Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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79. Das Pflanzenauge

Quelle: R. H. Francé: »Das Leben der Pflanze«, erster Band. Verlag Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Geschäftsstelle: Frankhsche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1907. Z.

Zwischen Tier und Pflanze ein Grenzgebiet, dem das auch im vorigen Abschnitt von uns erwähnte Werk »Das Leben der Pflanze« eine Schilderung widmet; nur daß sein Verfasser R. H. Francé, der sich der Mimikry gegenüber so abwehrend verhält, hier als der überzeugte Verkünder eines Wunders auftritt:

„Es gibt in der Pflanze ein Analogon des Nervensystems, etwas, das empfangene Reize weiterleitet! Denn der verstärkte Lichtreiz wird nur von der Epidermis wahrgenommen; durch besondere Versuche ließ sich erweisen, daß der reagierende Blattstiel an sich gar nicht lichtempfindlich ist. Deshalb hob Haberlandt denn auch in seinem berühmten Vortrag auf der Naturforscherversammlung von 1904 hervor: der Blattstiel gehorcht ebenso blind der Blattspreite, wie die Halsmuskulatur dem Kopf eines Vogels, der aus dem Dunkeln ins Helle späht.

Das sind doch wahrhaft erstaunliche Dinge, die da aus den »Facettenäuglein« der Blätter strahlen! Die nüchternen Laboratoriumsberichte machen die ausschweifendsten Dichterphantasien zuschanden. Aber der Begriff des »Pflanzenauges« wird aus der Wissenschaft – so abenteuerlich er uns auch heute noch erscheinen mag – nicht mehr verschwinden, ja er scheint schon in unseren Tagen zu einem ganz außergewöhnlich tiefen Einblick in das Innenleben der Pflanze neue Zugänge zu eröffnen. In dem ausgezeichneten Zentralorgan botanischer Forschung »Berichte der deutschen botanischen Gesellschaft« veröffentlichte Haberlandt eine merkwürdige neue Beobachtung über verwickelte Lichtsinnesorgane gewisser niederer Pflanzen.

Die Selanginellen haben an 500 verschiedene Formen, die in der Treibhausluft der Tropenwälder sprießen. Sie sind Schattenpflanzen, daher auf rasche und möglichst vorteilhafte Ausnützung des Lichts angewiesen. Das Bedürfnis erzeugte in ihnen lichtempfindliche Apparate von seltener Vollkommenheit. Die Epidermiszellen ihrer Blätter enthalten ausnahmsweise Blattgrün: ein grünes Becherchen, das im Hintergrund der Zelle sitzt und sich gemächlich von dem großen Reflektor bescheinen läßt, den die mächtig vorgewölbte Außenwand der Zelle vorstellt. Dieser Chloroplast liebt das Licht derart, daß er ihm sogar nachläuft.

Scheint die Sonne seitwärts auf das Blatt, so daß sich der helle Reflex der Spiegelscheibe verschob, dann verwandelt sich der Chloroplast in ein Wesen nach Art der Amöben oder der grünen Algen. In spontaner Beweglichkeit kriecht er in den hellen Lichtfleck, dort setzt er sich wieder breit hin und sonnt sich . . .

Haberlandt entdeckte, daß diese Chloroplasten eine Art Netzhaut 106 übergezogen haben. Eine derbe plasmatische Haut, die sich nur auf der dem Licht zugewandten Seite findet. Diese Plasmahaut nimmt an den Wanderungen des Blattgrüns teil, nur wo sie vorhanden ist, wird es so hochgradig lichtempfindlich. Was soll sie denn also anders sein als das Urbild der Retina (also der Netzhaut des animalischen Auges), der gleiche Eigenschaften zukommen!”


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