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13.
Brüderliche Liebe.

Karl hatte Max »gestellt«, um mich eines waidmännischen Ausdruckes zu bedienen. Zwischen der Hausmauer aus der einen und dem Wasserküfen auf der andern Seite, so konnte er ihm nicht entwischen.

»Karl, du gehst, du läßt mich sein! Karl ... aber Karl ... Karell!« rief der jüngere Bruder mit starker Endbetonung des schmerzlich auseinander gezogenen Namens, wie die Nachbarn ihn mitunter, nicht zu ihrem besonderen Behagen auf unserm Hofe erschallen hörten. Erst allmälig gelang es dem jugendlichen Dulder sein Klagegeschrei durch die beredteste Sprache des Leidens, durch nasse Augen, wirksam zu unterstützen.

»Flennliese, weinst'n Thränchen, ein Krokodilsthränchen? Na wein' doch noch eins! Mußt nur recht quetschen!«

Karl sang hierauf: »wie kommt's, daß du so traurig bist, da Alles froh erscheint?« und: »warum sind der Thränen in der Welt so viel?« Dann ging er auf einmal unvermittelt in den entgegengesetzten Ton über und suchte seinen wehklagenden Bruder zu zerstreuen durch die heitere Weise: »macht mir keine Wippchen vor ... Wippchen vor ... Wippchen vor!« Ein andermal war bei einer ähnlichen Scene geschehen, daß Max mit heldenmüthiger Standhaftigkeit freiwillig seine Backe hinhielt, um zu beweisen, daß er recht wohl einen Puff vertrug, bis es dem kleinen Ohrfeigen-Mucius-Scävola denn doch zu gepfeffert kam; da war das lachende Gesicht im Nu in ein greinendes verwandelt. Jetzt konnte man im umgekehrten, ebenso plötzlichen Uebergang das physiognomische Gegenstück bewundern. Max lachte unter Thränen.

»Aha, da sieht man's recht, er verstellt sich nur!«

Die so gefährliche Anlage zur Heuchelei mußte sogleich kräftig unterdrückt werden, und diesen moralischen Zweck glaubte Karl am besten zu erreichen, wenn er Max einen nicht zu starken Quarthieb mit zwei Fingern an die Nase gab. Die Wirkung, welche der Nasenschneller hatte, war die, daß der jüngere Bruder dem ältern – die Zunge zeigte und sich ihrer noch anderweitig recht drastisch bediente.

»Was? du wirst doch wol nicht gar nach mir spucken? – Thu' das blos noch ein einziges Mal!« Max kam dieser Aufforderung, die er im eigentlichen Sinne nehmen mochte, unverzüglich nach. »Und mit den Füßen stößt du – mit deinen schmutzigen Füßen?«

Die Thatsache konnte leider nicht geleugnet werden.

»Na warte! Begieb dich nur, Kleiner.« Karl umfaßte den Frevler, so daß er sich nicht viel regen konnte. »Erhitze dich nicht – nur sachte, sachte – es nutzt ja nichts – wie sagt doch unser Herr Schreiblehrer? Ich kann dir nicht helfen, Strafe muß sein.«

Denn so war das bei uns: Einer erzog immer den Andern; das ging bis zum Jüngsten hinab, der in Ermangelung weiterer Nachfolge zuweilen pädagogische Versuche in aufsteigender Linie wagte – jedoch selten mit Glück, in der Regel bekam der vorwitzige Erzieher »nach oben« was auf die Nase. Nur jener Theil der Ethik wurde weniger angebaut, welcher das schwierige Kapitel der Selbsterziehung behandelt. Gewiß nicht häufig aber macht die Erziehungskunst von dem Mittel strenger Zucht Gebrauch, welches Karl zur Anwendung brachte. Er hielt den Aufsetzigen von hinten her an den Armen fest, schob ihn in dieser, beide Knaben innig verbindenden Stellung vor sich hin und hob im Vorschreiten seine Schenkel so hoch, daß Max die Empfindung hatte, als säße er auf einem Stuhl, der mit lauter Kniestößen gepolstert wäre.

Sehr weh that es nicht, ein ungetrübtes Vergnügen war es aber auch nicht. Vor allen Dingen glaubte Max, nicht stillschweigend diesen besondern Beweis brüderlicher Liebe hinnehmen zu dürfen. So schrie er, was er konnte, und seine Stimme bebte, theils von der körperlichen Erschütterung, theils weil ihm die Seele wieder gar seltsam schwankte zwischen Heiterkeit und Schmerz. Aber es giebt Situationen, welche das Aufkommen tragischer Gefühle sehr erschweren, und dies war entschieden eine solche.

Und von Neuem ertönte der alte Refrain: »Karl, du gehst – du läßt mich sein – Karell!«

*

 


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