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10.
Zur Schule.

Auch der ernste Weg zur Schule bietet einem muntern Bürschchen noch manches harmlose Nebenvergnügen. Der kleine Mann sieht ein Steinchen, einen Scherben, eine unreif abgefallene Frucht vor sich liegen, befördert sie mit geschickter Fußspitze eine angemessene Strecke weit, holt sie wieder ein und schnellt sie abermals vor sich her; er stößt sie bald links, bald rechts hin, bald thut er es mehr tändelnd, bald so gewaltsam, daß der fernhin geschleuderte Spielball ganz aus dem Bereich seiner Laune gekommen zu sein scheint – er holt ihn aber doch wieder ein, und das Spiel beginnt von Neuem. Er streift mit klapperndem Lineal über die Staketen eines Zaunes, balancirt auf niedrigen Geländern oder läuft über die untersten Stufen der Hausthürtreppen der Länge nach hin, was viel hübscher ist, als wie alle Welt auf dem Bürgerstege zu gehen. Und ist es Winter, verabsäumt er gewiß nicht, die Glitschbahnen zu benutzen, die bequem an der Straße liegen, oder er drückt im Gehen vorsorglich einen Schneeball fest: wer weiß, wie bald er ihn brauchen kann!

Karl und Ferdinand, als Brüder an der Aehnlichkeit und gleichen Tracht kenntlich, gehen zusammen, da sie aber in verschiedenen Klassen sitzen, nur so lange, als nicht andere Mitschüler dazu kommen; dann nehmen sie, ungeachtet des besten Einvernehmens zu Hause, nicht viel Kenntniß von einander. Ferdinand bleibt etwas zurück. Ein Herr kommt, den er grüßt. Der Herr bleibt stehen, beugt sich freundlich zu ihm nieder, sie wechseln ein paar Worte. Der Herr geht weiter, Ferdinand läuft den Anderen nach. »Du, wer war das?« »Mein Onkel.« Es war ein stattlicher Onkel, und Ferdinand sonst nicht blöde – ein bischen roth wurde er doch, wie Familienbeziehungen überhaupt für das erste Gefühl männlicher Selbstherrlichkeit, welches der Republikanismus jeder Schulkameradschaft weckt, leicht peinlich werden.

Der größere Knabe, welcher nun neben Karl hin schlendert, zuweilen mit einer traulichen kleinen Carambolage Schulter gegen Schulter, ist jene einflußreiche Persönlichkeit, die ich den Autoritätsfreund nennen möchte. In seiner Art und Weise gegen Karl liegt etwas human Patronisirendes, während dieser zu ihm als Muster und Vorbild in allem Guten und Nichtguten aufblickt. Die Art von Mützenbräm, Jackenschnitt und Westenknöpfen, die der Autoritätsfreund hat, ist die einzig und allein richtige. Da der Autoritätsfreund ein mit Seehundsfell beschlagenes Tornister auf dem Rücken trägt, entspricht die an der Seite hängende, schlicht lederne Büchertasche Karl's leider durchaus nicht mehr den vorgeschritteneren Bedürfnissen der Gegenwart. Der Autoritätsfreund verzehrt seine, zum Zwischenimbiß miterhaltene Buttersemmel schon auf dem Hinwege, unmittelbar nach dem Frühstück, und Karl folgt getreulich dem Beispiel dieser verständigen Diät, wiewol er dann noch keinen Appetit hat. Wer aber so unglücklich, mit dem Autoritätsfreunde nicht gut zu stehen, und wäre es der artigste, feinste Knabe, den erklärt auch Karl für »langstielig«, ja er wird, wenn das Verhältniß zwischen jenen beiden sich verschlimmert, social unmöglich, sinkt zu einem »schofeln« Charakter herab und sieht seine Annäherungsversuche mit eisiger Kälte, mit schonungslos zugekehrtem Rücken von der Hand gewiesen: »Abgedonnert – abgeblitzt!« Daß Kunst- und Kraftausdrücke, deren sich der Autoritätsfreund bedient, sofort in den Sprachschatz des anhänglichen Klienten übergehen, versteht sich von selbst. Hülle man die Kinder in Watte und setze sie unter Glaskasten; ein tüchtiger Regen, ein scharfer Nordost, ein guter Wille – und ein pikantes Wort dringen überall durch.

Die Kleineren, die sich bereits vor dem Schulhause zahlreich eingefunden haben, scheinen sammt und sonders noch nicht gebeugt von der Last ihrer Geistesarbeit. Nicht im mindesten von des Gedankens Blässe angekränkelt, gehören sie voll und ganz dem Leben, das heißt dem Spiele an – bis geklingelt wird, und das orthodoxeste Gesangbuch findet einstweilen nichts Arges darin, den Neuen, welche dem Herkommen gemäß geduckt werden müssen, mit selbstbewußter Würde eines Alten auf die Köpfe zu klopfen. Die Größeren stehen in ruhigen Gruppen und begrüßen die Hinzukommenden mit Handschlag und mannhaftem »guten Morgen«, dem nur mitunter noch die Stimme umschlägt. Einige haben ihre Präparationshefte vor und legen die Hand über die eine Hälfte des in der Mitte eingekniffenen Blattes, wo die Bedeutung der Vocabeln steht. Andere halten einen zwischen geklemmten Finger im Buch, um stets die betreffende Stelle nachschlagen zu können. Es sind dies entweder die Fleißigsten, die sich nie genügen, oder die Trägsten, welche warten, bis erst die Noth auf die Nägel brennt. Eine beliebte Figur ist der Witzbold der Klasse, zuweilen, wie Aesop, für körperliche Unansehnlichkeit von der Natur durch die Gabe treffender Scherze entschädigt, ebenso oft aber auch ein breitschulteriger, kräftiger Geselle und directer Nachkomme Till Eulenspiegels, des kerngesunden Urvaters aller volksthümlichen Schalkheiten. Den Spaßmacher umgiebt ein Kreis von Lachern, während ein poetisches Gemüth sich dort in jenen blühenden Busch einnistet, um auch noch die letzte freie Minute der geliebten Privatlectüre zu widmen. Es ist der »Lesewolf« oder »Bücherhamster«, der ganze Bibliotheken von Jugendschriften zusammenschleppt, im Nothfall aber auch mit jedem andern »Futter« vorlieb nimmt, wenn es nur was Gedrucktes ist, und Tag für Tag mindestens einen Band durchpeitscht. Er »schreibt entschieden den besten deutschen Stil«, vernachlässigt sich aber gelegentlich bei anderen Arbeiten, die ihm weniger zusagen, und ist selbst der Versuchung ausgesetzt, während Lectionen, die nicht von erheblichem Einfluß auf die Rangordnung sind, heimlich seiner Leidenschaft zu fröhnen und zu »schmöchern«; gewisse perspektivische, zum Durchblicken wie geschaffene Astlöcher der alten Klassentische sind sehr verführerisch in dieser Beziehung, – in gleichen zum Ablesen der Aufgaben; sie sollen daher nächstens vom Flicktischler disciplinarisch vernagelt werden.

Hier, auf dem Vorplatze, oder in der Pause auf dem Hofe, dessen Umzäunung – wie Schulhofumhegungen in der ganzen Welt – viel von anpolternden Füßen zu leiden hat, circuliren rasch wichtige Neuigkeiten, welche die »Schulzeitung« bringt: – daß der Doctor Friedrich heute »fehlt«, daß der neu eingeführte Professor der Mathematik strenge, aber gerecht ist, daß es herausgekommen, wer Fähnchenführer gewesen bei dem argen Attentat gegen den Hülfslehrer, der »mit Eclat« ausgebrummt werden sollte – daß einer der Veteranen der Untertertia, ein sogenannter »alter Ladenhüter oder Bankdrücker« die furchtbare Drohung gegen die Anstalt geschleudert, wenn er diesmal wieder nicht »mitkäme«, unfehlbar abgehen zu wollen – und daß baulicher Veränderungen wegen die Sommerferien diesmal ein paar Wochen länger dauern würden – ein alle Jahr wiederkehrendes Gerücht, welches mit gemäßigter Betrübniß aufgenommen zu werden pflegt. Auch die Politik ist neuerdings nicht ausgeschlossen: »Jungens, wißt ihr schon? Es wird wieder gewählt, und am Wahltage haben wir frei. Juchheißa!« Zu Karl's und Ferdinand's Schulzeit war das freilich noch nicht möglich, weil da überhaupt noch nicht gewählt wurde. Die Eltern dagegen und die Mütter insbesondere, welche den Vorzug genießen, viel mehr als die Väter mit der schulfreien Jugend zu verkehren, erfüllte schon von jeher die schöne Zeit der Vacanz mit sehr gemischten Empfindungen, da das lebhafte junge Blut, von den Ferienarbeiten nur theilweise in Anspruch genommen, gar zu leicht aus geordneten Zuständen erlaubter Freiheit zu anarchischem Toben übergeht. »Ihr labt euch heute noch so recht. Nun, Gott sei Dank, morgen ist der letzte Tag, übermorgen geht die liebe Schule wieder an. – Ja, Schulen sind ein großer Segen!«

Jetzt erscheint der Oberlehrer mit einem ganzen Stoß corrigirter Exercitien oder Aufsätze. Was werden für Censuren darunter stehen? Wie spannend die Erwartung! Welcher Spielraum der Möglichkeiten von » laudaris« bis hinab zu » male« oder gar » pessime«, von »befriedigend« bis – »abgeschrieben!«

Die Mützen fliegen von den Köpfen; es ist wie eine Verbeugungswoge, die des Lehrers Schritte begleitet, vor ihm sich senkt, hinter ihm sich hebt, während er nur in Bausch und Bogen dann und wann gegengrüßt. Ein paar Custoden der unteren Klassen treten heran und heben rapportirend die Hand auf. Ursprünglich Zeichen der Meldung zur Frage, ist dies den Knaben so zur Gewohnheit geworden, daß sie es stets thun, wenn sie mit einem Lehrer sprechen. Während der Schulstunden sieht es sich an wie das hüpfende Auftauchen und Zurückfallen der Dämpferstifte im Klavier, wenn die kleinen Hände der Reihe nach auf und niederfahren, und immer weiter gefragt wird: »der Folgende, Folgende – sequens, sequens, sequens« ... bis es heißt: »richtig« oder »also es weiß keiner? Das ist arg.« Wer es nun aber wußte, läßt sich nicht lange nöthigen, dem Wink und Rufe »herüber« zu folgen – die Hefte und Compendien unter dem Arm, zwischen Tischkante, Bücherbrett und den nur mißvergnügt weichenden Knieen der Ueberflügelten sich aufwärts durchzuarbeiten! Der siegreich mit einem Schlage über so Viele Hinaufsteigende hat nebenher den Vortheil, mit jeder Antwort, die er später etwa wieder verfehlt, doch stets nur einen Einzigen herunterrutschen zu können. Ein besseres Geschäft als so ein Avancement en gros läßt sich gar nicht denken. Es wird aber auch jedes andere Vorrücken von geringerer Bedeutung treulich zu Hause gemeldet. »Ich bin Einen heraufgekommen – in Religion –«. »Mit welcher Frage denn?« – »Schulz hatte wieder sein Löschblatt vergessen und wurde Letzter gesetzt.« Freilich nur ein bescheidenes theologisches Verdienst des Beförderten! Beförderungen abwärts hingegen werden gar nicht oder doch nur auf besondere Nachfrage mitgetheilt. So erklärt sich denn auch das für die Eltern sonst unlösliche Räthsel, wie manche Kinder fort und fort heraufkommen, daß sie eigentlich schon längst hoch oben bis über den Primus omnium weg sein müßten, und factisch doch nicht aus der zweiten Abtheilung in die erste gelangen.

Die Glocke erschallt nun: es wird geöffnet. Der dichte kribbelnde Schwarm, der den Eingang umlagert, wie Bienen das Flugloch des Korbes, trichtert sich allmälig ein, und mit ihm kommt Leben in das große Gebäude, das vorher kalt und schweigend da stand. »St! Ruhe!« hört man gebieten, oder auch die Namen einzelner Schüler rufen, und das Rohrstöckchen, die ultima ratio der Pädagogik, jetzt noch in Händen der Ordnungsbeamten, auf Pult und Tische klappen. Unverbesserliche Plauderer und Unruhstifter aber werden, »herausgestellt« vor die Thüre oder notirt, ohne Rücksicht auf Entschuldigungen, bei denen die mildernden beiden kleinen Wörtchen »blos« und »'n bischen« eine große Rolle spielen. »Ich faßte ihn blos 'n bischen an die Haare – und da zog er den Kopf weg ...« So daß nach dieser geschickten Vertheidigung – die Klage völlig unbegründet ist, vielmehr der Kläger nach Art der indischen Selbstpeiniger sich aus eigene Hand an den Haaren gerissen hat – unter ganz unerheblicher gütiger Mitwirkung seines Hintermannes auf der zweiten Bank.

Und wie das Lärmen nun nachläßt, klärt sich auch die Atmosphäre, oder die Schüler spüren doch nicht mehr so, wie beim Eintritt in die Klasse, den dumpfen Geruch erst vor Kurzem gekehrter Dielen; aber sauertöpfische Tintfässer, welche riechen, verleugnen diese den Umsitzenden nicht angenehme Eigenschaft zu keiner Zeit.

Noch kommen ein paar Nachzügler angetrabt, daß die Pennale nur so klappern, und kaum haben sie mit einem scheuen Blick nach der Thür des Conferenzzimmers, an dem sie vorüber müssen, und von wo sie anscheinend nicht bemerkt zu werden wünschen, den Saal erreicht, so beginnt auch schon die Andacht. Hoffentlich sind sämmtliche Schüler wohl vorbereitet. Denn so am frühen Morgen einen Choral mitsingen müssen und während dessen eine leise bald mahnende, bald tröstende Stimme im eigenen Busen zu vernehmen: »ich war ja nur das letzte Mal d'ran« – »Alles fragen kann er ja nicht« oder gar: »wenn er's nur nicht merkt« – ach, das ist sehr unbehaglich, dabei kann einem ganz flau werden!

So ging es und geht es noch heute zur Schule; wenn die Kinder aber nach Hause kommen, heißt es: »nun, wie ist es gegangen? Herauf – herunter – oder seid ihr sitzen geblieben? Na, nehmt euch nur zusammen, daß ihr gute Zeugnisse bringt, wenn das Vierteljahr um ist.«

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