Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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188. Äther-Orkan und Michelson-Versuch

Quelle: Henri Poincaré, Vortrag: »Die neue Mechanik«. Druck von G. Bernstein, Berlin, 1910.

Weitaus die meisten der ausschlaggebenden Experimente sind durch Intuition geliefert worden. Mag auch bei manchen der Zufall mitgewirkt haben, die Überraschung am Schluß hervorgetreten sein – am Anfang stand fast durchweg die Erwartung eines bestimmten Ergebnisses, eine Hoffnung, die nicht allzuweit ablag von der Antwort, welche die befragte Natur nachher erteilte. Die Forscher kannten, nach einem verblüffenden Wort von Gauß, das Resultat, sie wußten nur nicht im voraus, auf welchem Weg sie es erreichen würden. Ihr Experimentieren war ihr Wegsuchen. Die schönen Versuche der reinen Mechanik und der Elektrizität von Galilei bis Faraday sind auf diese Weise zustande gekommen.

Hinsichtlich der Folgenschwere kann es der berühmte Versuch des Professors Michelson mit den großartigsten aller Zeiten aufnehmen. Er gab den stärksten Anlaß zur Umgestaltung des Weltbilds durch die moderne Relativitäts-Theorie. Aber für sich betrachtet stellt er ein Abenteuer dar, zu dem die Geschichte der Wissenschaften kaum ein Seitenstück liefert. Auch er begann mit einer Erwartung und rechnete auf eine positive Erfüllung. Was eintrat war das genaue Gegenteil. Die Natur gab Antwort in der denkbar schroffsten Absage. Aber gerade dieses ungeheure Mißverhältnis wurde welthistorisch für die Wissenschaft und erhob das Experiment zum höchsten Rang.

Reden wir zunächst von der Erwartung, die sich – gemeinverständlich, also ganz ohne Fachstrenge, ausgedrückt – auf folgende Betrachtung gründete:

Man nennt die gleichmäßige Fortbewegung der Erde wie der anderen 258 Himmelskörper im unendlichen Raum die »Translation«. Das ganze Sonnensystem bewegt sich so in der Richtung zum Sternbild der Leier. Während dieser Translation größten Stils ändert sich aber, durch Umläufe, die Lage der Körper innerhalb des Systems, was für sie Verschiedenheiten der Stellung, der Richtung und Geschwindigkeit bewirkt.

Eine von der Sonne ausgesandte Licht-Botschaft braucht ungefähr 8 Minuten, um die Erde zu erreichen. Verfolgt nun die große Translation die Richtung Erde nach Sonne, so fliegen wir dieser Botschaft entgegen, müßten sie somit schneller erreichen als im entgegengesetzten Fall, wenn die Erde sich im räumlichen Vorsprung befindet, wenn also die Bewegung: Sonne nach Erde stattfindet, da dieser Vorgang eine Verzögerung in der Empfangnahme der Botschaft bewirken würde. Mit anderen Worten: die optischen Phänomene, wie sie sich innerhalb des ruhend gedachten Sonnensystems abspielen, müßten gestört werden, wenn zu den uns bekannten Bewegungen innerhalb dieses Systems noch jene große übergeordnete Translation hinzutritt.

Aber schon innerhalb des Systems müßte der Äther, als Lichtträger gedacht, sich durch Beschleunigung und Hemmung bemerklich machen. Denn die Erde besitzt als Sonnentrabant eine Eigengeschwindigkeit von 30 Kilometern in der Sekunde, streicht in diesem Tempo durch den Äther (dessen Existenz vorläufig vorausgesetzt) und passiert mithin einen starken Äther-Orkan, wie wir einen Luft-Orkan zu bestehen haben, wenn wir in einem offenen schnellfahrenden Auto dahinsausen. Freilich ist die Geschwindigkeit des Äther-Orkans im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit nicht sehr erheblich, nämlich trotz der an sich beträchtlichen 30 Sekundenkilometer nur 1:10 000. Aber die Instrumente, die wir mit Michelson zur Beobachtung aufstellen, sind so fein, daß sie eine Differenz in 259 Stärke von einem Zehntausendstel und weit darunter mit allergrößter Sicherheit aufdecken würden.

Senden wir nun von einem bestimmten Punkt der Erdoberfläche gleichzeitig Lichtstrahlen nach allen Richtungen, so gehen einige von ihnen direkt gegen den Äthersturm vor, andere bekommen nur einen Teil der Sturmwucht zu spüren, je nach der Richtung. Es ergeben sich also Förderungen und Hemmungen, und wenn zwei Lichtstrahlen genau entgegengesetzt laufen, so müßte eigentlich für sie die Förderung oder die Hemmung in ganz gleichen Beträgen auftreten.

Sendet man nun ein und denselben Lichtstrahl, durch Spiegelung, hin und zurück, so müßten sich für ihn Hemmung und Förderung in der Wirkung vollkommen aufheben. Denn er bekommt ja genau soviel Sturm wie Gegensturm, genau soviel Orkanhilfe wie Orkanbremsung. Die Gesamtzeit für den Doppelweg des Lichtstrahls müßte also unter allen Umständen dieselbe bleiben, ganz gleichgültig, mit welcher Wucht der Orkanstrom dahinbraust.

Und hier tritt das erste Wunder zu Tage; wohl gemerkt: noch vor dem Experiment. Ein Wunder, mit dem man sich anfreunden muß, um nur die Absicht des Experiments und die Erwartung, die ihm voraufgeht, zu verstehen.

Es ergibt sich nämlich aus Theorie und Berechnung in Übereinstimmung mit gewissen auf anderen Gebieten gewonnenen Erfahrungen:

Die Hemmung wirkt immer stärker, als die aus gleichem Ursprung und in gleicher Wucht erfließende Förderung. Es bleibt immer ein Überschuß zu Gunsten der Hemmung, ein ganz kleiner, aber noch genau meßbarer. Rechnete wir zuvor mit 1/10 000, so ist das Übergewicht der Hemmung mit ein Hundertmillionstes anzusetzen.

Das heißt: in diesem Verhältnis kommt der hin- und zurücklaufende Strahl bei Annahme des Äther-Orkans später an, als wenn dieser Orkan garnicht vorhanden wäre.

Das kann direkt sinnfällig gezeigt werden. Dr. Hans Witte, Dozent der Physik in Braunschweig, hat ein ausgezeichnetes Modell konstruiert und in seiner Schrift »Raum und Zeit im Lichte der neueren Physik« klar beschrieben, ein Modell, das jenen überraschenden Vorgang deutlich aufzeigt. Historisch genommen ist das Witte-Modell ein substantielles Abbild, im Zug unserer Betrachtung ein Vorläufer des Michelson-Versuchs. Schnüre, die über zwei dreifache Räder laufen, ersetzen in äußerst sinnreicher Anordnung die Lichtstrahlen. Die natürlichen Verhältnisse reduzieren sich hier auf ein bequem zu betrachtendes und sicher zu deutendes Minimum; die normale Lichtgeschwindigkeit wird im Witte-Modell 4 Zentimeter in der Minute, der Äther-Orkan kommt (durch die Wirkung der Radwellen) mit 1 Zentimeter in der Minute zum Ausdruck. Der Betrieb des 260 Modells zeigt in Übereinstimmung mit der Rechnung ohne die Möglichkeit eines Irrtums oder Widerspruchs:

Die Hemmung hat das Übergewicht! Und eben das war es, was Michelson am wirklichen Lichtstrahl konstatieren wollte; mit Zuhilfenahme der Spiegelung und der sogenannten Interferenzerscheinungen, die eine so exakte Beobachtung gestatten, daß jenes Übergewicht der Hemmung im Experiment herausspringen mußte.

Das war das Wesen seiner Erwartung. Der genial angelegte, in seiner Feinheit weit über die Anforderungen hinausgehende Versuch mußte die Erfüllung bringen.

Da trat das zweite Wunder in die Erscheinung: der gesuchte Effekt bliebe vollständig aus! Keine Wirkung des Ätherstroms, keine Wirkung der Translation, kein Übergewicht der Hemmung – – nichts!

Was aus diesem Nichts emporsteigen sollte war, im Namen der modernen Relativitätstheorie zusammengefaßt: das Primat der Lichtgeschwindigkeit als des entscheidenden Faktors im Weltgeschehen, die Umgestaltung der altklassischen Mechanik, die Vertiefung aller physikalischen Grundgesetze – ein neues wissenschaftliches Weltbild! (Siehe den folgenden Abschnitt.)


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