Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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187. Der Herr Lumen

Quellen: »Archiv für systematische Philosophie«, herausgegeben von Ludwig Stein, 17. Band Heft 3. Verlag von Leonhard Simion Nf., Berlin, 1911. – Henri Poincaré, Vortrag: »Die neue Mechanik«.

Sein Vater ist der Astronom Camille Flammarion, seine Mutter die Einbildungskraft. Bereits bei Jahren, studierte er bei dem Mathematiker Henri Poincaré. Seine Studienfrüchte und Erlebnisse hat er in verschiedenen gelehrten Schriften niedergelegt, so im Archiv für systematische Philosophie, wo er sie zu besonderen Schlüssen ausfolgerte. Dieser Darstellung, gegeben von einem der Verfasser dieses Buchs (A. M.), wollen wir uns hier im Wesentlichen anschließen.

Herr Lumen ist ein Reisender, dem eine ganz absonderliche – eigentlich und uneigentlich unmögliche – Bewegungsgeschwindigkeit zur Verfügung steht, und der somit die Ereignisse anders sieht, als wir an der Scholle haftenden Menschenkinder. Während jeder optische Vorgang sich mit 300 000 Kilometern in der Sekunde fortpflanzt, zeigt sein Schnelligkeitsmesser 400 000; er überrennt also im ersten Anlauf das Licht und alle Lichtbotschaften.

Sein Tempo ist groß aber nicht unendlich; so würde er – bei entsprechender Fernsichtigkeit – die gesamte Weltgeschichte mit einem einzigen Blick umfassen. Vom Stern Alpha Centauri aus sähe er die Erde, wie sie vor vier Jahren, vom Stern Arcturus aus, wie sie vor 163 Jahren war. Landet er an den äußersten Grenzen der Milchstraße, so blickt er auf 4000 Jahre zurück, da ihn dort erst die Lichtbotschaften erreichen, die schon vor 4000 Jahren ihren Anfang nahmen. Er könnte einen Standort wählen zur Betrachtung der Völkerwanderung, unmittelbar darauf einen anderen, um den Übergang Caesars über den Rubikon, oder den Bau der ersten Pyramide, oder das Segeln der Arche Noah zu sehen. Und über die Nebelflecke hinaus gäbe es Beobachtungsstellen, die ihm die Erde in ihrer Vorentwicklung, in feuerflüssigem Zustand zeigten.

Aber Herr Lumen hält sich an sein Programm. Er verfügt – nur – über 255 400 000 Kilometer Sekundenmaß und verläßt damit die Erde am Tag eines denkwürdigen Ereignisses; sagen wir: der Schlacht von Sedan. Er erlebt also noch in nächster Nähe die Ereignisse des 1. September von 1870, er sieht um ½7 Uhr nachmittags die Übergabe des napoleonischen Degens und erblickt ein weites, mit Toten und Verwundeten übersätes Schlachtfeld.

Schon in der ersten Sekunde überholt er alle Lichtstrahlen, die in der nämlichen Sekunde von Sedan ausgingen – und noch dazu die letzten aus der vorigen Sekunde. Nach einer Stunde besitzt er bereits einen Vorsprung von 20 Minuten den blutigen Tatsachen gegenüber, und ehe der zweite Tag vergangen, ist dieser Vorsprung so stark geworden, daß er nunmehr nicht das Ende, sondern den Anfang der Schlacht wahrnimmt.

Wir haben also festgestellt, daß Herr Lumen am 1. September den Schluß, und nach etwa zwei Tagen den Beginn des Ereignisses gesehen hat. Bloß gesehen? Nein, auch erlebt. Denn an welchen anderen Daten sollte er die Tatsachen messen, wenn nicht am Augenschein? Sehen und Wissen, Erblicken und Verstehen ist nicht nur im Griechischen (εἰδέναι) dasselbe, sondern überhaupt, wie wir alle mit den Worten »Ersichtlich«, »Evidenz« bekräftigen. Herr Lumen ist weder Historiker noch Soldat. Wir haben ihn nach unserem Willen erschaffen als einen intelligenten, scharfsichtigen, schnellbewegten Homunculus, der sich sein Urteil durchaus auf Grund seiner Erfahrungen bilden soll. Diese sind bei ihm rein optisch und, als augenscheinlich, beweiskräftig und entscheidend. Nicht der geringste Zweifel kann ihn beschleichen, daß der Aufmarsch der Heere zur Schlacht von Sedan später erfolgt ist als die Kapitulation der napoleonischen Armee.

Was aber hat das Wesen Lumen in der Zwischenzeit gesehen? Offenbar die Vorgänge in umgekehrter Reihenfolge, wie in einem verkehrt abgerollten Kinematographen dargestellt. Nur daß wir zum Vergleich den sogenannten »wirklichen« Vorgang heranziehen, d. h. den Vorgang wie wir ihn »gesehen« haben, während für Lumen nur das als stetige und lückenlose Folge existiert, was sich ihm als Schlachtentwicklung gezeigt hat: das Aufstehen der Toten und Verwundeten, ihre Einordnung in die Regimenter, die vom Ziel rohreinwärts fliegenden Projektile – und weiterhin: die Schlacht von Wörth vor der Kriegserklärung; die Kriegserklärung vor der Emser Depesche; Napoleons Imperium lange nach seiner Gefangennehmung bei Sedan.

Unser Gedankenexperiment läßt sich aber auch noch anders anordnen. Man kann sich Lumen als ruhend vorstellen und die Erde von ihm fortbewegt; man kann für den Verlauf der Schlacht einen anderen Anfangspunkt wählen. Auch die Bewegung selbst läßt sich variieren, geradlinig, gekrümmt, mit einem 256 Ausgangspunkt weit im Weltenraum. Schließlich sei auch das Tempo veränderlich, über die immensen 400 000 Kilometer hinaus, unter die Lichtleistung abwärts. Das ergibt zahlreiche Kombinationen, die dem Lumen sehr verschiedene Weltbilder liefern.

Bei einer gewissen Anordnung würde er immerfort nur den Anfang der Schlacht erblicken, eine militärische Erstarrung; oder überhaupt eine ewige Ruhe der Völker. Orientiert sich Lumen nach einem solchen Prospekt, so steht die Zeit für ihn still. Es läßt sich auch eine Bewegung konstruieren, die ihm den Weltchronometer, die Sonne, ans Firmament nagelt. Dann ginge ihm die letzte Orientierung verloren, und die Denkform der Zeit, die nur am Weiser einer wahrgenommenen Bewegung Existenz gewinnt, entfiele für ihn überhaupt gänzlich.

Eine weitere Anordnung könnte ihm die Schlacht verlangsamt, nach unserem Zeitmaß über Jahrtausende verzögert zeigen. Da wird mit Kugeln geschossen, die im Schneckentempo durch die Luft kriechen, und die sich Minuten oder Stunden Zeit lassen, bevor sie in einem getroffenen Krieger einen Schußkanal vollenden.

Kennt Lumen, der Verabredung entgegen, den Hergang, wie wir ihn begreifen, zu kennen glauben, so wird er den Schlüssel zu solchen Absonderlichkeiten bei den Bewegungen suchen, denen er selbst oder das System der Massenpunkte ausgesetzt ist. Kennt er ihn nicht – und das war unsere Voraussetzung – so gelangt er zu Ansichten und Einsichten, die uns fremd sind, zu einer von der unsrigen durchaus verschiedenen Weltmetronomisierung, die bis zum Stillstand der Zeit, ja bis zur völligen Umkehrung der Zeit führen kann.

Er wird aber auch zu einer ganz anderen Vorstellung von der Kausalität gelangen, falls ihn sein Denkapparat überhaupt zwingt, Folge mit Grund zu verknüpfen und im Ablauf der Dinge nicht nur ein Vorher und Nachher, sondern auch einen Erkenntnisgrund zu suchen. Wenn er erst alle Schlachten von Sedan bis Troja in verkehrter Geschehensfolge erblickte, nie eine Schlacht anders sah, als in umgekehrter Zeitabwicklung, so muß auch seine Kausalitätserkenntnis das verkehrte Spiegelbild der unsrigen werden. Unsere Ursache wird seine Wirkung, unsere Folge sein Grund. Sieg und Niederlage verwandeln sich für ihn zur Vorbedingung des Zwistes; was ja sehr befremdlich sein mag, aber ganz durchgedacht nicht einmal für uns logisch ganz falsch ist. – – –

Lumen kehrt von seiner Weltreise zur Erde zurück, vermenschlicht sich allmählich und lernt die Anpassung an unsere Zeit. Aber auch unserer Zeit ist inzwischen ein Abenteuer begegnet, wenigstens in den Köpfen einiger bevorzugter 257 Forscher. Wenn Lumen zufällig in Chicago landet, so kann er dort ein neues blaues Wunder in der Werkstatt des Chicagoer Physikprofessors Michelson erleben, der, ohne sich von der Erde zu entfernen, Wahrnehmungen von der Abnormität der Lumen'schen erfaßt hat. Nicht mit einem Gedankenexperiment, sondern mit einem durchaus realen Versuch. Aus diesem steigt abermals ein neues Zeitbild empor, mit unabsehbaren Folgen.

Eine davon betrifft ihn persönlich, den Herrn Lumen.

Er erfährt, daß er selbst unmöglich ist, auch theoretisch unmöglich. Denn aus dem Michelsonschen Experiment und der sich ihm anschließenden neuen »Relativitätstheorie« erfließt die Wahrheit, daß für irgend ein Bewegtes, was es auch sei, eine Steigerung über die Lichtgeschwindigkeit hinaus der Welt-Verfassung widerspricht.


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