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20.
Der Gegenstand noch einmal.

Karl war von lebhafter Phantasie. Oft kamen ihm ganz unerwartet die anmuthigsten Träumereien, und ging seinem schauenden Geiste ein solches inneres schönes Bild auf, so gab er sich unbedingt daran hin, gleichviel in welcher äußern Situation es ihn überraschte, ja mochte diese auch noch so prosaisch sein, etwa beim An- oder Auskleiden. »Karl, sitz' nicht in Gedanken, träumst du schon wieder?« Das war ihm häufig zugerufen, wenn er Morgens noch im leichtesten Kostüm am Bette saß, das eine Bein quer über dem andern, und regungslos den einen Strumpf in der Hand, als sollte der Fuß ohne Mitwirkung seiner Willenskraft hineinfahren.

Im Garten aber störte ihn Niemand. Lieblich säuselte das Laub in der Krone des alten Birnbaums und winkte und lockte hinauf in den schattigen Versteck. Unten lagen einzelne, schön reife Birnen, von Wespen umsummt, die daran naschten. Einen Augenblick schien Karl zu überlegen, ob es auch mit seinem jetzigen zarten Gemüthszustande verträglich sei, sich eine so gewöhnliche Zerstreuung zu gestatten und sich in so gewöhnlicher Weise dazu vorzubereiten; doch dann rasch entschlossen, spie er in die Hände, umklafterte den dicken Stamm und rutschte empor. Bald war die Stelle erreicht, wo sich der erste starke Ast abzweigte. Karl warf den rechten Schenkel hinüber, hielt sich mit dem Kniegelenk fest, der Kopf fuhr herunter, daß die Haare senkrecht abwärts flatterten, einen Moment schwankten Himmel und Erde in verkehrter Lage – und der Umschwung war gemacht. Das weitere blieb ein Kinderspiel für den geübten Kletterer; bald wiegte er sich hoch oben in den Zweigen und nahm keinen Anstand, eine von den schmackhaften Birnen zu kosten; es waren von der Art mit schön genarbter Haut und punktirter grüngelber Schale, Sommerbergamotten. Da berührte die Muse wieder seine Stirn mit dem goldenen Zauberstabe unvermutheter Eingebung. Karl sah sich zwischen Beeten mit reichem Blumenflor wandeln, pflückte nach Herzenslust davon, wand einen Strauß und eilte zu ihrem Hause. Das eine wohlbekannte Fenster stand offen, kein Verräther lauschte – jetzt oder nie! Und wupp – flog sein herrliches Bouquet, das er so lange sorgfältig unter der Rockklappe verborgen, hinein auf's Nähtischchen. Sie kam, war hold erstaunt, hatte eine sichtliche Freude und –

»Donnerwetter!« rief Karl mit der Hast eines plötzlichen Schreckes und griff nach dem nächsten Zweige. Vertieft in seinen entzückenden Traum hatte der Gute ganz vergessen, wo er sich befand. »Bei einem Haare wäre ich heruntergeknallt!« Der junge Liebende verschmähte ungeachtet seiner jetzigen empfindsamen Richtung den Gebrauch männlich kraftvoller Worte durchaus nicht.

Kaum hatte er sich wieder zurecht gesetzt, und wollte eben sein reizendes Phantasiebild weiter ausmalen, als er abermals unterbrochen wurde.

»Junger Herr, schenken Sie uns auch 'ne Birn' oder 'n Apfel!« bettelten Kinder von der Straße.

»Schiebt euch! Wenn ihr nicht gleich macht, daß ihr fortkommt, da sollt ihr mal sehen!«

Allein die liebe Gassenjugend ließ sich nicht so leicht einschüchtern und wiederholte unablässig ihr Begehren in kläglich singendem Tone, mit dem Munde an der Zaunritze. Hätte Karl festen Grund und Boden unter sich gehabt und nicht auf dem Baum gesessen, wäre es möglich gewesen, gleich durch das Hinterpförtchen zu laufen und die Zudringlichen zu fassen, da dürfte die Sache wol eine andere Wendung genommen haben. Doch jetzt hielt Karl es für das Beste, sich auf gute Manier mit den Bittenden abzufinden. »Na, da habt ihr!« Mit gnädiger Hand, als stände ihm unbeschränkte Verfügung über die Gartenprodukte zu, warf er einige Birnen herab. »Nun marschirt aber auch!« Die Kinder stürzten sich über die unverhoffte Beute, lasen die Bergamotten eiligst auf, auch diejenigen, die erst gegen den Zaun prallten, sich wund geschlagen und dann im Staub gewälzt hatten; die Nichtverwöhnten dachten wol »etwas Sand scheuert den Magen aus!« Darauf trollten sie ab, lachten und bissen gierig ein, ohne einmal »Schön Dank!« zu sagen. Karl aber träumte weiter und probirte noch mehr Birnen in jener eingehenden Weise, die von dem Probeexemplar außer Stengel und Kerngehäuse nicht viel übrig läßt.

Die Idylle steigerte sich nun zum Heldengedicht. Feinde fielen in's Land. Doch nicht civilisirte Feinde. Selbst die Türken waren Karlchen für seine hohen epischen Zwecke nicht barbarisch genug. Es mußten ganz heillose Kerle sein, in Thierfelle gehüllt, mit furchtbaren Bärten, so recht wie aus der Völkerwanderung. Schon hatten die entmenschten Horden die preußische Grenze überschritten, schon röthete sich Nacht für Nacht der Himmel vom Feuer brennender Städte und Dörfer, und schon waren beim Heulen der Sturmglocke die Mauern unseres Ortes umzingelt. Aber, o Himmel! sie wohnten ja vor dem Thore, in der Vorstadt! Ihr wackerer Vater, die tapferen Brüder hatten Gottlob! noch die Geistesgegenwart gehabt, sich rechtzeitig stark zu verrammeln. Und Entsatz mußte ihnen werden – es koste, was es wolle! Karl und seine Freunde, die jungen Helden, stürmten todesmuthig in den Kampf und befreiten die hart Bedrängten im Augenblick der höchsten Gefahr. Karl war es, der mit einem furchtbaren Schwertstreiche den Anführer der Feinde niederstreckte. Unendlicher Jubel der treuen Waffenbrüder erscholl, auch der Sieger selbst stimmte in das »Hurrah!« mit ein, indem er auf seinem Ast reitend die fliehenden Feinde verfolgte, und so laut schrie er, daß ein Rothschwänzchen, welches in seiner Nähe saß, eiligst wegflog; es hätte ruhig da bleiben können, Karl wollte ihm ja nichts thun. Er hatte blos die wilden Söhne des Ostens glorreich zurückgeschlagen, die in der teuflischen Absicht gekommen, das Kleinod der Jungfrauen, den Gegenstand zu entführen. Dem Tapfern winkte jetzt der schönste Lohn des Sieges ...

»Karl – Karl – hörst du denn nicht? – Aber Karl!«

»Schrei' doch noch besser, wenn du kannst!« erwiderte endlich der so grausam Gestörte.

»Du sollst herein kommen!« rief Max mit jenem Tone gewissermaßen commissarischer Autorität, den sich jüngere Brüder gern erlauben, wenn sie einen Befehl der Eltern überbringen – namentlich aus gesicherter Ferne. »Zum Vater!«

Das war etwas Anderes. Karl stieg unverzüglich herab aus seinen höheren Sphären, baumelte noch ein paar Augenblicke an dem untersten Queraste, sich mit den gespannten Armmuskeln hebend wie beim Ziehklimmen, so daß unter der Weste auf der vorgestreckten Brust ein breiter Streifen vom Hemde zu sehen kam, ließ dann los, langte heil unten an, wie eine Katze, die auch immer auf die vier Füße fällt, und lief in gerader Richtung über Grasplatz und Beete nach dem Hause, wol mehr wegen der Dringlichkeit, die jede väterliche Botschaft hat, als weil er hoffte, es solle mit ihm darüber verhandelt werden, ob der Gegenstand eine passende Partie für ihn sei.

»Du hast wieder nicht deine Bücher fortgelegt; das liegt Alles noch auf dem Arbeitstisch herum. Ich habe es dir doch schon so oft gesagt!« So wurde Karl vom Vater empfangen, der dann mit liebevollem Ernst noch hinzu setzte: »sieh, das ist ja für dein ganzes Leben von der höchsten Wichtigkeit, daß du dich in der Jugend an Ordnung gewöhnst: versprich mir, künftig besser daran zu denken!«

»Ja, lieber Vater!« –

Und wie war nun doch die ganze Welt kindischer Träumereien und dunkler süßer Regungen, die über das kindliche Gefühl hinauskeimen wollten, mit einem Mal spurlos verschwunden vor diesem verständig ernüchternden Mahnwort einer andern – älteren Liebe, die auch wol noch länger vorgehalten haben wird als Karl's neue – erste Liebe.

*

 


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