Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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233. Die Glutwolken des Mont Pelée

Quelle: Dr. Hippolyt Haas: »Die vulkanischen Gewalten der Erde und ihre Erscheinungen«, 38. Bändchen der Sammlung »Wissenschaft und Bildung«. Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, 1909. Z.

Zu den furchtbarsten Ereignissen, die je auf Erden sich zugetragen haben, gehört der Ausbruch der Glutwolken, die der Mont Pelée im Jahre 1902 auf das unglückliche St. Pierre, das Handelsemporium von Martinique, geschleudert hat. Der Vorgang sei hier mit den Worten von Professor Haas in seinem Buch »Vulkanische Gewalten« geschildert:

„St. Pierre ist eine blühende, etwa sechs Kilometer in der Luftweite vom Vulkan gelegene Stadt gewesen, die es durch den Export des auf Martinique erzeugten Zuckers und Rums zu großer Wohlhabenheit gebracht hatte, mit gut gebauten steinernen Häusern, schön angelegten Straßen und freien Plätzen, und mit vielen massiven öffentlichen Gebäuden, so der Kathedrale, dem Bischofspalast, der Bank, dem Rathaus, Justizpalast, Theater. Sie dehnte sich längs des Meerufers aus, umgeben von großen Gärten und Pflanzungen, in denen eine üppige Vegetation entfaltet war. Kurz vor seiner Vernichtung beherbergte St. Pierre laut den genauen Ergebnissen einer Volkszählung 26 011 Einwohner, und 4620 Menschen bewohnten den noch näher an dem Mont Pelée erbauten Ort Le Précheur.

Vor seiner letzten Eruption besaß der genannte Berg eine Höhe von 1351 Metern. In den Jahren 1792 und 1851 hatte er verhältnismäßig geringfügige Ausbrüche erlitten. Bereits im Jahre 1889 konnte man in seinem Gipfelkrater eine stärkere Entwicklung von Schwefelwasserstoffgasen beobachten, die zu Anfang des Jahres 1892 in Le Précheur sehr lästig wurden und sich auch bald darauf 326 in St. Pierre selbst unangenehm bemerkbar machten. Am 22. April brach das Fort de France, die Hauptstadt von Martinique, mit Guadeloupe verbindende Kabel entzwei, und am folgenden Tag wurde Le Précheur von einem leichten Erdbeben betroffen. Dann stieg zwei Tage darauf eine etwa 5 bis 600 Meter hohe Aschensäule aus dem Krater, die den genannten Ort mit einem starken Aschenregen bedeckte. Danach nahm sonderbarer Weise die Tätigkeit des Vulkans wieder ab, und zahlreiche Bewohner St. Pierres machten sogar einen Ausflug auf den Vulkan, um die Vorgänge im Krater zu beobachten, wo eben ein kleiner Aschenkegel in Bildung begriffen war.

Aber bereits wieder am 28. April ertönte starkes Donnern aus dem Innern des Bergs, dessen Leistungen bedeutend anwuchsen, während aus dem Krater dunkle, von Blitzen durchzuckte Aschenwolken aufstiegen. Trotz allem wurde die Bevölkerung kaum beunruhigt, weil von offizieller Seite aus versichert wurde, die Sache hätte nicht viel auf sich, und der ganze Ausbruch würde nicht viel schlimmer verlaufen als derjenige von 1851.

In der Nacht des 2. Mai ging ein starker Aschenregen auf St. Pierre nieder, und etwa die ganze Insel Martinique wurde von seinem Aschenstaub bedeckt. Auch diese Ereignisse übten keinerlei beängstigende Wirkungen auf die Bewohner aus, denn das alles hatte man ja auch schon 51 Jahre früher erlebt. Erst als in der Nacht vom 4. zum 5. Mai ein gewaltiger, siedend heißer Schlammstrom sich von den Flanken des Bergs mit rasender Geschwindigkeit herabwälzte, ein Fabrikgebäude zerstörte und 25 Menschenleben zum Opfer forderte, erschienen die Vorgänge, die sich eben am Mont Pelée abspielten, den Einwohnern von St. Pierre doch in etwas bedenklicherem Licht, zumal als sich im Verlauf der nächsten Tage diese Schlammströmungen wiederholten und zugleich mehrere Kabelbrüche gemeldet wurden. Die immer heftiger werdenden Aschenregen vernichteten die Vegetation von St. Pierre, und die Bäume fingen an, unter der Last der auf sie niederfallenden vulkanischen Auswurfsmassen zusammenzubrechen; feuriger Wiederschein stieg aus dem Krater empor, und große glutige Blöcke wurden daraus fortgeschleudert.

Nun erfaßte die Einwohner von St. Pierre doch eine ziemliche Panik, und verschiedene Leute verließen sogar die Stadt, deren letzte Nacht, die vom 7. zum 8. Mai, durch das dumpfe Grollen und Poltern des Bergs erfüllt wurde, aus dessen Gipfel zuweilen feurige Blitze herausfuhren; heftige Wolkenbrüche fanden am Mont Pelée und dessen Umgebung statt, neue Schlammströme rasten an seinen Hängen herunter und zerstörten einen Teil von Le Précheur.

Ein klarer blauer Himmel jedoch strahlte am nächsten Morgen, am Himmelfahrtstag, dem 8. Mai 1902, über St. Pierre. Die Schrecken der 327 vorhergegangenen Nacht waren wie weggewischt. Nur eine weiße Dampfwolke von vollendet regelmäßiger Gestalt stieg aus dem Scheitel des Unglücksbergs hoch in die Lüfte auf und erinnerte noch an die jüngsten angsterfüllten Stunden. Da sollte sich des Vormittags um 8 Uhr 2 Minuten etwas unerhört Gräßliches ereignen!

Von den Bewohnern von St. Pierre haben nur zwei den Untergang ihrer Stadt überlebt, ein im Gefängnis befindlicher Neger Louis Cyparis und der Schuhmacher Léon Compère. Beide befanden sich im Augenblick der Katastrophe an für die Beobachtung des Vorgangs wenig günstig gelegenen Orten, der eine in seiner Zelle, der andere in seiner Wohnung, und über den allgemeinen Verlauf des Ereignisses haben sie nichts Wertvolles berichten können. Das, was wir davon wissen, beruht lediglich auf den Erzählungen der wenigen Augenzeugen, die sich gerade außerhalb der von der Glutwolke betroffenen Zone befunden haben, oder einiger Überlebender von der Besatzung der bei diesem Anlaß vernichteten Schiffe auf der Reede von St. Pierre. Alles Lebendige, das sich innerhalb des von der Glutwolke berührten Gebiets aufhielt, ist, bis auf die zwei eben genannten Personen, zugrunde gegangen!

Aus den Schilderungen der vorerwähnten Augenzeugen hat der französische Gelehrte Professor Lacroix, den seine Regierung zwecks genauer Untersuchung der Vorgänge alsbald nach Martinique entsandt hatte, den Verlauf der Dinge folgendermaßen feststellen können:

Unter furchtbaren Detonationen ist um die besagte Zeit urplötzlich eine gewaltige, wie wellenartig sich fortbewegende Wolke aus dem Gipfel des Vulkans hervorgeschossen, durchleuchtet von großartigen Blitzen. Mit rasender Geschwindigkeit wälzte sie sich dann auf dem Erdboden dahin, bedeckte St. Pierre und gelangte erst bei der weiter südlich gelegenen Ortschaft Le Carbet zum Stehen. Vom Vulkan bis nach St. Pierre hin hat die Wolke nicht einmal eine Minute Zeit gebraucht, und mit einer Schnelligkeit von mehr als 150 Metern in der Sekunde stürzte sie sich auf die unglückliche Stadt. Ein ebenso rasch entstandener Gegenwind hemmte bei Le Carbet die weitere Fortbewegung der Glutwolke und trieb sie auf St. Pierre zurück, um hier die Flammen der in Brand geratenen Stadt noch um so mehr zu entfachen und das Unheil noch zu vergrößern.

Als die Wolke sich etwas verzogen hatte, und es wieder heller geworden war, bot sich den Augen der Verschontgebliebenen ein jammervoller Anblick dar: die schöne Stadt, die sie noch einige kurze Minuten vorher in ihrem Glanz erschaut hatten, war in einen brennenden und rauchenden Trümmerhaufen verwandelt worden! Nichts Lebendiges war mehr darin zu erblicken. An Stelle 328 der vielen, festlich geschmückten Menschen, die noch einige Augenblicke vorher sich anschickten, das Fest der Himmelfahrt des Heilands in freudiger Stimmung zu begehen, in um so freudigerer, als die unheimlichen Gewalten des Bergs in der Nacht zuvor ihre Kräfte erschöpft zu haben schienen, lagen tausende verkohlter und versengter Leichen umher, und Totenstille herrschte in dem sonst so rührigen und lauten St. Pierre.

Alles in dem weiten Umkreis von 58 Quadratkilometern war von einem dichten Leichentuch grauer Asche bedeckt; in den Straßen und Ruinen der Stadt dampften heiße Schlammmassen, untermischt mit größeren und kleineren Gesteinsbrocken, welche die Glutwolke im Vorüberziehen daraus ausgeschüttet hatte. Das Meer war in heftiger Aufwallung, und eine große barometrische Depression war entstanden.

Mit einer Katze, welche die Maus beschleicht, hat man die Glutwolke des Mont Pelée verglichen, der so innerhalb weniger Minuten 28 000 Lebendige zum Opfer gefallen sind, eine menschliche Hekatombe, sagt Lacroix, wie sie wohl nur selten in so kurzer Zeit zustande gekommen sein dürfte.

Die Temperatur der Glutwolken ist eine sehr hohe gewesen; nach den auf sehr sorgfältigen Beobachtungen fußenden Berechnungen von Lacroix betrug sie in dem Augenblick, in dem die Glutwolken aus dem Berg heraustraten, über 1000 Grad Celsius.”


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