Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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255. Die Marskanäle

Quelle: Felix Linke: »Ist die Welt bewohnt?« Verlag von J. H. W. Dietz Nachf., Stuttgart, 1910.

Ungeheures Aufsehen wurde auf der gesamten Erde erregt, als der Direktor der Sternwarte zu Mailand, Giovanni Schiaparelli, im Jahre 1878 die Kanäle auf dem Mars entdeckte. Glaubte man doch, in diesen geradlinigen Gebilden zum ersten Mal Werke mit Intelligenz begabter Wesen auf einem andern Weltkörper gefunden zu haben.

Unabsehbare Perspektiven eröffneten sich der Menschheit durch den Gedanken daß auf einem der uns am allernächsten stehenden Sterne Wesen lebten, die imstande waren, diese kolossalen Gebilde zu schaffen; denn an Menschenwerk kann ihnen nichts ähnliches zur Seite gestellt werden. Durfte man nicht annehmen, daß die Martier, denen Kanalbauten von zwanzig Kilometern Breite und fast der halben Meridianlänge gelangen, auch einmal Wege finden würden, um die kurze Weltraumstrecke zwischen ihrem Planeten und dem unsern zu überbrücken? Beinahe erwartungsvoll sah man in die Zukunft, wenn man an ein solches unerhörtes Begebnis dachte.

Aber diese schönen Träume sind heute ausgeträumt. Lang andauernde und genaue Beobachtungen haben ergeben, daß die Kanäle auf dem Mars zum Teil 358 überhaupt nicht vorhanden, zum Teil etwas ganz anderes sind, als zu Anfang vermutet wurde. Besonders bei der letzten sehr günstigen Stellung des Mars zur Erde im Herbst des Jahres 1909 sind Tatsachen bekannt geworden, welche die Zustände auf dem Mars doch recht anders erscheinen lassen, als man noch vor zehn Jahren vermutete.

Man darf von vornherein nicht übersehen, daß Mars aus mancherlei Gründen als weit älter zu betrachten ist denn die Erde. Nach allen Theorien über die Entstehungsweise unseres Planetensystems ist anzunehmen, daß der Stern weit früher die endgültige scharfumrissene Kugelgestalt angenommen hat als die Erde. Dazu kommt aber, daß sein Durchmesser nur wenig länger ist als die Hälfte des Erddurchmessers; seine Masse gar übersteigt nur wenig ein Achtel der Erdmasse, da ihre Dichte weit geringer ist, als die des Körpers unseres Heimatsterns. Daraus geht hervor, daß seine Lebensdauer sehr viel kürzer sein muß als die der Erde, und aus diesem Grund schon wäre der Mars als älter zu bezeichnen, auch wenn die Geburtszeiten beider Sterne die gleichen wären.

Die Unterschiede im Alter müssen aus diesen Gründen heute so bedeutend sein, daß man von vornherein keine vergleichbaren Zustände mehr annehmen kann. Es handelt sich da nicht um ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende, sondern um sehr viel größere Zeiträume, sodaß die Entwicklungsperiode, in der hochorganisierte Wesen auf dem Mars gedeihen konnten, längst vorübergegangen sein muß.

Mars ist heute eine sterbende Welt. Die Dichte seiner Atmosphäre beträgt kaum mehr als ⅕ der irdischen. Wasser in flüssiger Form ist nur noch in sehr geringem Maß vorhanden. Große Wüsten bedecken die Hauptteile des Planeten, die Berge sind durch den feinen Wüstensand abgeschliffen, sodaß nur noch allmähliche Steigungen oder Senkungen zu den höchsten oder niedrigsten Punkten führen. Das Ganze dürfte nach der Annahme von Arrhenius ein Wüstenmeer wie die Sahara sein. Große Sandstürme von rotgelbem bis hellgelbem Wüstenstaub sind mit Sicherheit beobachtet worden; der hoch emporgehobene Staub verschleiert dabei alles, was man sonst auf der Oberfläche des Mars wahrnimmt.

Eigentliche Meere und Flüsse gibt es auf dem Stern nicht mehr. Das wenige Wasser, das vorhanden ist, schlägt sich allmählich an demjenigen Pol nieder, der der kälteste Punkt der Marsoberfläche ist. Er wird dabei mit Reif, kaum mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. In jedem Jahr aber, das auf dem Mars fast doppelt so lange dauert wie auf der Erde, verschiebt sich das kälteste Gebiet einmal vom Nord- zum Südpol. Denn die Achse des Mars hat eine andere Neigung zur scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik) als die Erdachse.

359 Bald ist es also für längere Zeit am Nordpol am kältesten, während zu dieser Zeit der Südpol im wärmsten Sonnenlicht liegt, bald tritt das Umgekehrte ein. Man sieht dann die weiße Kappe an dem Pol, an dem allmählich der Sommer einzieht, ganz abschmelzen, bis auf die nächste Umgebung des Nordpols und eine dreieckige Insel in der Nähe des Südpols, an welchen Stellen man die weiße Farbe nie hat schwinden sehen. Dort geht wahrscheinlich eine Art Gletscherbildung vor sich.

In jedem Jahr also findet zweimal ein Ziehen des gesamten Wassers, das der Mars besitzt, von einem Pol zum andern statt; es destilliert in Form von Wasserdampf herüber und hinüber. Und in diesem Vorgang sieht Arrhenius die Ursache für das Entstehen und Verschwinden der sogenannten Kanäle.

Bevor wir diese Theorie des schwedischen Forschers betrachten, muß auf einen Umstand aufmerksam gemacht werden, der erklärlich erscheinen läßt, daß so viele ausgezeichnete Astronomen sich über die Natur der Kanäle so lange täuschen konnten. Unter den günstigsten Umständen sieht man von der Erde aus den Mars in einem hundertfach vergrößernden Fernrohr ebenso groß wie ein Fünfpfennigstück, wenn man es aus anderthalb Metern Entfernung betrachtet. Die höchste Vergrößerung, die man wegen der Unreinheit und wechselnden Zusammensetzung der Luft in unseren Landen noch anwenden kann, ist das 300fache. In Fernrohren von derartiger Leistung sieht der Mars aus wie ein Fünfmarkstück aus 110 Zentimetern Entfernung gesehen. Es ist kaum genug zu bestaunen, daß es überhaupt möglich gewesen ist, auf einer so kleinen Fläche so viele Einzelheiten wahrzunehmen. Ganz besonders scharfe Augen und größte Erfahrung, sowie ein bedeutendes Maß von Geduld gehören zu derartigen Untersuchungen.

Schiaparelli sah mit seinen ungewöhnlich guten Augen auf der Marsoberfläche zahlreiche geradlinige Gebilde, die immer von einem dunklen Fleck zum andern ziehen, einander kreuzen, ein eigenartiges Netzwerk fast auf der ganzen Oberfläche des Planeten bilden. Sie sind nicht ständig vorhanden, sondern verschwinden zu Zeiten, um dann wieder aufzutauchen. Bald stand es für Viele fest, daß diese Linien großartige Anlagen der Marsbewohner zur Verbindung der einzelnen Meere oder Seen bedeuteten. Sie hätten, meinte man, zur Ermöglichung eines bequemen Wasserverkehrs über den ganzen Planeten, garnicht zweckmäßiger angelegt werden können, aber sie seien auch vorzüglich zur Abhaltung von Überschwemmungsschäden zu gebrauchen. Man wußte ja, daß in jedem Jahr die Pole abtauen, und glaubte, da man dort mächtige Schneemassen vermutete, daß sich zu dieser Zeit große Wassermengen über die ganze Oberfläche des Planeten ergießen müßten, die von den Martiern in von ihnen 360 gewünschte Bahnen gelenkt würden. So schien auch die riesenhafte Breite der Kanäle erklärlich. Sie wären nicht von vornherein so breit angelegt worden, sagte man, sondern das anstürmende Wasser hätte die kolossalen Rinnen allmählich ausgewaschen, und zudem sähe man wohl von uns aus nicht nur die eigentlichen Wasserläufe, sondern auch die Vegetationsstreifen zu beiden Seiten als dunkle Bänder.

Merkwürdigerweise konnte man die Kanäle durch die mittleren und kleinen Fernrohre am besten beobachten. Die großen Teleskope erwiesen sich hierzu als minder geeignet. Hieraus schon schloß man frühzeitig, daß es sich wohl mehr um eine Augentäuschung handle, die eben den schärfer zupackenden großen Werkzeugen der Wissenschaft nicht standhält.

Und so ist es in der Tat. Antoniadi sah in jener günstigen Beobachtungszeit im Jahre 1909 statt der gradlinigen geometrischen Gebilde nur matte, formlose Bänder, von denen viele aus zahlreichen kleinen Flecken bestehen. Statt des Netzes nur flüchtig sichtbarer gerader Linien enthüllte ihm sein Rohr, der große Refraktor der Sternwarte zu Meudon, das Bild einer verschwommenen Marmorierung oder besser das eines regellosen Schachbretts.

Arrhenius sagt, daß die mächtigen Salzablagerungen ausgetrockneter Meere die Ursache für die Entstehung jener Flecke sind. Wenn das Wasser von einem Pol zum andern zieht, so sättigen sich diese stark hygroskopischen Gebilde mit Wasser und färben sich dadurch dunkel. Später dunstet dann das Wasser wieder aus dem Salz aus, und so erklärt sich das wechselnde Aussehen. Die Gradlinigkeit der Streifen, die ja beim ersten Auffinden am meisten überraschte und ganz besonders auf eine künstliche Erzeugung hinzuweisen schien, erklärt sich dadurch, daß die nunmehr ausgetrockneten Gewässer, aus denen das Salz stammt, auf großen Erdbebenspalten und Einbruchsstellen der Marsoberfläche gelegen haben. Solche Spalten und Senkungen verlaufen oft ganz gradlinig ohne Rücksicht auf die Topographie der Umgebung. Wir wissen das vom Mond her, wo es ganz ähnliche Gebilde gibt, und finden sie sogar auch auf der Erde. Ganz ähnlich wie die Marskanäle verlaufen die wichtigsten Erdbebenlinien in Kalabrien und Sizilien.

Diese Theorie, die heute wohl allgemein anerkannt ist, erklärt alle Gebilde, die wir auf dem Mars sehen, als natürliche Erzeugnisse. Keinerlei hoch entwickelte Marswesen braucht es zu geben, noch kann es dergleichen geben. Mars ist vielmehr dem Schicksal des Monds schon verhältnismäßig nahe. Er stirbt langsam ab. Dieser himmlische Vertreter des Kriegsgotts schreitet, so sagt Arrhenius, wie ein kraftloser, ohnmächtiger Greis seine vorgeschriebene Bahn weiter.

361 So endet der schöne Traum von unseren erhabenen, kunstreichen Brüdern auf dem Nachbarplaneten!


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