Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Wunder der Tierwelt

52. Die denkenden Pferde von Elberfeld

Quelle: Zeitschrift »Tierseele«. Verlag von Emil Eisele, Bonn, 1913.

Bei der Betrachtung der Elberfelder Phänomene wollen wir uns bemühen, jede Parteinahme – wenn auch nicht jedes Urteil – auszuschalten; das Wort sei daher zuerst den andern erteilt, die mit dem Gewicht ihrer Namen für ihre Beobachtungen eintreten.

Eine mächtige Literatur im Format einer ganzen Bibliothek bietet sich uns zur Auswahl; schon das bloße Verzeichnis der einschlägigen Bücher, Schriften, Abhandlungen, Artikel in gelehrten und ungelehrten Zeitungen ist unübersehbar. Die Beschränkung auf ganz kurze Stichproben erscheint somit unabweisbar.

Wir folgen zunächst den Spuren eines Berichts in den »Archives de Psychologie«, nach der deutschen Übersetzung der »Tierseele«, Zeitschrift für vergleichende Seelenkunde, Bonn 1913. Sein Verfasser ist Ed. Claparède, Professor an der Universität zu Genf. Man beachte also, daß wo im Folgenden die Worte »wir«, »ich«, »uns« auftreten, diese Fürwörter durchaus auf die Person des Professors Claparède zu beziehen sind:

Der Unterricht der beiden Hengste Zarif und Muhammed begann mit einer Zeitdauer von 1½ bis 2 Stunden für jedes Tier. Schon nach Verlauf von drei Tagen konnten sie die ersten auf die Tafel geschriebenen Zahlen 1, 2, 3 erkennen und berührten die genannte Ziffer mit dem Mund. Es handelt sich hierbei übrigens nur um einfache Assoziationen, wie man sie bei dressierten Tieren antrifft und die keine Verstandesübung voraussetzen. Aber folgendes fällt »uns« sofort auf: nach 10 Tagen konnte Muhammed bis 4 zählen. Einige Tage später erklärte man ihm die Zehner, die er mit dem linken Fuß treten müsse, da der rechte für die Einer bestimmt sei. Und am 14. November 1908 führte Muhammed eine ganze Reihe einfacher Additionen richtig aus: 1+3, 2+5 usw., sogar Subtraktionen wie 8–3. Am 18. November ging man zur Multiplikation und Division über, am 21. zu den Brüchen und zur Addition von Brüchen. Im Dezember lehrte man ihn Französisch, und er beantwortete ebensogut französisch wie deutsch gestellte Reihenaufgaben. Im darauf folgenden Mai konnte 73 Muhammed Quadrat und Kubikwurzeln ausziehen und kleine Aufgaben folgender Art lösen:

Im Februar 1909 beginnt das Lesen und Buchstabieren.

Dieses Buchstabieren geschieht mittels eines Alphabets, in dem jeder Buchstabe oder Doppellaut in einem rechteckigen Schema mit einer Zahl versehen ist.

Das Pferd buchstabiert, indem es mit dem Huf die dem gewünschten Buchstaben entsprechende Zahl klopft. Dieses Verfahren befähigte Zarif, nach vier Monaten aus eigenem Antrieb Wörter zu buchstabieren, die man ihm vorspricht, und die er noch nie geschrieben gesehen hat. Es wird immer merkwürdiger! Diesmal dringen wir weiter in den Geisteszustand des Pferds vor, da wir aus dem Buchstabieren darüber Aufschluß erhalten, wie es die Buchstaben vereinigt, um sie mit den gehörten Lauten in Einklang zu bringen. So wird das ihnen vorgesprochene Wort »Pferd« an verschiedenen Tagen in folgenden Formen buchstabiert:

Muhammed: bfert, bfrt, färd, frt, faärt, faert, färb, fpferd, pärd, ppverd, pfer, tferd, fed . . .

Zarif: bferd, färed, fferwt, fvert, pfert, bffet, fdaerp usw.

Für das Wort Zucker finden wir: zkr, zukr, zuqr, czukr, sucr, uzker, zuker, zzzucher usw.

Muhammed schreibt seinen Namen: maemuaämt, muahmet, muamät; Zaris den seinigen: tsarem, zarif, sfrai, zuarif, zuruf.

Alles das ist fast unglaublich und eröffnet ganz unerwartete Ausblicke.

Sitzungsbericht (stark gekürzt): Wir waren auf 10 Uhr vormittags gebeten. Die Sitzung fand in einer Art Remise statt, die zum Unterrichtsraum eingerichtet ist. Zarif wird hereingeführt.

Herr Krall, der Besitzer der Hengste, zeigt uns, daß sein Schüler französisch versteht und schreibt auf die Tafel in phonetischer Schrift, frei von den Spitzfindigkeiten der Rechtschreibung: fät sero. Das Pferd führt mit dem Kopf das Zeichen der Verneinung aus, das in seiner Sprache »null« bedeutet; dann comptä dis; das Pferd klopft einmal mit dem linken Fuß, also richtige Antwort: 10. Man schreibt auf die Tafel zweiundzwanzig. Das Pferd irrt sich 74 diesmal zweimal beim Lesen dieser Zahl. Krall schreibt dann: adire
zweiundzwanzig
zu 11
Antwort 33. – – –

Zum Schluß wird Muhammed hereingeführt. Muhammed ist das Genie der Gesellschaft. Er ist viel lebhafter, viel aufgeweckter als Zarif.

Nachdem er mich dem Pferd höflich vorgestellt hat, beginnt Krall sogleich mit dem Ausziehen von Quadratwurzeln, der Spezialität Muhammeds. Er schreibt auf die Tafel Muhammed antwortet zuerst 52, dann auf den Zuruf »Falsch«: 42 (richtig). Krall schreibt dann das Zeichen + unter das ×-Zeichen dieser Aufgabe und bittet das Pferd, die beiden Wurzeln zu addieren; dieses antwortet sofort richtig 13.

Bei der zweiten und dritten Sitzung erhöhte sich die Schwierigkeit durch Kubik- und Biquadratwurzeln. Es gab falsche und richtige Antworten. Die Anwesenden kannten die Lösungen nicht zuvor. Bei den Versuchen der dritten Sitzung war das Pferd allein im Unterrichtsraum, und wir beobachteten seine Klopftritte durch ein kleines mit Glas verschlossenes Fenster in der Tür. Der Oberkörper des Pferds war durch eine Bretterwand verdeckt, sodaß die Zuschauer, dem Pferd selbst vollkommen unsichtbar, nur seine Füße sehen konnten. Unter anderm hatte Professor Claparède die Aufgabe gestellt ; Antwort des allein im Raum befindlichen Pferds in wenigen Sekunden: 28 (richtig.) – –

Im Anschluß an den Bericht des Schweizer Gelehrten geben wir einige Zeilen aus dem Gutachten des Dr. H. Craemer, Professors an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim-Stuttgart:

. . . Nie habe ich etwas gelesen, was mich derart gefesselt, ja geradezu erschüttert hat, wie das Buch des Manns, der den Namen seiner Vaterstadt Elberfeld über den Erdball trägt . . . Und ich fuhr sofort nach Elberfeld, um durch eigenen Augenschein die Eindrücke nachzuprüfen, die ich beim Lesen des Buchs erhalten . . .

An der Tafel stehen Ziffern, und zwar in verschiedenen Farben, die der Hengst Zarif zunächst ganz richtig unterscheidet. Auf den Befehl, die zwei rechtsstehenden Zahlen zu nennen, gibt er eine unerwartete Antwort. Falsch heißt es, doch Zarif bleibt bei seiner Meinung. Da sehe ich plötzlich, daß etwas weiter rechts, auf dem Fernsprecher, in gleicher Höhe, noch ein Täfelchen mit der Zahl 5 aus Zufall stehen geblieben ist. Diese hat der Hengst mitgezählt, und bei seiner 75 Auffassung der Frage war er subjektiv völlig im Recht. Um Suggestion oder Dressur konnte es sich hier also nicht handeln, denn wir alle hatten übereinstimmend eine andere Lösung erwartet, und Zarif war auf das vermeintliche Falsch seiner Antwort noch besonders aufmerksam gemacht worden.

Die Quadratwurzel aus 12321, die Heer Krall auf meinen leise geäußerten Wunsch an die Tafel schrieb, beantwortete Zarif erst falsch mit 112, dann sofort richtig mit 111. Ohne daß wir die Lösung kannten, wurde ferner von einem andern Besucher, den ich selbst Herrn Krall erst vorgestellt hatte, die Aufgabe an die Tafel geschrieben und zunächst undeutlich, dann aber klar und richtig mit 13 beantwortet . . .

Herr Professor Edinger, eine der hervorragendsten Autoritäten auf dem Gebiet der Erforschung des Gehirns, hat in der »Frankfurter Zeitung« die Tatsache des selbständigen Denkens der Pferde bejaht, und Herr Professor Besredka, der Direktor des weltberühmten Instituts Pasteur in Paris, äußerte sich wörtlich: »Ich bin erstaunt über die Genauigkeit, mit der diese Pferde auf Fragen antworten, für die ein Mensch mehr Zeit gebraucht hätte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Pferde vernünftig denken und rechnen (raisonnent et calculent).« – – –

Zarif und Muhammed haben übrigens in einem kleineren Vierbeiner scharfen Wettbewerb erfahren. Hier einige Urteile über diesen Konkurrenten.

Dr. Karl Gruber, Privatdozent (München): Diese Bedingung (persönliche Prüfung des Phänomens) konnte erfüllt werden durch einen Besuch beim denkenden Hund »Rolf« der Frau Paula Moekel in Mannheim. Ich war imstande, die kritischen Untersuchungsmethoden, ohne deren Verwendung man als gewissenhafter Forscher kein abschließendes Urteil abgeben darf, in vollem Maß anzuwenden. Mitteilungen über die ganz eminenten Leistungen des Hunds finden wir an anderen Orten, im »Zoologischen Anzeiger«, in der Zeitschrift »Tierseele«, den »Mitteilungen der Gesellschaft für Tierpsychologie« usw. Meine Protokolle berechtigen mich zu der Behauptung, daß Rolf ein hoch entwickeltes, selbständiges Denkvermögen besitzt, denn er ist nicht nur imstande die schwierigsten Rechenaufgaben zu lösen, sondern mittels des Klopfalphabets vermag er auf die vielfältigsten Fragen Antwort zu geben, spontan, aus sich heraus Wünsche zu äußern oder Fragen zu stellen, Bilder zu erklären usw.

Auszug aus den von Dr. Gruber genau protokollierten Sitzungsergebnissen: Der Name des Besuchers wurde genannt. Frage: Wie heißt der Herr? Rolf antwortet: grubr. – Ein eben skizzierter Vogel, gezeichnet mit Blau- und Rotstift wird ihm vorgehalten, Rolf: fogl asd blau fans rod brusd gobf (Vogel 76 Ast blau Schwanz rot Brust Kopf). In einem Bilderbuch, das er nie zuvor gesehen, das auch Rolfs Herrin nicht sehen kann, zeige ich zwei fliegende Schwalben. Rolf: 2 swalbn flign.

Ein anderer Beobachter, Dr. William Mackenzie (Genua), hat dem erstaunlichen Tier, mit dem er lange Zeit experimentierte, eine besondere, umfangreiche Schrift gewidmet. Die Versuche wurden so angestellt, daß jede bewußte oder unbewußte Verbindung zwischen dem Hund und den Anwesenden (etwa durch Spiegelung) völlig ausgeschlossen waren. Eine sinnreiche Anordnung bewirkte, daß sogar der Experimentator die an den Hund zu richtende Bild-Frage nicht kannte. Nur dieser selbst vermochte die Karten oder Bilder zu sehen, die er erläutern sollte.

Frage: eine Ansichtskarte mit einem Dachshund. Antwort: »dgl« (degel = Teckel).

Ergänzungsfragen: »Sehr gut. Bist du auch ein Teckel?« – »hund«.

»Ja, aber der Teckel ist doch auch ein Hund, ist kein Unterschied zwischen dir und dem Teckel?« – Antwort: »andr fus«. Usw.

Wir müßten den verfügbaren Raum erheblich überschreiten, wenn wir weiter auf die in Fülle vorliegenden Zeugnisse eingehen wollten. Natürlich fehlen auch nicht die Gegenstimmen, die von »Täuschung«, »Selbsttäuschung«, »Instinkt«, »Dressur«, »optischen Hilfen« zu vermelden wissen. Lebten die Philosophen der Vorzeit heute, so fänden sie ein unübersehbares Debattierfeld. Cicero, Descartes, vielleicht auch Aristoteles würden sich auf die Seite der Gegner schlagen, Plutarch, Plotin und namentlich Plinius würden die neuen Tierwunder mit froher Genugtuung als Stützen ihrer eigenen Lehrmeinung begrüßen. Aber vielleicht käme selbst Descartes auf Grund vorerwähnter Versuche zu dem Verdacht, daß mit dem Wort »Dressur« das Rätsel nur auf ein anderes Feld geschoben, indes nicht gelöst werden kann. Die Stärke des Tierintellekts, auf den sich solche Dressur gründen könnte, würde gegenüber der landläufigen Auffassung vom beschränkten Tierverstand nur ein neues Rätsel bedeuten. Und schließlich bliebe nur ein Ausweg: anerkennen, daß die Tierpsychologie sich heute überhaupt erst in den vorbereitenden Anfängen befindet und deshalb auf verbreiterter Grundlage weiter experimentieren muß, anstatt sich in Wortgefechten zu erschöpfen.

Im Grunde genommen steht die Frage: Instinkt? Überlegung? nicht höher als die vormals in Scholastikerkreisen gewälzte: ist die Fledermaus ein Vogel oder nicht? Und als Vorbedingung weiterer Erörterung sollte noch immer gelten, was John Locke dazu bemerkte: man möge sorgfältig prüfen, ob nicht der größte Teil solcher Streitigkeiten einen rein verbalen Charakter trage, und ob nichts wenn die Ausdrücke genau definiert und in ihrer Bedeutung auf bestimmte 77 einfache Ideen, die sie vertreten oder vertreten sollten, zurückgeführt würden, jene Streitigkeiten von selbst aufhören und unverzüglich verschwinden müßten.

Gänzlich und schroffstens abzuwehren aber ist die Annahme, daß bei jenen Versuchen, zumal den Elberfeldern, eine irgendwie beabsichtigte Täuschung mitgewirkt haben könnte. Wie dürfte sich ein solcher Verdacht hervorwagen, nachdem Professor Wilhelm Ostwald, eine Leuchte deutscher Wissenschaft, folgendes bekannt hat: »Während Darwin den ununterbrochenen biologischen Zusammenhang zwischen den allerniedrigsten Organismen und dem Menschen gezeigt und die alte Sage, daß der Mensch schon körperlich etwas wesentlich anderes sei als das Tier, dadurch endgiltig zu Fall gebracht hat, liegt hier (bei den Elberfelder Begebenheiten und dem Krallschen Buch) ein ernsthafter und in höchstem Maß beachtenswerter Versuch vor, den gleichen Zusammenhang auf dem geistigen Gebiet nachzuweisen . . . Die Versuche sind von andern zum Teil kontrolliert, zum Teil mit denselben Tieren fortgesetzt worden, und dem Berichterstatter hat einer von den Mitarbeitern, Professor Gehrike von der Physikalisch-technischen Reichsanstalt, brieflich die Versicherung gegeben, daß die berichteten Tatsachen vollkommen der Wahrheit entsprechen


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