könnte nicht starrer da liegen, nicht todter sein, wären schon sämmtliche Kellerwürmer des Hauses und der Nachbarschaft zum Begräbniß gebeten – der Vater und Hausherr klopfte die Pfeife aus. Da aber sonst Alles still bleibt, siehe da – es ist nur ein Schwindelanfall, aber ein sehr starker, eine Ohnmacht gewesen. Der Kellerwurm war nur scheintodt, er rappelt sich wieder auf und setzt seine Entdeckungsreise in die Oberwelt unverzagt weiter fort.

In der Gesindestube – oder nicht in der Gesindestube – werden Meinungsverschiedenheiten mit einer Lebhaftigkeit verfochten, die nach und nach den Charakter der Leidenschaft annimmt, immer stürmischer bis hinauf zu dem Siedepunkt wortwechselnder Differenzen, für den Volks-Gemüth und Mund nur den praktischen Rath hat: »zankt euch nicht, prügelt euch lieber!« Da klopft der Herr und Vater des Hauses die Pfeife aus und ... alle noch so schwarz drohenden Punkte am Horizont des häuslichen Friedens sind im Augenblick verschwunden.

Das Fenster muß wol offen sein, daß man es bis in den Garten hört, wie der Vater die Pfeife ausklopft. Und da er sie ausgeklopft, könnte er nun wol um so eher einen Gang in den Garten machen. Er geht ja oft auch mit der brennenden Pfeife durch das Haus über den Hof und in den Garten, und der zurückbleibende Dampf der Pfeife bis auf die letzten, noch unzertheilt in der Luft hängenden, mit den Sonnenstäubchen spielenden bläulichen Streifen stimmen Jeden, der sie sieht – oder sind sie auch schon nicht mehr sichtbar – selbst noch in der Nachwirkung, einen Jeden, der nicht körperlich oder sittlich an unheilbarem Stockschnupfen leidet, ernster, verständiger, empfänglicher für alles Gute, des Lobes Werthen – allem Nichtguten, Tadelnswerthen abgeneigter. Dem eigenthümlich scharfen Dufte, der mit einmal von einem nicht sehr hohen, aber dichten Fliederbusch ausgeht, kann man diese wunderbar erziehliche Kraft nicht in gleichem Maße nachsagen, obwol dieser scharfe Duft auffallend, wenn nicht an das Aroma, in der Pfeife gerauchten Tabaks, doch an Cigarren, und zwar nicht erster Würde erinnert. Ja bei genauerem Hinsehen steigt von dem Blüthenzweige – es ist ein blühender Fliederstrauch – ein kleines schwaches, hellgraues Wölkchen auf, wie etwa von einer wirklichen Cigarre, die nur für den Augenblick aus der Hand gelegt, noch still hoffend fortglimmt, demnächst bei günstigeren Conjuncturen weiter geraucht zu werden, sei es von der emancipirten Dryade des blühenden Busches selbst, sei es von Jemand, der sie nur vorsichtig bei ihr deponirt – als der Vater die Pfeife ausklopfte.

Am Klavier wird geübt, fleißig geübt. Es ist ein nicht ganz leichtes Stück, obwol in gehaltenem Tempo; es athmet Schwermuth und Trauer, die im mühsamen Einüben noch unendlich viel schwermüthiger und trauriger herauskommen, als sich's der Componist nur je gedacht. Nun will sich der treue Fleiß aber auch belohnen. Sitzt der Fleißige doch schon eine halbe Stunde am Klavier. Nach einer kleinen Abwechslung und Zerstreuung geht es gleich wieder noch einmal so gut. Also zerstreut, erholt und labt der übende Kunstjünger sein kindliches Gemüth mit dem harmlosen Intermezzo eines flotten kleinen Gassenhauerchens ... Da klopft der Vater die Pfeife aus – und ohne es allzu streng zu nehmen mit den pedantischen Regeln des Generalbaß und Contrapunktes hüpft: »Ach du lieber Augustin« schleunigst wieder zurück vom abschüssigen Pfade unstatthaften, jedoch angenehmen Leichtsinns auf den rauhen Weg der Pflicht, und der Trauermarsch wird mühselig, aber treufleißig weiter geübt.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, nur gerade jetzt, wenn der Vater eben die Pfeife ausgeklopft, ist es rein unmöglich beim besten Willen, den besten Anlagen und bester Gelegenheit, den allerschönsten dummen Streich auslaufen zu lassen. Vom kühlen Keller bis zum schwülen Trockenboden unter dem Dach, von der Küche und Gesindestube bis in's Wohnzimmer, vom kleinsten Erkerstübchen bis in den Saal – im ganzen Hause, ja unter Umständen bis auf den Hof und in den Garten: – die akustische und moralische Wirkung konnte nicht durch- und weitgreifender sein, hätte der kategorische Imperativ oder sein Prophet, unser weltberühmter Weise, der allerdings keine Kinder und keine Krau hatte, auch in den gereifteren Jahren zwischen Fünfzig und Achtzig, in denen er seine Epoche machende sittenstrenge Lehre verkündete, geringere Versuchung haben mochte: »Ach du lieber Augustin« zu klimpern, wenn er üben sollte, heimlich zu rauchen, wie ein Backfisch sich zu bespiegeln, zwischen Thür und Angel mit »der Dorchen von Radmachers« zu schwatzen und zu kichern, den müden Blick und die ermüdete Hand auszuruhen über der gemüthlichen Arbeit, große Flicken auf kleine Kinderhöschen zu setzen, oder eine philosophische Streitfrage über die Kritik der reinen Vernunft statt langen Wortgezänkes in einer kurzen aber kräftigen, brüderlich herzlichen kleinen Prügelei zum Austrage zu bringen ... In der Sache ändert das nichts – ich sage noch einmal und bleibe dabei: die moralische und akustische Wirkung konnte nicht weit- und durchdringender sein, hätte der alte Kant oder sein kategorischer Imperativ in Person Rollen Varinas oder Tabaks-Dose Nr. 2 geraucht und eben die Pfeife ausgeklopft.

– Die Ketten an den Prellpfählen vor dem Hause, dann die Pfähle selbst – verschwanden, das Haus hat einen sandfarbenen Abputz statt des rothen, die grüne Stube ist die gelbe, die blaue die graue, die Schlafstube die Kinderstube – längst schläft der Vater, der das Haus baute, die Mutter ist Großmutter, die Kinder sind Eltern geworden – und wie Vieles hat sich nicht sonst noch verändert! ... die Akustik des. Hauses ist noch immer die gleiche.

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