Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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59. Im Reich der Ameisen

Quelle: Dr. Franz Doflein: »Das Tier als Glied des Naturganzen«, zweiter Band des Werks: »Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet«, von Dr. Richard Hesse und Dr. Franz Doflein. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1914.

Aus dem unerschöpflichen Wunderfüllhorn der Natur sind über alle Wälder in Milliarden Exemplaren die Ameisen ausgeschüttet. Der Erforschung ihres Treibens haben nicht wenige Gelehrte ihre gesamte Lebensarbeit gewidmet, und so ist es gelungen, hinter eine große Zahl ihrer Geheimnisse zu kommen. Der Vorhang ist fortgezogen von einem Stück Leben, dessen Anblick uns zu ehrfürchtigem Staunen vor der Schöpferkraft der Natur nötigt, die in so unscheinbaren Tierleibern so viel Klugheit, Organisationstalent und mannigfache Charaktereigenschaften vereint hat.

Im Gegensatz zum Bienenstaat (siehe Abschnitt 57) findet man in einer Ameisenkolonie meist mehrere Königinnen, d. h. fortpflanzungsfähige Weibchen. Von einem Alleinherrschertum ist also hier nicht die Rede. Aber genau wieder wie bei den Bienen gibt es im Ameisenhaufen die verkümmerten Weibchen als Arbeiterinnen und die faulen, zu keiner Tätigkeit tauglichen Männchen, die bald nach Erfüllung ihrer geschlechtlichen Pflichten absterben. Die Geschlechtsindividuen schlüpfen als geflügelte Tiere aus den Eiern. Zum Hochzeitsflug erheben sie sich in ungeheuren Scharen in die Luft, um dann sogleich die Flügel zu verlieren. Die befruchtete Königin kehrt nie ins ursprüngliche Nest zurück, sondern bildet aus ihrer Brut stets eine neue Kolonie.

85 Zu einem ausgebildeten Ameisennest gehören oft hunderttausend Individuen. Unablässig sind die Arbeiterinnen in Tätigkeit. Hierbei geht es nach einer genauen Ordnung zu. Schon im Körperbau unterscheidet man mehrere Typen von Arbeiterinnen, und jede Sorte hat ein ganz bestimmtes Feld für ihre Tätigkeit. Man hat in einem künstlich gehaltenen Versuchsnest einzelnen Ameisen Farbflecke auf den Rücken gemacht und konnte so mit Leichtigkeit die Funktion jeder einzelnen beobachten. Da sah man, daß die eine ausschließlich Larven fütterte, die andere Puppen an die Sonne trug, die dritte auf Raub ausging, die vierte nur an der Bautätigkeit beteiligt war. Wochenlang ging dasselbe Individuum immer der gleichen Tätigkeit nach.

Diejenigen Arbeiterinnen, die reichliches oder besonders geeignetes Baumaterial gefunden haben, geben Genossinnen, die sie beim Rückweg treffen, davon Kunde und können offenbar den Ort, wo das Begehrte liegt, so genau bestimmen, daß jene ihn allein auszufinden vermögen. Häufig füllen sie auch draußen ihren Kropf mit mehr Nahrung an, als sie selbst gebrauchen können. Ins Nest zurückgekehrt, würgen sie dann die Nahrung wieder tropfenweis empor und lassen andere die Tropfen aus ihrem Mund verspeisen. Besonders dazu bestimmte Exemplare der Honigameise, die selbst das Nest nie verlassen, werden sogar systematisch mit Nahrung angefüllt, gewissermaßen mit Honig gemästet, bis sie soviel davon in ihrem Körper bergen, daß ihr Hinterleib kolossal anschwillt. Diese lebenden Honigtöpfe hängen an der Decke des Baus, und durch Streicheln mit den Fühlern werden sie von Arbeiterinnen veranlaßt, Tropfen empor zu würgen und als Nahrung abzugeben.

Während die Bienen immer in genau gleicher Weise ihre Bauten ausführen, vermögen sich die Ameisen allen Verhältnissen vorzüglich anzupassen. Besonders lebhaft sind die Erdnestbauer bei Regenwetter tätig, weil ihnen das Regenwasser als Bindemittel dient. Der Ort für ein neu zu errichtendes Nest wird stets sorgfältig ausgewählt. Für die Aufwölbung der Kuppel benutzen die Tierchen Grashalme und andere geeignete Pflanzenteile als Stützen. Das Nest wird in verschiedene Stockwerke unterteilt. In diesen herrschen bei der Dichtigkeit und dem regen Stoffwechsel der Bevölkerung beträchtliche Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede. Und unermüdlich sieht man Arbeiterinnen Puppen von einem Stockwerk ins andere räumen, je nachdem für das Entwicklungsstadium der einzelnen das eine oder das andere Stockwerk zuträglich ist.

Tropische Ameisen bauen ihre Nester vielfach auf Bäumen aus einer kartonähnlichen Masse, die sie gleich den Wespen durch feinstes Zerkauen des Holzes und Vermengen mit ihrem Speichel herstellen. Die Weberameisen aber haben Nester aus Blättern, die durch ein seidenartiges Gespinst verbunden werden. 86 Man konnte lange das Rätsel nicht lösen, woher die Ameisen die Fäden für diese Gespinste hernehmen. Denn erwachsene Weberameisen besitzen keine Spinndrüsen. Heute weiß man, daß die Nestblätter unter Benutzung eines sehr seltsamen Hilfsmittels zusammengesponnen werden.

Die Larven dieser Ameisenart haben sehr stark entwickelte Spinndrüsen, mit deren Hilfe sie sich im letzten Stadium einen Kokon spinnen können. Haben die Arbeiterinnen nun zwei Blätter so gestellt, daß die Ränder nur noch einen schmalen Spalt zwischen sich lassen, dann schleppen sie im Mund Larven herbei. Sie pressen das Vorderende der Larve an den einen Blattrand, warten einen Augenblick, bis der in der Drüse entstehende Faden angetrocknet ist, fahren dann mit dem Kopf quer über den Spalt hinweg und wiederholen auf der anderen Seite dieselbe Prozedur. So spinnen sie ein festes Gewebe über den Spalt, indem sie die Fäden sich häufig überkreuzen lassen. Man kann sagen, daß die Ameisen ihre Larven hier richtig als Weberschiffchen benutzen. Es ist dies einer der sehr seltenen Fälle, in denen wir Tiere sich eines Werkzeugs bedienen sehen.

Die Ameisen sind sehr eifrige Räuber, die der Forstwirtschaft gute Dienste leisten, indem sie große Mengen baumschädlicher Insekten beseitigen. Man hat berechnet, daß von einem großen Ameisenhaufen an einem Tag bis zu hunderttausend Insekten getötet werden. Auch auf Leckerbissen sind die Tiere sehr erpicht. So halten sie in ihren Nestern Blattläuse, in deren Exkrementen Zuckersubstanz enthalten ist, als Haustiere, bringen ihnen geeignete Nahrung und melken sie dafür durch Streicheln mit den Fühlern.

Die fortwährenden Kriege, welche die Ameisen infolge ihrer stark entwickelten Streitlust führen, haben die Ausbildung einer besonderen Soldatenkaste veranlaßt. Es sind das Individuen mit enorm entwickeltem, oft stark gepanzertem Kopf und ausnehmend kräftigen Beißwerkzeugen. Bei ihren regelrechten Raubzügen brechen die besonders kriegerischen Amazonen-Ameisen in fremde Nester ein, rauben dort die Brut und lassen sie dann in ihren eigenen Nestern ausschlüpfen. Die so in fremdem Bezirk geborenen Tiere müssen den Amazonen alsdann als Sklaven dienen, denn diese selbst arbeiten nicht, sind nicht einmal zur selbständigen Nahrungsaufnahme befähigt. Sie müssen von ihren Sklaven gefüttert werden, sonst verhungern sie inmitten reichlicher Nahrung. Aber sie sind gewaltige Krieger, was ihnen alle anderen Fähigkeiten ersetzt. 87


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