Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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62. Die Odyssee des Leberegels

Quelle: Wilhelm Bölsche: »Das Liebesleben in der Natur«, erste Folge. Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1901.

Romantischer noch und grausiger zugleich als die Entwicklungsgeschichte des Bandwurms (siehe den vorhergehenden Abschnitt) ist der Werdegang des Leberegels. Das ist ein kleiner Schmarotzer, der sich gern in der Gallenblase des Schafs ansiedelt, also in jenem Teil der Leber, der die erzeugte Gallenflüssigkeit in den Darmkanal entleert. Der Leberegel ist ein Plattwurm, der Darm und Mund besitzt und sich von Leberblut nährt. Er wird dadurch dem bergenden Schaf gefährlich. Denn wenn viele Leberegel in der Gallenblase sitzen, so zerstören sie die Wände ihres Gehäuses, und das Schaf geht an Leberfäule ein.

So lange aber der Wirt noch lebt, nähren sich die Egelchen gut und vergnügt, und da sie alle zweigeschlechtlich sind, so können sie sich ebenfalls gegenseitig befruchten. Wiederum entstehen Millionen von einzelnen Eiern, die in den Darmkanal hineinfallen und von dort nach außen entleert werden. Der Regen wäscht dann die Wiesen ab, auf denen Schafe geweidet haben, und so gelangen die Eier ins Wasser. Dort wird die Eischale gesprengt, und aus jeder schlüpft eine Larve aus. Sie vermag zunächst mit Hilfe von Wimperhaaren frei herumzuschwimmen, dann aber verliert sie das Wimperkleid, taucht unter und kriecht schließlich in den Leib einer der in großer Zahl vorhandenen Teichschnecken. Dort drinnen verkapselt sich die Larve wieder zur Finne.

Doch damit ist hier noch nicht wie beim Bandwurm das Ende erreicht, denn bekanntlich pflegen Schafe keine Teichschnecken zu fressen, und in ein Schaf muß der Leberegel doch wieder gelangen, um gedeihen zu können. Der romantische Weg geht also weiter.

Und es geschieht etwas Schreckliches.

Im Innern der Finne beginnt es zu gären und zu wachsen. Es entstehen in ihrem Innern Tierchen von Schlauchform. Bald füllen sie die ganze 90 Mutterfinne aus und diese muß absterben. Es bleibt von ihr nichts als eine straff gespannte Haut übrig, welche die Kinder birgt. Aber auch in diesen regt es sich schon wieder. Auch ihnen wachsen in ihrem Innern Junge, kleinste Egellärvchen. Sie mehren sich und quellen, bis auch ihre Mutterwürmer tote Deckhaut sind. Diese Kleinen dritten Grads, die also schon die Urenkel des ursprünglichen Leberegels sind, besitzen an ihrem Kopfende einen Bohrstachel, mit dem sie alle deckenden Häute durchbohren und so zuerst in den Leib der bergenden Teichschnecke, dann sogar ins Wasser hinausgelangen können.

Zunächst müssen sie hier drin nun warten. Aber eines schönen Tags gelangt das Wasser bei einer Überschwemmung auf eine Wiese. Da siedelt sich das Lärvchen schnell an eine Pflanze an, wirft sein Schwänzchen ab und entwickelt aus einer Drüse Schleim, der, rings herum trocknend, rasch eine Schutzhaut um das Tierchen bildet. So wohl umhegt, harrt es hier nun, bis ein Schaf kommt und die Pflanze frißt. Schnell wird dann die Galle des Schafs aufgesucht – Odysseus hat Ithaka erreicht, Schluß!


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