Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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195. In höchster Höhe

Quelle: Schriften der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig, neue Folge, 11. Band, 1903. Z.

Wie der Mensch nur die alleräußerste Schale der Erdkugel kennt, so ist er auch noch nicht sehr weit in den Luftozean eingedrungen. Drunten ist es die rasch ansteigende Hitze, die bald ein weiteres Vordringen unmöglich macht, droben die Kälte und vor allem das Absinken des Luftdrucks. Unaufhörlich sind jedoch trotzdem Versuche unternommen worden, soweit wie möglich in das Luftmeer hinaufzugelangen, weil die zahlreichen wechselnden Vorgänge, die sich dort vollziehen, wissenschaftlich von außerordentlichem Interesse sind.

Von unbemannten Ballons, die nur Registriervorrichtungen mit sich nahmen, ist bereits die Höhe von 20 000 Metern überschritten worden. Daß es für den Menschen dort droben keine Lebensmöglichkeit mehr gibt, geht schon daraus hervor, daß selbst über dem Äquator in dieser Lage eine Temperatur von -84 Grad gemessen worden ist.

Die größte von Menschen bisher erreichte Höhe beträgt 10500 Meter. 274 Zwei deutsche Gelehrte, die Professoren Berson und Süring waren es, die in kühnster Aufopferung ihr Leben für die Wissenschaft einsetzten. Am 31. Juli 1901 unternahmen sie die denkwürdige Hochfahrt, welche sie in eine höhere Region emportrug, als sie jemals vorher und nachher von einem Menschen erreicht worden ist. Sie benutzten hierzu einen sehr großen Ballon, der den Namen »Preußen« führte und 8400 Kubikmeter Gas fassen konnte. Nach einem Vortrag Sürings sei hier das folgende über diese wunderbarste aller Reisen mitgeteilt:

„Um 2¾ Uhr – vier Stunden nach dem Aufstieg – bei 9000 Meter und -30 Grad hatten wir das stolze Bewußtsein, höher als alle Erhebungen der Erde zu sein, aber es machte wenig Eindruck. Schematisch wurde das vorgeschriebene Arbeitspensum erledigt; zur Unterhaltung spürte keiner von uns Lust; es war auch schwer, sich bei den über die Ohren gezogenen Pelzkappen verständlich zu machen.

Eine Verschlechterung des Befindens war noch immer nicht festzustellen, aber es wurde immer schwerer, die Müdigkeit zu bekämpfen. Mir fielen sogar einmal die Augen zu, aber, wieder aufgewacht, fühlte ich mich vollkommen frisch, und wir führten zwischen 9000 und 10 000 Meter in Abständen von zirka sechs Minuten noch vier Beobachtungsreihen aus. Die Temperatur betrug hier zwischen 30 und 40 Grad Kälte.

Ein anscheinend nebensächlicher Umstand beförderte nun vielleicht die Abnahme unserer Kräfte: das registrierende Barometer war eingefroren, sowohl das Uhrwerk wie die Tinte. Berson bemühte sich – wie vorauszusehen war, vergebens – die Apparate wieder in Ordnung zu bringen; ich hatte in der Zwischenzeit nichts zu tun; meine Müdigkeit wurde daher wieder größer. Nachdem diese Versuche aufgegeben waren, machten wir noch eine gemeinschaftliche Ablesung in 10 230 Meter Höhe. Bemerkenswert – weil abweichend von früheren Erfahrungen – ist die Sicherheit, man kann fast sagen Mühelosigkeit, mit welcher diese Beobachtung ausgeführt werden konnte . . .

Die Einstellung und Beobachtung des Quecksilberbarometers, welche eine ganz ruhige und etwas unbequeme Stellung verlangte, war exakt durchführbar; der Stand der Thermometer, welcher durch ein astronomisches Fernrohr, also mit umgekehrtem Bild, abgelesen wurde, war klar erkennbar, und das Beobachtungsprotokoll konnte von mir mit größerer Sauberkeit geführt werden als bei mancher anderen Fahrt. Der Grund für das Wohlbefinden waren offenbar die konsequent durchgeführte Sauerstoffatmung und der gute Schutz gegen die Kälte. Kein Wunder, daß man glaubte, noch viel mehr ertragen zu können! Und doch befand sich der Körper nicht mehr im normalen Gleichgewicht.

275 Über 10 250 Meter Höhe werden plötzlich die bis dahin so deutlich in der Erinnerung haftenden Vorgänge unklar; die Erinnerungen sind infolgedessen bei uns beiden scheinbar etwas abweichend. Zweifellos steht fest, daß Berson das Ventil zog und dadurch den Ballon zum Fallen brachte. Kurz vorher hatte er mit schnellem Blick am Barometer einen Luftdruck von 202 Millimetern – das entspricht einer Höhe von 10 500 Metern – abgelesen. Diese Höhe ist somit sicher festgestellt. Naturgemäß hat das Ventilziehen nicht sofort gewirkt, um so weniger, weil unmittelbar vorher Ballast geworfen war. Der Ballon ist also noch gestiegen – wir nehmen aus verschiedenen Gründen an bis zu etwa 10 800 Metern – aber das ist eben nur eine Schätzung, keine Tatsache. Berson zog das Ventil, weil er auf Anruf und Schütteln von mir keine Antwort erhielt und daher eine Katastrophe befürchtete; das Ventilziehen verbrauchte aber den Rest seiner Kräfte, er brach erschöpft zusammen und fiel in eine lange, schwere Ohnmacht.

Meine Erinnerungen besagen, daß ich meinen Kollegen anscheinend schlafend in sitzender Stellung vorfand, als ich – anscheinend noch ganz frisch – mich nach ihm umsah, um zu einer neuen Beobachtungsreihe aufzufordern. Schütteln war vergeblich; auch als ich ihm meinen Atmungsschlauch in den Mund steckte, um ihm mehr Sauerstoff zuzuführen, blieb er regungslos. Ich wollte daher das Ventil ziehen, dessen Leine für mich ziemlich schwer zu erreichen war, mußte aber wieder umkehren, um zunächst meinen bei Berson zurückgelassenen Atmungsschlauch zu holen. Mit der noch ganz deutlichen Erinnerung, daß die Kräfte rapide abnahmen, ergriff ich auch noch den Schlauch, aber dann schwand das Bewußtsein. Ob das vor oder nach Bersons Ventilziehen war, ist ziemlich nebensächlich; jedenfalls waren wir schließlich beide ohnmächtig.

Indessen fiel der Ballon, und ziemlich gleichzeitig, aber erst nach einer halben bis dreiviertel Stunde, erwachten wir in zirka 6000 Metern Höhe aus der Ohnmacht, beziehungsweise dem daran sich anschließenden Schlaf. Jetzt war das Befinden ein ganz anderes als vorher: nichts von anscheinender Frische, sondern zunächst Atemnot und Angstgefühl, die allerdings nach starker Sauerstoffatmung bald wieder verschwanden, dann aber eine bleierne Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schlaffheit, eine Art Seekrankheit oder richtiger Luftkrankheit, die auch ihren Tribut verlangte.

Es kostete eine sehr bedeutende Überwindung, jetzt die notwendigsten Arbeiten zu tun, also vor allem den übermäßig schnellen Absturz des Ballons durch Sandwerfen zu verlangsamen, sich selbst aus den Pelzen herauszuwickeln, die Instrumente zu verpacken und dergleichen. Aber alles gelang; wir bekamen den Ballon vollkommen in unsere Gewalt und fuhren noch etwa zwei Stunden, bis 276 der Ballon ganz sanft auf ein abgeerntetes Feld aufsetzte. Wo wir waren, wußten wir vor der Landung nicht. Bis fast zu den größten Höhen hatten wir unsern Weg ziemlich genau verfolgt; wir waren durchschnittlich nach Süden bis Südsüdwest gefahren und mußten, wenn wir diese Richtung beibehielten, etwa bei Wittenberg über die Elbe kommen.

Als wir aus der Ohnmacht erwachten, sahen wir eine ganz veränderte Landschaft; viel Wasser, besonders Seen waren zu erblicken, aber wir suchten vergebens die Elbe. Wie sich nachher herausstellte, waren wir, im Gegensatz zu der schwachen Luftströmung bis 8000 Meter, darüber plötzlich in einen stürmischen Westwind geraten, der uns in einer Stunde etwa 100 Kilometer nach Ost versetzte. Wir gelangten also infolge dieser Richtungsänderung der oberen Luftströmungen nicht an die Elbe, sondern nach dem Spreewald und landeten bei Briesen unweit von Kottbus.”

Süring glaubt, daß die größte Höhe, die überhaupt in einem offenen Ballonkorb erreicht werden kann, trotz Sauerstoffatmung und aller sonstigen Vorkehrungen 12 000 Meter sein dürfte. Wer also den von den beiden deutschen Gelehrten bisher aufgestellten Höhenrekord wesentlich schlagen will, wird wohl eine luftdicht verschlossene Kammer an den Ballon hängen müssen, die nach Art einer Taucherglocke ausgebildet ist.


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