Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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107. Die Lenormand

Quelle: Karl Kiesewetter: »Geschichte des neueren Okkultismus«. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig, 1891. Z.

Unter den Wahrsagerinnen aller Zeiten ragt als eine ganz besondere Erscheinung Marie Anne Lenormand, die Sibylle aus der Rue Touron, hervor, die in einer der größten Epochen menschlicher Geschichte lebte, nämlich zur Zeit der französischen Revolution und des Auftretens Napoleons. Sie blieb von keinem der großen Ereignisse unberührt, ja man kann sagen, daß sie einen nicht unwesentlichen Einfluß darauf geübt hat. Denn die größten und höchstgestellten Männer Europas pflegten bei ihrer Anwesenheit in Paris ihr Kabinett aufzusuchen.

Die Lenormand wurde im Jahre 1772 zu Alençon geboren und im Kloster der Benediktinerinnen erzogen. Schon mit sieben Jahren machte sie eine zutreffende Prophezeiung. Als nämlich der Stuhl der Äbtissin des Klosters leer war, sagte sie ganz genau voraus, wer die neue Würdenträgerin sein würde. Im Jahre 1789 soll sie bereits den Zusammenbruch der Monarchie mit allen seinen Folgen und die entsetzlichen Ereignisse der Revolution vorausgesagt haben. Den Schreckensmännern Robespierre, St. Just und Marat verkündete sie ihr tragisches Schicksal. Murat sagte sie voraus, daß er König werden, aber ein blutiges Ende finden würde.

Der späteren Gemahlin Bonapartes, Josephine Beauharnais, prophezeite sie den Tod ihres ersten Gatten und die Vermählung mit einem Soldaten, der zu den höchsten Würden aufsteigen werde. Josephine wurde durch diese Voraussage umsomehr ergriffen, als ihr schon vor Jahren auf der Insel Martinique von der Negerin Euphemia David geweissagt worden war, daß sie einstmals die Kaiserkrone tragen werde.

Ihre glänzendste Zeit hatte die Lenormand im Jahre 1813, als die siegreichen Verbündeten Paris zum ersten Mal besetzten. Damals suchte Zar Alexander I. sie auf, und auch der zurückhaltende Friedrich Wilhelm III. soll inkognito bei ihr gewesen sein.

Unter den vielen zutreffenden Prophezeiungen der Lenormand, die vollkommen verbürgt sind, ist besonders eine erstaunlich, die ganz genau und in der schmerzlichsten Weise in Erfüllung ging. Der Königlich Westfälische Minister von Malchus erzählt sie in seinen Memoiren:

„Die Gräfin Morio hatte vor ihrer Bekanntschaft mit ihrem nachherigen Mann Mlle. Lenormand um ihr Schicksal befragt, und diese hatte ihr unter anderem gesagt, sie werde dreimal nacheinander verehelicht werden. Das erste Mal heirate sie einen Mann, den sie und der sie jetzt nicht kenne. Durch diesen mache sie ein großes Glück und erhalte alles, was sie vernünftigerweise wünschen 142 könne. Dann wenn sie recht glücklich zu sein glaube, ja wenn selbst ihr höchster Wunsch, Mutter zu werden, erfüllt sei, so komme bald nach einer großen Feuersbrunst ein sehr vornehmer Besuch zu ihr ins Haus; nicht lange darauf aber werde ihr Mann gewaltsam getötet werden.”

Malchus kannte den Grafen Morio und hatte öfter mit ihm zu arbeiten. Er fand, daß der Graf, wenn er länger als eine Stunde von seiner Frau entfernt sein mußte, alsbald ängstlich wurde und auszubrechen versuchte, um wieder nach Hause zu kommen.

„Als ich ihn wieder etwas lang aufhalten mußte, drang er in mich, abzubrechen und bat mich, ihn zu begleiten, damit ich selbst die Angst seiner Frau sehen und seine Verlegenheit deuten möchte. Ich erfüllte seinen Wunsch und fand seine Frau in großer Angst wegen ihres Manns. Als sie erfahren hatte, daß dieser mir alles Dahingehörige mitgeteilt hatte, bestätigte sie es und fügte hinzu: »Soll ich nicht für das Leben meines Manns zittern, da alles Andere bis dahin auf das Genaueste eingetroffen ist. Ich kannte ihn nicht und er mich nicht. Ich habe durch meine Verheiratung mit ihm ein großes Glück gemacht, und mir fehlt jetzt garnichts, was ich vernünftigerweise wünschen könnte. Ich habe sogar die Freude, bald Mutter zu werden, und bin meiner Niederkunft nahe. Die große Feuersbrunst, der Schloßbrand, ist leider vorüber; der sehr vornehme Besuch ist nicht ausgeblieben, denn der König ist zu uns her nach Bellevue gezogen, und wir haben ihm mehrere unserer Zimmer einräumen müssen; ich schließe aus allem folglich mit Zittern, daß der gewaltsame Tod meines guten Manns sehr nahe ist.«

Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und versicherte sie, daß ihr Mann bei mir wenigstens vollkommen sicher sei, daß ich auch nur noch eine, freilich aber etwas lange Zusammenkunft mit ihm haben werde.

An einem der nächsten Tage war Morio noch um elf Uhr bei mir und ritt dann mit dem König aus. Beim Zurückkommen sah ich Beide an meinem Haus vorbeireiten. Sie ritten nach dem Marstall, wo Morio dem König Verschiedenes auseinandersetzte, während die Gräfin schon in Todesangst war, ja sogar deswegen hatte zu Bett gebracht werden müssen.

Nach einer kleinen Weile reitet der König nach Haus. Morio bleibt noch da. Plötzlich fällt ein Schuß! Die Gräfin hört ihn, springt wie außer sich aus dem Bett und schreit: »Das ist mein Mann, er ist erschossen!«

Leider war es so. Der edle Morio war durch einen französischen Fahnenschmied, dem seiner Liederlichkeit wegen ein Deutscher vorgezogen werden mußte, boshafter Weise erschossen worden.” 143


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