Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.
Wie die Großmutter schreiben lernte.

»Herr Kantor!« Lottchen hob die Hand hoch.

»Immer schreiben, immer schreiben – kein Wort reden.«

»Ach, Herr Kantor, Herr Kantor!« Lottchen hob die Hand noch höher.

»Was ist denn schon wieder? Ihr habt auch immer was.«

»Herr Kantor, es ist so sehr heiß! Die Finger bleiben einem ja auf dem Papier kleben.«

»Leg' das Löschblatt unter, mein Kind, oder streu' Sand zwischen ... Immer schreiben, immer schreiben.«

»Herr Kantor, ach Herr Kantor!« Hannchen hob auch die Hand in die Höhe mit großer Dringlichkeit.

»Immer schreiben, immer schreiben – kein Wort reden.«

»Herr Kantor, ich wollte nur sehr bitten – darf ich nicht das Fenster aufmachen?«

»Es ist ja schon offen.«

»Aber nur oben das kleine. Darf ich nicht das Unterfenster auch aufmachen?«

»Nein.«

»Es ist so furchtbar heiß, Herr Kantor.«

»Je mehr ihr aufreißt, je mehr Hitze kommt herein.«

»Herr Kantor, ich kann es schon gar nicht mehr aushalten!«

»Steck' die Nase in's Buch, mein Kind! Du willst bloß noch besser auf die Gasse gucken. Ich kenne mein Hannchen. Immer schreiben, immer schreiben – kein Wort reden.«

Und alle schrieben fleißig weiter. Und der alte Lehrer, der so lange hin und her gegangen, setzte sich an seinen Tisch, der auf einem Tritte stand. Es war der »polnische Herr Kantor«, wie ihn die Kinder nannten, sie wußten selbst nicht weshalb, da er kein Pole, auch nicht Polnisch lehrte. Vielleicht war die Schule früher einmal eine polnische gewesen, ehe Westpreußen wieder deutsch wurde. Er ertheilte auch Knaben den ersten Unterricht, und wenn die wieder abgingen, entließ er sie feierlich: »Bei mir habt ihr lesen, schreiben und rechnen gelernt. Nun geht in die hohe Kathedralschule und verlernt es wieder.«

»Lottchen, Lottchen! Wie breitest du dich aus mit deinen Ellenbogen? Die Anderen wollen auch Platz haben ... Hannchen, leg' dich doch nicht so weit über! Du wirst schief werden, verdirbst dir die Augen, und für die Brust ist es auch nicht gut; wenn ihr's jetzt auch noch nicht merket – merket ihr es erst, dann ist's zu spät.«

»Herr Kantor, Sie sagten ja, ich soll die Nase in's Buch stecken. Wenn ich gerade sitze – so weit reicht meine Nase nicht.«

»Immer schreiben, immer schreiben – kein Wort reden.«

Und noch einmal hob Lottchen die Hand auf: »Herr Kantor!«

»Immer schreiben, immer schreiben!«

»Herr Kantor, es wird so dunkel, ich kann hier gar nicht sehen, die Augen verderben sollen wir uns doch nicht, haben Sie nur eben gesagt. Es steigen so schwere Wolken auf.«

»Wo denn, wo denn, Kindchen? Ich sehe nichts.«

»Von da können Sie's auch nicht sehen ... aber von hier.«

»Ja, Herr Kantor, es kommt ganz schwarz herauf,« und Hannchen schlenkerte wieder die Hand und hob den Arm wieder so hoch, daß unter dem kurzen Aermel ein fingerbreiter weißer Streif zu sehen; denn über Leib und Leben war sie doch nicht ganz so verbrannt wie ihre Arme und Hände.

»Blitzte es nicht eben?« – Lottchen hielt sich die Augen zu – »Gedonnert hat es auch schon.«

»Ja ja, es hat stark gedonnert.« Hannchen hatte es auch gehört.

»Ich bin so ängstlich bei Gewitter, den Paraplui haben Sie auch nicht mal mit, Herr Kantor – ei, wenn es einschlägt? Wollen Sie uns nicht lieber nach Hause schicken?«

»Immer schreiben, immer schreiben – kein Wort reden.«

Und die Kinder schrieben und schrieben, und es wurde immer stiller und stiller, und immer heißer und bedrückter in der Schulstube. Der Herr Kantor legte die Arme kreuzweise auf den Tisch, den Kopf auf die Arme, sein Athem wurde immer tiefer und schwerer – mit einmal fing der alte Mann an, sanft zu schnarchen. Da richtet sich Lottchen hoch auf, sieht sich nach allen Seiten um, legt den Finger an den Mund. Hannchen steht auch auf und winkt auch den Anderen. Lottchen ist schon aus der Bank ... an der Thür, die Thür geht gar leise auf und – hui! hinaus wie der Wind. Hannchen ihr nach, und so immer eine nach der andern, bis alle draußen. Der alte Lehrer kann ungestört sein Schläfchen halten, und er schläft so schön und fest, die kleinen Ausreißer kommen auch alle wieder glücklich herein, jedes an seinen Platz, Hannchen zuletzt. Die vergißt aber die Thür hinter sich zuzuziehen oder sie denkt, es kommt noch wer. Eine Zugluft geht durch das Zimmer – ruck! fliegt das eine offene Oberfenster und ruck! noch lauter die Thür zu – der Herr Kantor fährt auf, reibt sich die Augen. Träumt er noch? Oder was ist das für ein Schnack? Rosen, rothe und weiße, hellrothe und dunkelrothe, vollaufgeblühte und Knospen fallen ihm vom Kopf, aus dem silberweißen Haar auf den Tisch, auf den Tritt und noch weiter ringsum in die Stube. Da droht er: »Ihr Schelme! wir werden den Garten zuschließen und eiserne Spitzen auf den Zaun nageln lassen – denkt aber nur nicht, daß ich geschlafen habe. Ich wollte euch den Scherz nur nicht verderben – dies eine Mal! Aber nun seid auch recht artig und schreibt weiter ... oder seid ihr fertig mit der Seite?« »Ja wol, Herr Kantor.« Alle waren fertig. – So stand er auf, schrieb an die schwarzgestrichene hölzerne Tafel, die hinter ihm an der Wand hing, und buchstabirte laut vor, die Kinder schrieben und buchstabirten nach. Wer auf der Straße an dem Schulhause vorbei kam, mochte schwerlich ahnen, wie lustig das noch so eben zugegangen in derselben Klasse, aus der jetzt im Chor heller Stimmen und in mühselig singendem Ton erschallte: »U – u – zwei Strichlein d'rüber: ü ... be – e – err ... ber ... über.«

Jeder neue, also vorgeschriebene und buchstabirte Satz wurde dann auf einer neuen Seite zu besserer Einprägung in einer gewissen Anzahl von Zeilen abgeschrieben.

»So ... jetzt schreibt, Kinderchen, schreibt ... immer schreiben, schreiben – kein Wort reden.«

Und die Kinderchen schrieben und schrieben und redeten kein Wort. – Lottchen breitete sich nicht zu sehr aus. Hannchen saß nicht schief, legte sich nicht zu weit über und guckte auch nicht zum Fenster hinaus. Es war wie in einer Schreibstunde unserer jetzigen Töchterschule, wo die kleinen Mädchen ja auch immer schreiben, schreiben und kein Wort reden. Nur Eins war anders. Alle die kleinen Köpfe, von der ersten bis zur letzten Bank, waren weiß, so weiß wie der Kopf des alten polnischen Herrn Kantors ... Oder nein – doch nicht alle. Die zweite auf der dritten Bank hatte kastanienbraunes Haar – seit einigen Tagen. Früher ging sie wie die anderen.

Als sie zum ersten Mal so kam, wurde sie groß angesehen. Hannchen wies mit dem Finger auf sie in der Zwischenviertelstunde draußen auf dem Hofe. »Ach seht mal, wie die geht! Wer sich nicht pudert, der kämmt sich auch nicht, und wer sich nicht kämmt, der wäscht sich auch nicht!« Da lachten die Kinder, mehr und mehr traten hinzu, schlossen einen Kreis und neckten die »Unordentliche«. – »Was habt ihr mit der Rieke?« Lottchen, die von der andern Seite des Hofes herkam, wischte sich den Mund, der nicht ganz klein, wie an dem ganzen, schlank aufgeschossenen Kinde nichts klein oder kleinlich. Es war ein großes schönes Kind. Das Stück Kuchen, das sie in der Hand hielt, war auch keins von den kleinsten. Als sie gehört, was es gab, blies sie stolz und verächtlich die glänzenden Zuckerkrümel von den Lippen: »Ihr dummen Margellen, wißt ihr das noch nicht mal? Wer Trauer hat, trägt keinen Puder – sie trauert um ihre Mutter.« Und still verlor sich der necklustige Schwarm, Hannchen voran, aber bald näherte sie sich Lottchen wieder, die sie am Arm nahm: »Lotte, was hat die Rieke lieber, Apfelkuchen oder Mohnrollen?« – »Mohnrollen.« Hannchen lief zur Kuchenfrau: »sind die Mohnrollen frisch?« »Fassen Sie nur an, Mamsell Hannchen, sie sind noch warm.« Hannchen zog ihr rothseidenes Beutelchen, schüttelte und schüttelte ... Dem alten Weibe war das schon so oft verboten, sie kam aber immer wieder am Ersten jedes Monats, dann wurde es ihr in den nächsten Tagen auf's Neue verboten, und sie blieb wieder fort bis zum folgenden Ersten, wo die Kinder wieder ihr Taschengeld bekamen. Und heute war der Erste. Lottchen bekam einen »ganzen halben Gulden«, das heißt einen preußischen oder polnischen halben Gulden, fünf Silbergroschen nach neuerem Gelde. Dafür war Lottchen auch ein Patricierkind. Hannchen bekam nur die Hälfte, einen »Achtehalber«, acht und einen halben altpreußischen Kupfergroschen – wenig oder viel, je nachdem Andere mehr oder noch weniger erhielten, kurz – sie hatte Geld und kaufte ein paar Mohnröllchen. »Du sei mir nicht bös – ich wußte das nicht« ... und wupp! steckte das eine Mohnröllchen in Riekchen's Tasche ... Und das andere? Hannchen aß Mohnrollen selbst für ihr Leben gerne, gekauft hatte sie aber eigentlich beide für Riekchen, und Alles schien doch noch nicht in Ordnung nach dem, von Lottchen vernommenen Bruchstück eines Monologes: »pfui schäm' dich, Gierach!« –

»Wenn andere Kinder gehen, läuft Hannchen, wenn andere laufen, springt Hannchen, und wenn andere springen, schießt sie Koppskegel«, pflegte der Herr Kantor zu sagen; er hatte das lebhafte aufgeweckte Kind doch lieb, wenn sie gleich wild war, und er sie oft berufen mußte. Und so mit ein paar Sätzen, doch ohne »Koppskegel zu schießen«, auch nicht mehr so patzig wie erst – denn das verstand sie meisterlich, und die Anderen sollten doch nicht merken, daß sie abbitten ging – noch einmal zurück zu der kleinen Friederike: »Du sei mir nur wieder gut ...« und wupp! steckte das andere Mohnröllchen in der andern Tasche des schwarzen Kleidchens.

Da klingelte es, die Pause war aus, und von der Pause an waren Lotte, Hannchen und Friederike Freundinnen.

*

 


 << zurück weiter >>