Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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19. Wunderkinder

Quellen: Alexander Moszkowski, Aufsatz: »Das Alterswunder« in der »Vossischen Zeitung« vom 12. 11. 1913. – Dr. Heinrich Klenz, Aufsatz: »Frühreife Gelehrte und Dichter« in der »Vossischen Zeitung« vom 6. 2. 1916.

Frühreife ist weniger selten, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. Erst die Besonderheit des Falls entscheidet über die Zugehörigkeit zum Wunder.

Ein höchst erstaunliches Phänomen früh erwachter Fähigkeiten war das Lübecker Wunderkind Christian Heinrich Heineken, das am 6. Februar 1721 geboren wurde. Schon als es zehn Monate zählte, kannte das Kind alle Gegenstände seiner Umgebung und wußte sie zu benennen. Es lernte schon vor Ablauf seines ersten Lebensjahrs unter Anleitung seines Lehrers die hauptsächlichsten Geschichten aus den fünf Büchern Mosis kennen und begann im fünfzehnten Monat das Studium der Weltgeschichte. Noch vor dem vollendeten dritten Lebensjahr kannte das Kind die dänische Geschichte, lernte bald darauf auch lateinisch und französisch sprechen, starb aber schon im fünften Lebensjahr, da eine so angestrengte Geistestätigkeit in zartem Alter rasch zu einem Verbrauch der Kräfte führen mußte.

Diesem unglücklichen, aber mit höchst erstaunlichen Fähigkeiten begabten Kind allenfalls an die Seite zu stellen ist der Knabe Johann Philipp Baratier, der 1721 in Schwabach geboren wurde. Sein Vater, der französischer Prediger war, begann mit dem Unterricht des Kinds in dessen zweitem Lebensjahr und fing mit der französischen Sprache an. Nachdem der Kleine so auch Deutsch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und andere orientalische Sprachen gelernt, sowie Philosophie, Mathematik und die Kirchenväter studiert hatte, schrieb er mit dreizehn Jahren eine Widerlegung des Buchs von Samuel Krel, in dem die Gottheit Christi angegriffen war, und wurde 1735, also vierzehn Jahre alt, von den Professoren in Halle veranlaßt, die Magisterwürde anzunehmen. Nun trieb der junge Baratier vier Jahre lang juristische Studien, erlag aber 1740 einer Knochenmarkentzündung.

Das Wunderkind aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der spätere Hallesche Rechtslehrer und Danteforscher Karl Witte, der 1800 geboren wurde, erinnert an Baratier, hat aber sein Leben auf beinahe 83 Jahre gebracht. Er konnte schon mit vier Jahren Lateinisch reden, bezog, als er noch nicht 9½ Jahre alt war, die Universität und erwarb mit 14 Jahren in Gießen die philosophische Doktorwürde.

Juliane Peutinger hielt in ihrem vierten Lebensjahr, 1504, vor Kaiser Maximilian I. in Augsburg eine lateinische Rede. Ein gelehrtes Wunderkind, das aber nur 11 Jahre und 1½ Monate alt wurde, war auch Magdalena Margaretha Tausch (2. Mai 1720 bis 17. Juni 1731), des Lübecker Stadtphysikus Tochter. Sie legte, nach Jöcher, „in der zarten Jugend die Fundamente 27 in der griechischen und französischen Sprache, und in der Latinität machte sie solche Fortschritte, daß sie sowohl geist- als weltliche Bücher bei dem Lesen gleich Lateinisch hersagen konnte.« Auch in der Arithmetik und in der Geographie soll sie es weit gebracht haben. »Die Osteologie (Knochenbaulehre) des menschlichen Körpers erklärte sie nicht nur mit allen Verbindungen an einem Skelett, so sie jederzeit um ihr Bett hatte, sondern wußte sie alle aus dem Gedächtnis herzusagen. 1½ Jahre vor ihrem Tod hielt sie auf der Bibliothek zu Lübeck bei ¾ Stunden lang eine Rede von der Tugend. So hurtig und fähig aber ihr Gemüt war, so zärtlich und schwächlich war der Leib. Sie erduldete acht Monate lang eine schwere Krankheit an der Brust und beklagte bei ihrer Schwachheit nichts mehr, als daß sie ihre Studien nicht fortsetzen konnte.”

Pascal fand als Knabe die Elemente der euklidischen Geometrie; die Holzdiele seiner Kinderstube und ein Stück Kreide ersetzten ihm Anleitung und Lehrer. Als Siebzehnjähriger schrieb er eine Abhandlung über die Kegelschnitte. Gauß verfaßte einen Teil der Untersuchungen aus seinem späteren berühmten Werk »Disquisitiones arithmeticae« als er noch Schüler war und über die leichtesten Elemente der Mathematik unterrichtet wurde. Alexis Clairault, der später im Jahr 1736 mit Maupertuis die große Meridianmessung in Lappland ausführte, las im zwölften Lebensjahr der Akademie der Wissenschaften in Paris eine Abhandlung über neue Kurven vor und wurde als Achtzehnjähriger Mitglied dieser Akademie. Lord Kelvin, der berühmte englische Physiker, bezog im Alter von zehn Jahren die Universität Glasgow, löste dort als Knabe eine Preisaufgabe über die Gestalt der Erde und schrieb mit achtzehn Jahren in Cambridge eine grundlegende Abhandlung zur Wärmetheorie.

Torquato Tasso soll, nach Jöcher, »bereits als ein Kind von sechs Monaten geredet, in seinem dritten Jahr zu studieren angefangen, im siebenten Jahr aber für sich selbst Verse gemacht und öffentlich peroriert (d. h. Reden gehalten) haben.« Er war dreizehn Jahre alt, als er zur Universität kam, und siebzehn Jahre, als er den »Rinaldo« verfaßte. Der englische Dichter Pope begann schon mit zwölf Jahren zu schaffen. Victor Hugo dichtete, als er erst vierzehn Jahre alt war.

Ein unglückliches Schicksal hatte der seltsame Wunderknabe Thomas Chatterton, der 1752 als Sohn eines armen Küsters in Bristol geboren wurde. Als er elf Jahre alt war, schrieb er ein satirisches Gedicht, und als er mit vierzehn Jahren als Schreiber bei einem Rechtsanwalt in Bristol tätig war, ließ er eine Reihe »alter Gedichte« erscheinen, die angeblich von einem Mönch Rowley aus dem 15. Jahrhundert herrühren sollten. Die außerordentlich geschickte Fälschung wurde noch vor der Drucklegung offenbar und brachte dem 28 jungen Chatterton außer seiner Dienstentlassung die bittersten Vorwürfe und schwersten Kränkungen, obgleich die Genialität, der Gedankenreichtum und die tiefe poetische Kraft der Schöpfungen unverkennbar waren. Noch nicht achtzehn Jahre alt, machte darum Chatterton durch Gift seinem Leben ein Ende.

Besonders groß ist immer die Zahl der musikalischen Wunderkinder gewesen. Auf diesem Gebiet scheint Frühreife beinahe ein entscheidendes Kennzeichen der genialen Begabung zu sein. Freilich treten frühe Fertigkeiten nur äußerst selten so prachtvoll zutage wie bei Mozart, der 1756 in Salzburg geboren wurde.

In seinem sechsten Lebensjahr bereits komponierte der junge Wolfgang Amadeus kleine Stücke auf dem Klavier und besaß zugleich eine solche Fertigkeit im Spielen, daß der Vater mit ihm und einer älteren Schwester Konzertreisen unternahm. In München erntete der Knabe außerordentlichen Beifall, in Wien überschüttete der Kaiser Franz I. den Sechsjährigen mit Gunstbezeugungen. Als man ihm eine Geige schenkte, brachte er es auch auf diesem Instrument bald zu großer Fertigkeit. In Paris, wo er den König und den ganzen Hof durch sein Orgelspiel entzückte, veröffentlichte er 1763 seine ersten Kompositionen, Sonaten für Klavier. 1764, also acht Jahre alt, komponierte der junge Mozart während seines Aufenthalts in England sechs Klaviersonaten. Mit zehn Jahren schrieb er seine erste komische Oper »La finta semplice« und das heute noch viel gegebene Singspiel »Bastien und Bastienne«. 1769 ward er zum Konzertmeister am salzburgischen Hof ernannt. Eine glänzende Probe seines musikalischen Gedächtnisses gab er in seinem sechzehnten Lebensjahr, als er in Rom das vielstimmige »Miserere« von Allegri nach einmaligem Anhören notengetreu niederschrieb.

Auch Händel komponierte schon im achten Lebensjahr. Cherubinis erste Messe war das Werk eines noch nicht Dreizehnjährigen. Beethoven war zehn Jahre alt, als er seine ersten Sonaten schuf. Rossinis erste Oper, das Werk eines Zwölfjährigen, fand großen Erfolg, und in unseren Tagen hat im gleichen Alter Erich Korngold höchst Beachtenswertes geschaffen.


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