Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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231. Das Erwachen des Vesuv

Quelle: Dr. Hippolyt Haas: »Die vulkanischen Gewalten der Erde und ihre Erscheinungen«, 38. Bändchen der Sammlung »Wissenschaft und Bildung«. Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, 1909. Z.

Nach tausendjährigem Schlummer, als man seine vulkanische Natur bereits völlig vergessen hatte, trat der Vesuv im Jahre 79 n. Chr. plötzlich wieder in Tätigkeit. Es ist dies jener berühmte Ausbruch, der die Städte Pompeji und Herkulaneum verschüttete. Wir besitzen über den Vorgang einen authentischen Bericht in Gestalt von zwei Briefen, die der Neffe des großen römischen Geschichtsschreibers und Admirals Gajus Plinius, Plinius der Jüngere, der 322 spätere Freund des Kaisers Trajan, 27 Jahre nach der Katastrophe an Tazitus gerichtet hat. Nach der hieran anknüpfenden Darstellung von Haas hat sich das grauenvolle Wunder so zugetragen:

„Wir befinden uns am Kap Misenum bei Neapel, am 25. August im Jahre 79 unserer Zeitrechnung, nachmittags um 1 Uhr. Es ist ein heißer und schwüler Tag. Im Hafen draußen liegt das hier stationierte Geschwader der römischen Flotte vor Anker. In seiner nahe am Meer gelegenen Wohnung, einem geräumigen und vornehmen Landhaus, ist der stets emsige und niemals müßige Befehlshaber der Schiffe, Gajus Plinius Secundus der Ältere, trotz der glühenden Hitze mit gelehrten Studien beschäftigt.

Da tritt unerwartet seine bei ihm weilende Schwägerin ins Gemach. Sie bringt ihm seltsame Kunde. Von Osten her, so berichtet sie, ziehe eine dunkle Wolke von ebenso ungewöhnlicher Gestalt wie Größe herauf; er möge doch rasch hinauskommen, um das Wunderding mit eigenen Augen zu schauen. Der Admiral ruft nach seinen Sandalen und eilt dann unverzüglich zu einer benachbarten Anhöhe, von wo aus die Gegend gut zu überblicken ist.

Da bietet sich ihm ein seltsames und ganz neues Schauspiel. Jenseits von Neapel steigt aus dem Gipfel eines Bergs eine mächtige, baumstammartige Wolkenbildung wirbelnd hervor, nach obenhin in zahllose Äste sich ausbreitend, einer Riesenpinie vergleichbar, bald hell glänzend, bald schmutzig-fleckig von Aussehen. Kurz entschlossen befiehlt Plinius, ein schnellsegelndes Fahrzeug klarzumachen; dieses Wunder der Natur will der große Gelehrte möglichst genau aus nächster Nähe betrachten. . . . . .

Je näher die Fahrzeuge dem Vesuv kommen, umso gefahrdrohender gestaltet sich ihre Lage. Schon fällt Asche auf ihr Deck, die immer dichter und heißer wird, bald darauf folgt ein Hagel von Bimssteinbrocken und Schlacken. Ein Landen wird hier unmöglich; die vom Berge herabstürzenden Massen haben sich bis zum Meer hingewälzt und das Ufer unzugänglich gemacht. Da bedenkt sich der mutige Mann doch einen Augenblick und überlegt, ob er dem Drängen des Steuermanns, umzukehren, Folge leisten soll, oder nicht. Doch das Pflichtgefühl des römischen Admirals trägt den Sieg davon. »Fortuna«, so ruft er seinen angsterfüllten Seeleuten zu, »steht den Mutigen bei; setzt auf das Landgut des Pomponius bei Stabiae den Kurs!«

Glücklich erreichen die Fahrzeuge den dortigen Hafen. Indessen ist die Nacht herbeigekommen, doch auch die Vorgänge auf dem Vesuv haben merklich an Gewalt gewonnen. Hohe, im Dunkel der Nacht weithin leuchtende Feuergarben brechen aus seinem Gipfel hervor, dumpfes Getöse und Donnern dröhnt aus den Eingeweiden des Bergs, in großen Scharen drängen sich die flüchtigen 323 Bewohner der bedrohten Ortschaften durch die Straßen von Stabiae. Plinius versucht, den Verzweifelten Mut einzuflößen. . . . .

Aber die Menge der niederfallenden Aschen und Lapilli wird immer größer und größer. Bereits ist der Hof vor des Plinius Gemach in solcher Höhe davon angefüllt, daß ihn ein längeres Verweilen darin in die Gefahr brächte, verschüttet zu werden. Pomponius weckt seinen Freund. Man wägt die Gefahren gegeneinander ab, die Flucht ins Freie wird gewählt. Von auf den Kopf gebundenen Kissen einigermaßen geschützt, verlassen die Bewohner das schützende Dach. Obwohl der Tag heraufgedämmert sein mußte, herrscht doch noch größere Dunkelheit als in der finstersten Nacht. Beim Schein von Fackeln und Windlichtern sucht die flüchtige Schar das Ufer zu erreichen, um die Schiffe segelfertig zu machen. Aber das aufgeregte und wildbewegte Meer läßt auch das nicht zu.

Von großer Mattigkeit überwältigt legt sich Plinius auf ein ausgebreitetes Tuch und nimmt, von heftigem Durst gequält, mehrere Becher Wasser zu sich. Der immer stärker werdende Ausbruch von Flammen aus dem Gipfel des Bergs und ein erstickender Schwefelgeruch rauben der Mehrzahl der Flüchtlinge den letzten Rest von Mut; schreiend und wehklagend rennen sie davon, während der römische Admiral seine Kräfte noch einmal zusammennimmt und sich, auf zwei Sklaven gestützt, zu erheben versucht. Alsbald bricht er wieder zusammen; der schreckliche Schwefeldampf raubt ihm den Atem, und er gibt seinen Geist auf.

Drei Tage später, als die Sonne wieder scheinen kann, findet man seinen Leichnam unversehrt, im Aussehen mehr einem Schlafenden als einem Toten ähnlich.”


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