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24.
Fidelio.

Die Theaterzeit rückte heran, nachdem die Sonne den ganzen Tag mit ihren glühenden Strahlen das Bretterdach von Thaliens Tempel behaglich durchbraten hatte. Denn bei uns, wie an anderen nicht großen Orten, genoß man die dramatische Kunst wie die Krebse nur in den warmen Sommermonaten ohne R. Agathe sah zum Fenster hinaus und sagte: »es wird sehr voll werden.«

»Ja die Menschen strömen förmlich« – und Ernestine sah auch zum Fenster hinaus.

»Nun, wir werden einen schönen Spaziergang machen,« sagte Agathe – und dachte an etwas Anderes.

»Ich freue mich sehr darauf,« sagte Ernestine – und dachte auch an etwas Anderes. Vermuthlich war jedoch das, woran Ernestine dachte, nicht sehr verschieden von dem, woran Agathe dachte. Aber so wenig beide Geheimnisse vor einander zu haben pflegten, diesmal wünschte keine von beiden ihre Empfindungen zu verrathen. –

Inzwischen war die Kasse geöffnet, das Publikum, schon massenhaft versammelt, stürmte fast das Haus, und die zwei ältlichen Frauen, welche die Eingänge bewachten, wurden ohne Gnade umgerissen von der unaufhaltsam eindringenden Menge. Eine furchtbare Nemesis für die Blicke des Mißtrauens, welche sie sonst auf Jedermann, ohne Unterschied des Standes, Alters und Geschlechtes zu richten gewohnt, als könne man bei keinem, und wenn die Unschuld selbst in die Komödie käme, ganz sicher sein vor der bösen Absicht, sich ohne Contremarke einzuschleichen. Allein der Director, ein praktischer Mann, war außer Sorge; er ließ die Leute sich drängen und stoßen nach Belieben, bis er das Haus voll hatte, daß kein Bonbonpapier mehr zur Erde konnte. Dann erschien er, ging durch die Reihen und bat sich von Jedem höflich das Billet aus. Der wackere Künstler spielte edelmüthige, aufopfernde Charaktere mit einer schönen Wärme der Empfindung, aber was das Entree anbelangt – da hörte sein Rollenfach auf. Ein unnützer Fleischergeselle, der sogenannte »Stadtärger«, wurde auf allgemeines Begehren seiner Paradiesgenossen noch vor Beginn der Vorstellung wieder an die frische Luft geführt, und beanspruchte wenigstens Rückerstattung des halben Eintrittsgeldes, die Beförderung geschah zu früh – dem regelmäßigen Verlaufe nach pflegte er erst im letzten Aufzuge hinausgeworfen zu werden. Aber die Direction setzte auch dieser, an sich nicht unbilligen Forderung eine unerschütterliche Zugeknöpftheit entgegen.

Wer sich nun glücklich, das heißt unerdrückt, mit hinein gezwängt durch die enge Pforte, tappte mit vorgehaltenen Händen einige Stufen empor und tappte dann wieder auf einem schrägen, mit Latten beschlagenen Bretterboden abwärts. Das Innere des Gebäudes, dessen Architektur sich von einer Scheune nicht wesentlich unterschied, erfüllte ideale Stickluft und ein ahnungsvolles Düster. Man glaubte in einen ganz finstern Raume zu steigen, bis das noch von der Tageshelle geblendete Auge allmälig einen schwachen Lichtschimmer bemerkte; dieser tröstliche Schein kam von den Kerzen des Kronleuchters, welcher eben aus einem runden Loch in der Decke, sich langsam bald rechts, bald links drehend, herabschwebte. Die Sitze gerade darunter, obwol günstig in der Mitte der Parterres belegen, wurden sonst zuletzt eingenommen, weil der Lustre in dem Rufe stand, schmelzendes Talg oder Oel zu träufeln. Doch heute war im Nu Alles besetzt. Die fleißigsten Hausfrauen nahmen ihren Strickstrumpf vor, die Kinder »unter zehn Jahren«, von denen einige sich für ihr zartes Alter durch eine merkwürdig weit vorgeschrittene Körperentwickelung auszeichneten, aßen die letzten Kirschen des Jahres und die ersten wurmstichigen Augustbirnen, die Musiker stimmten schon die Instrumente, und jedesmal, wenn die kleine Seitenthür aufging, durch die ein besonderer Eingang zum Orchester war, fiel ein greller Streifen Sonnenlicht auf den Vorhang, was einen magischen Effekt hervorbrachte in dem künstlichen Dämmerlicht. Aber noch greller blitzten die Augen der unbemittelten Jugend, welche vor der Pforte des Heiligthums herumlungerte und voll Neid den wenigen Bevorzugten nachblickte, die legitimirt durch einen Violinkasten, mit hereindurften. Von dem bedeutenden Einfluß der Schaubühne auf die Volksbildung bekamen die Armen selbst freilich nichts weiter ab, als einen ahnungsvollen Hauch, wenn sie der heiße und schmirgelige Qualm anwehte, der eben so regelmäßig jedesmal beim Aufgehen der kleinen Thüre hinausströmte. Die besser gestellte Minderheit aber harrte drinnen geduldig schwitzend der Dinge, die da kommen sollten. Die Hoffmann trat heute in ihrer Glanzrolle als Fidelio auf.

Schon hatte die Ouvertüre begonnen, da entstand eine Bewegung unter den Herren, welche Stehplätze nach dem Eingang rechts hin hatten. Die Männer standen alle, doch galt auch hier die rechte Seite für mehr aristokratisch. Der Grund jener Bewegung war das verspätete Erscheinen einiger Damen. Man machte ihnen auf das gefälligste Platz, sie wurden von anderen bekannten Damen bemerkt, diese rückten freundlich zusammen, daß auf der Ecke der einen Bank noch Raum wurde – den Luxus numerirter Plätze kannte man noch nicht – aufmerksame Kavaliere nahmen die Hüte in Empfang und hingen sie auf Pflöcke an der Wand, wo schon eine ganze Garnitur buntbebänderter weiblicher Kopfbedeckungen das Haus wie mit einem anmuthigen Kranzgewinde zierte – und Agathe und Ernestine waren doch noch glücklich untergebracht.

– Aber warum kamen sie so spät?

Ja das war wunderbar genug zugegangen! Sie hatten den festen Entschluß ausgesprochen, diesmal – »nicht zu gehen.« Man hatte sie zu sehr geneckt mit ihrer Theaterpassion. Und sie blieben standhaft dabei. Nun gut, der Mensch muß genießen und entbehren lernen! doch ist das erstere ein leichteres und angenehmeres Studium.

Ernestine und Agathe gingen nicht in die Oper – den ganzen Morgen und Vormittag – sie lasen den Zettel, den der Theaterdiener noch druckfeucht über den Thürgriff gestreift hatte, mit vielem Interesse, aber nur, wie sie versicherten, um sich über die Besetzung zu unterrichten. Nachmittag gingen sie gleichfalls nicht, um so weniger, als ihnen bei der heldenhaften Entsagung der Nebenumstand zu Hülfe kam, daß sie keine Billets hatten. Als aber der Hausherr noch kurz vor Thoresschluß, und wie es schien, in völliger Vergessenheit des Gelübdes, das die Mädchen gethan, fragte, ob sie nicht mitkommen wollten, es seien ein paar Abonnementsbillets übrig, die nur noch für diese Vorstellung giltig wären, da konnte es Agathe denn doch nicht über das Herz bringen – Ernestinens wegen, und Ernestine Agathe's wegen, das gütige Anerbieten auszuschlagen. In wenigen Minuten hatten sie ihren Anzug geordnet – bei anderen Gelegenheiten dauerte es länger – beide sahen wieder sehr nett aus – und fortan hieß es: »die Mädchen gehen niemals Vormittags in's Theater, immer nur erst am Abend.«

Endlich rauschte der Vorhang auf. Unsere enthusiastischen Theaterfreundinnen waren aber keineswegs gewohnt, Alles ohne Unterschied zu bewundern und zu loben.

»Marcelline detonirt unerlaubt!« rügte Ernestine schon in der ersten Scene.

»Und die will sechszehn Jahre sein! In der Rolle steht's freilich, und Spanien ist zu weit, um den Taufschein herbei zu schaffen.«

»Wie sie immer den Mund schief zieht beim Singen!«

»Es ist eine unerträgliche Person!«

»Das Plätten versteht sie am besten, das macht sie am natürlichsten.«

»Aber Rocco ist gut.«

»Wie immer. Der verdirbt keine Rolle.«

»Freilich bleibt er auch stets derselbe!«

Nun wurde von draußen her am Thore der Festung geklopft. Rocco, der Schließer, öffnete und Fidelis trat auf.

»Da ist sie – die Einzige!«

»Sieh doch, sieh doch – das Spiel!« flüsterte gleich darauf Ernestine, als Rocco nach wenigen einleitenden Worten des Dialogs vorwurfsvoll sagte: »aber in dein Herz läßt du mich niemals schauen.« Und wie Fidelio sich da abkehrte von dem biedern Alten, der getäuscht werden mußte, die weiblich fein gebildete Hand auf der Brust, gleichsam um das in ihrer Tiefe verborgene Geheimniß zu schützen – das war in der That ein sehr einfaches mimisches Mittel, aber wie wandte die Hoffmann es an! Ja diese einzige stumme Geberde war schon im Stande, wenn auch nur leise, die Saiten regen Mitgefühls anzuschlagen und den Zuschauer vorzubereiten auf den tragischen Ernst der Handlung. Mit der wärmeren Theilnahme steigerte sich auch die Illusion, und bald saß man nicht mehr in dem unscheinbaren Hause, das den größten Theil des Jahres als Wagenschauer und Heuboden benutzt wurde, nicht mehr vor Kulissen und flackernden Lampen, nicht mehr vor den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern vor der lebendigen Welt selbst, wo die Schicksale wirklicher Menschen mit wahren Leidenschaften, Schmerzen, Tugenden und Lastern sich zu spannenden Konflikten entwickelten.

Was war nur ergreifender? Wenn Fidelio den ruchlosen Gouverneur belauscht, bei seinem Abgange hervorstürzt und mit hocherhobener Hand und hinweisendem Finger dem göttlichen Strafgericht die Spur des Bösewichts bezeichnet, der seiner gerechten Rache nicht entrinnen dürfe: »Abscheulicher!« Wenn die Schaar der armen Gefangenen mit ihren bleichen Gesichtern nach langem Schmachten in der Nacht des Kerkers endlich einmal Gottes Sonne wieder begrüßt, und Fidelio ihre Reihen – aber ach! vergeblich suchend durcheilt? Wenn die treueste Gattin, die Alles daran gesetzt, um den geliebten Mann zu befreien, nun selbst für ihn die Grube graben muß? Wenn Pizarro in die unterirdischen Gewölbe herabsteigt, wüthend auf sein Opfer los geht, bis an die Augen vermummt, doch dann den Mantel fallen läßt – und mit ihm die Maske, die den Verfolger des Unschuldigen bisher verbarg, um sich noch recht zu weiden am Anblick des hülflos Erliegenden, da er ihn nun sicher zu vernichten denkt? Wenn Fidelio, als der Mörder schon den Dolch auf Florestan zückt, sich dazwischen wirft und die Arme vor dem Bedrohten ausbreitet, wie schirmende Adlerfittiche heroischer Liebe mit dem kühnen Worte: »tödte erst sein Weib!« Oder wenn der schmetternde Klang des berühmten Trompetensignals ertönt und der Ruf der Rettung: »der Herr Minister kommt!« wo dann die aus unsäglicher Qual zu unsäglicher Wonne Erlösten sich an die Brust sinken, der schluchzenden Stimme aber fast die Worte versagen: »Leonore, was hast du für mich gethan?«

»Nichts, nichts, mein Florestan!« –

Schon lange vorher war hie und da ein Finger tupfend an die Augenwinkel gefahren, Brillengläser wurden trübe wie Fensterscheiben, wenn es stark gestaubt hat und darauf nur wenige Tropfen regnete. Taschentücher, ganz sachte aus dem Pompadour gezogen, bemühten sich, die Wange zu wischen, ohne Aufsehen zu erregen. Aber jetzt dachte Niemand mehr daran, seine Rührung zu verbergen. Jeder ließ den Thränen freien Lauf, und eine von der allgemeinen weichen Stimmung heftig mit ergriffene Nase auf dem zweiten Platz war so akustisch gebaut, daß sie beim Gebrauch des Tuches fast noch lauter trompetete, als es der Musikus hinter den Kulissen gethan, der eben wieder hinab stieg auf den schmalen Treppenstufen, die vom Orchester nach der Bühne führten.

»Ich habe auch tüchtig geweint,« schrieb Ernestine nach Hause. »Es war wundervoll!« –

Und dann dieser Jubel des Finales! Nur ein einziger Tropfen Wehmuth mischte sich in den schäumenden Becher der »namenlosen Freude« – daß man morgen nicht wieder gehen konnte. Das schöne Stück sollte noch einmal gegeben werden!

*

 


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